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Ein wahrer Fall - Maggie Nelson schreibt über den brutalen Mord an ihrer Tante und den Umgang mit Mord und Trauer in unserer sensationslüsternden Gesellschaft.
Im Frühjahr 1969 sucht Jane Mixer eine Mitfahrgelegenheit, ihre ersten Semesterferien will sie zu Hause in Muskegon, Michigan, verbringen. Dort angekommen ist sie nie: Sie wird brutal ermordet, ihre Leiche am nächsten Tag ein paar Meilen vom Campus entfernt gefunden, mit zwei Kugeln im Kopf und einem Nylonstrumpf um den Hals. Jahrzehntelang gilt der Fall als ungelöst, bis er 2004 erneut aufgenommen wird - durch einen positiven…mehr

Produktbeschreibung
Ein wahrer Fall - Maggie Nelson schreibt über den brutalen Mord an ihrer Tante und den Umgang mit Mord und Trauer in unserer sensationslüsternden Gesellschaft.

Im Frühjahr 1969 sucht Jane Mixer eine Mitfahrgelegenheit, ihre ersten Semesterferien will sie zu Hause in Muskegon, Michigan, verbringen. Dort angekommen ist sie nie: Sie wird brutal ermordet, ihre Leiche am nächsten Tag ein paar Meilen vom Campus entfernt gefunden, mit zwei Kugeln im Kopf und einem Nylonstrumpf um den Hals. Jahrzehntelang gilt der Fall als ungelöst, bis er 2004 erneut aufgenommen wird - durch einen positiven DNA-Abgleich wird ein neuer Verdächtiger identifiziert und vor Gericht gestellt. Mit großer gedanklicher Klarheit nähert sich Maggie Nelson dem mysteriösen Tod ihrer Tante Jane und dem Prozess, der ihn nach 35 Jahren wieder aufrollt - und versucht dabei, das Wesen von Trauer, Gerechtigkeit und Empathie zu ergründen.
Autorenporträt
Maggie Nelson, geboren 1973, ist Dichterin, Kritikerin und Essayistin. Sie lehrt an der University of Southern California und lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Für ihr hoch gelobtes Buch "Die Argonauten", 2017 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 2020 "Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2020

Unser
Mordgemüt
Maggie Nelsons neu übersetztes Memoir über den
gewaltsamen Tod ihrer Tante als Familientrauma
VON INSA WILKE
In ihrer Tübinger Poetikvorlesung erzählt Marlene Streeruwitz, wie sie im Radio von einem Initiationsritual hört, bei dem jungen Männern der Bauch aufgeschlitzt wird. Die Älteren zwingen die Jüngeren, in ihr Inneres zu blicken, bevor sie als Erwachsene in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Die „Geschichte von der Bauchaufschneiderei“ bringt Streeruwitz zu der Frage, wie ein solcher Blick in die Zusammenhänge unserer Gesellschaft möglich wäre und wie sich die sprachlosen Aufträge erkennen lassen könnten, die als innere Erbschaften von einer Generation in die andere „eingepflanzt“ werden: „Um eine Erbschaft abzulehnen, muss man wissen, was es ist, das da geerbt werden soll.“ Genau dafür interessiert sich die amerikanische Autorin Maggie Nelson in „Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses“. Sie habe sich ausgemalt, „einen Körper vom Kinn bis zu den Genitalien aufzuschlitzen, seine inneren Organe auszubreiten und zu versuchen, die roten Stellen wie Teeblätter zu lesen.“ Erst mal also das Einzelleben, seine wunden Stellen. Aber Nelson versteht es, von da zu den „roten Stellen“ der Gesellschaft zu kommen, zu unser aller „Mordgemüt“.
Maggie Nelson ist nach „Die Argonauten“ und „Bluets“ auch bei uns als Autorin bekannt, die mit literarischen Mitteln und großem Erkenntnisdrang auf ihrem autobiografischen Material surft. Wobei damit kein Feriensport gemeint ist, sondern die riskante Bewegung unterhalb der brechenden Wellen: angespannte Konzentration, das Bewusstsein für den drohenden Kollaps.
In „Die roten Stellen“ setzt sie sich mit dem Trauma ihrer Familie auseinander: 1969 wurde Maggie Nelsons damals dreiundzwanzigjährige Tante Jane ermordet, vier Jahre vor ihrer eigenen Geburt. Eine Spur der inneren Angst und des zwingenden Drangs, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen, zieht sich von dort in ihre Gegenwart. Nelsons Gedichtband „Jane: a Murder“ versucht eine erste Annäherung. Kurz vor dessen Erscheinen 2005, so Nelson in „Die roten Stellen“, kam der Anruf der Polizei: Man habe jetzt, nach 35 Jahren, den echten Mörder. Der Fall wird vor Gericht aufgerollt, und auch Nelson rollt die Geschichte auf und schaut auf die Reaktionen ihrer Familie und das Verhältnis der Gesellschaft zu brutaler, sexualisierter, tödlicher Gewalt gegen Frauen.
Ihr Interesse ist kein journalistisches oder soziologisches. Im 2015 nachgereichten Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von 2007 nennt sie Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“ mit einer nur winzigen Distanzierungsgeste als „Ansporn und Anführer“. Sie verweist damit auf die Autonomie der Kunst und setzt ihr Buch von „grellen Rubriken“ wie „Tagesgeschehen“, „True Crime“ und überraschenderweise auch dem „Memoir“ ab. Sie will es als „eigentümliche, empathische Meditation über die Beziehung von Zeit zu Gewalt, zu Trauer“ verstanden wissen. Das ist brisant in den USA, wo die psychiatrische Vereinigung Trauernde, die länger als zwei Wochen „Symptome“ aufweisen, pathologisiert. Diese Definition mag sinnvoll sein, wenn es um die Unterstützung durch Krankenkassen geht, aber sie interessiert sich nicht dafür, welche Ewigkeit ein Tod für das Leben der Hinterbliebenen bedeuten kann, selbst wenn sie wieder lebensfähig werden. Davon erzählt Nelson, im Übrigen sehr viel ehrlicher, als es die Erfolgsautorin Sigrid Nunez so heiter in ihrem Roman „Der Freund“ tut.
„Ich hatte ‚Jane‘ in der Annahme begonnen“, schreibt Nelson, „dass die Verdrängung von Janes furchtbarem Tod in meiner Familie ein Beispiel für missglücktes Trauern darstellte“. Sie habe gedacht, „ein erfolgreicheres Modell als Alternative“ anbieten zu können. Am Ende sei nichts übrig geblieben von dieser Hybris, nur „Verwirrung und Zorn“. Es gelingt Nelson für die Desorientierung, die der Verlust eines Menschen bedeuten kann, eine Sprache zu finden und sie zu verorten in einem Leben, das zwar weitergeht, aber unter dieser Perspektive wirkt, als bestünde es aus einer Kette von Wiederholungen: der frühe Tod des Vaters, das gestörte Verhältnis der Mutter zu Nelsons Schwester Emily, die permanente Erwartung, gleich wieder auf eine Leiche zu stoßen. Eine solche Erfahrung hat weitreichende Folgen: „Der gängigen Meinung nach graben wir Familiengeschichten aus, um mehr über uns selbst zu erfahren, um das alles entscheidende Ziel der ‚Selbsterkenntnis“ zu erreichen.“ Die Fixierung auf eine ursprüngliche Wahrheit, die man nur finden müsse, und alles komme in Ordnung, verhindert es, die Erbschaft der Angst auszuschlagen.
Stimmt das? Wenige Autorinnen oder Autoren schaffen es, einen so ins Denken zu bringen, wie Nelson das tut. Kausalketten sind ihre Sache nicht. Die Korrelation ist ihre Methode. Das wirkt manchmal fragwürdig, wenn man stringente Analysen erwartet. Es kommt dem Blick ins Innere aber gerade deshalb näher. Und der hat es in sich, wenn Nelson bemerkt, dass im Film die Frauen, die Serienmörder jagen, am Ende immer selbst Opfer werden. Siehe „Schweigen der Lämmer“. Oder wenn man über einen Mann sagt: „Hat Glück mit Frauen.“
Was bedeutet so ein Satz, wenn es um die Verkörperung von männlicher Macht geht – und Gewalt? Oder das Interesse an den Autopsiebildern von Jane Mixers Leiche? Der Erfolg von True Crime? Die Vermutung, der Täter habe ein zärtliches Verhältnis zu Jane gehabt, weil er ihren toten Körper so akribisch angeordnet und mit Requisiten versehen hat? Oder wenn Nelson erzählt, wie sie im Kino sitzt und das Publikum johlt, wenn auf der Leinwand eine Frau bedroht wird mit dem Satz: „Schon mal gesehen, was eine 44er mit einer Muschi anstellen kann?“
Was bedeutet das? Es geht Nelson nicht darum, solche Szenen zu verbieten oder vor ihnen zu warnen. Es geht ihr um Zeugenschaft, um die Bauchaufschneiderei, darum, anzuerkennen, dass in uns ein Mordgemüt lebt, das immer noch die Frau als Opfer sehen und zurichten möchte. Es geht ihr darum, diese Mechanismen nicht im Verborgenen wirken zu lassen, sondern sie ans Licht und in die Sprache zu zerren, sie verfügbar zu machen.
Dass in genau diesem Erkenntniswillen auch wieder eine Grausamkeit steckt, erzählt ihr Buch ebenfalls. Man denkt da sofort an den Polański-Fall, bei dem gegen den Wunsch des Opfers ein Verfahren geführt wird, im Interesse der Gesellschaft. Jan Wilms deutsche Übersetzung von „Die roten Stellen“ liest man jetzt aber auch unwillkürlich im Kontext der überhitzten Debatten um sogenannte Political Correctness, bei denen man manchmal den Eindruck hat, die Gegner verweigern eben jenen Blick ins Innere und auf das, worum es eigentlich mal ging: gesellschaftliche Gewalt. Wie Maggie Nelson es schafft, von einer schrecklichen, aber auch zufälligen und sehr individuellen Lebensgeschichte zu diesen größeren Zusammenhängen zu kommen, ist beeindruckend. Faszinierend und geradezu ein Lehrstück ist darüber hinaus, wie sich die Privatperson Maggie Nelson im Schreiben über sich verflüchtigt: „In meinem Spalt konnte ich aus dem Weg bleiben und trotzdem alles sehen.“
Maggie Nelson: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, Berlin 2020, 224 Seiten, 23 Euro.
Wie Nelson von einer
zufälligen und individuellen
Lebensgeschichte zu
größeren Zusammenhängen
kommt, ist beeindruckend
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensentin Andrea Köhler nimmt als Erkenntnisgewinn aus dem zwischen Memoir und Essay changierenden Buch von Maggie Nelson dieses mit: Das Leid und seine Sinnlosigkeit überlebt. Wenn Nelson den Mord an ihrer Tante vor 30 Jahren und den wiederaufgenommenen Prozess mit Gedanken um verlorene Seelenruhe, um die Quellen der Gewalt, vor allem gegen Frauen, umkreist, ahnt Köhler die "zwiespältige Faszination" an der Auswertung der schrecklichen Details aus dem Prozess. Dass Nelson eher subtil Fragen stellt als Antworten zu geben, gefällt Köhler gut.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Mischung aus True Crime und literarischem Memoir [zeigt], wie genial Maggie Nelson Spannung und Theorie, Wahrheit und Fiktion, Erzählung und Fragment verbinden kann." Xaver von Cranach, ZEIT, 23.01.2020

"Wenige Autorinnen oder Autoren schaffen es, einen so ins Denken zu bringen, wie Nelson das tut." Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 10.03.2020

"'Die roten Stellen' ist ein Essay über den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen, realer und fiktionalisierter. [...] Maggie Nelson ist eine Erzählerin, und in diesem Buch erzählt sie eine Geschichte - eine schrecklich gute." Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2020

"Was Maggie Nelson in diesem Memoir tut, ist: den Mord an einer Frau sichtbar machen, von allen möglichen Seiten beleuchten. Oder wie ihre Mutter im Lauf des Prozesses sagt: 'Wir sind hier, um zu bezeugen.' [...] So etwa fühlt sich das Lesen an: Wir werden Zeuginnen einer vibrierenden existenziellen Suche, die ausufert, weil Nelson sich nicht festlegen lässt, immer wieder alles infrage stellt. Sie kreist um Themen und Motive und seziert sie mit einer Klarheit, die zuweilen wehtut." Michelle Steinbeck, NZZ am Sonntag, 29.03.2020

"'Die roten Stelle' ist das Ergebnis einer Konfrontation. Wer Nelson schon einmal gelesen hat - zum Beispiel 'Die Argonauten', in dem sie Theorien der Liebe mit einer queeren Familienkonstellation und ihrer Rolle als werdende Mutter zusammendenkt -, der weiß, dass sich diese exzellente Essayistin nie mit einfachen Antworten begnügt." Dominik Kamalzadeh, Der Standard, 16.04.2020

"Mit 'Die roten Stellen' wollte Nelson [...] Zeugin sein - für das Leben von Jane. Zeugin auch des an ihr begangenen Verbrechens. Zeugin wider das Vergessen. Das gelingt ihr auf eindrückliche, berührende Weise." Carola Ebeling, taz, 09.02.2020

"'Die roten Stellen' ist die literarische Erkundung eines weiteren Kreises der Hölle, die unser tägliches Leben sein kann. Nelsons Drahtseilakt über dem Abgrund ist schonungslos. Er reißt uns mit in die Tiefe. Aber lieber mit Maggie Nelson in der Hölle schmoren, als im bubble bath der Wohlfühlliteratur ersaufen." Sarah Elsing, DLF Kultur, 29.01.2020

"'Die roten Stellen' ist ein steter Fluss, ein Strom der Überlegungen und Verbindungen. Deshalb ist dieses beeindruckende, kluge und berührende Buch eine Erzählung über ein Verbrechen und über Nelsons Leben, es ist zugleich True Crime und literarisches Memoir." Sonja Hartl, CulturMag, 01.04.2020

"Stilistisch bewegt sich Nelson zwischen nüchtern-distanzierter Analyse und leidenschaftlicher Anteilnahme, mit teilweise Hitchcok-artigem Gespür für das Grauen und das Verbrechen." Gérard Otremba, Rolling Stone, 01.02.2020

"Am Ende hat die Ich-Erzählerin Maggie Nelsons einen harten Gerichtstag über sich selbst gehalten, ohne einem verlässlichen Urteil über das eigene Leben näherzukommen. Und genau in dieser Suchbewegung, in dieser unabschließbaren Einkreisung der Geheimnisse des eigenen Existierens liegt die Wahrheit aller großen Literatur." Michael Braun, SR2, 02.02.2020

"Maggie Nelson hat Mut, Bildung und Lust am Denken. [...] Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn sind garantiert." Claudia Fuchs, SWR2, 20.02.2020

"In seiner Schonungslosigkeit gleicht dieses Buch einem Obduktionsbericht [...]. Was zunächst wie eine mittelmäßige Tatort-Folge klingt, macht Nelson zu einer Tiefenbohrung ins Unbewusste ihrer Familie [...]. Mit dem Respekt hat Nelson es nicht so. Dafür umso mehr mit der Wahrheit." Dominik Erhard, Philosophie Magazin, 3/2020

"Es ist ein verstörendes, grandioses Buch, das mit seiner autofiktionalen Schonungslosigkeit an Knausgård erinnert und mit seinem Spannungsfeld (oder seiner Zerrissenheit) zwischen Lyrik und True Crime, dem unzugänglichsten und dem populärsten Genre, an Bolaño." Andreas Merkel, piqd.de, 29.04.2020
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