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Der Historiker Mark Jones schildert die dramatische Gründungsphase der Weimarer Republik erstmals als eine Geschichte der Gewalt. Er zeigt, wie eine anfangs friedliche Revolution in einer Reihe von Tabubrüchen endet, einschließlich des Mordes an Frauen und Kindern durch Soldaten der sozialdemokratisch geführten Regierung. Diese Erfahrung wurde für das weitere Schicksal Deutschlands prägend - bis hin zur entfesselten Gewalt des NS-Regimes.
Anhand neu erschlossener Archivquellen, darunter zahlreiche Berichte von Zeitzeugen, führt Mark Jones den Leser an die Orte der staatlich legitimierten
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Produktbeschreibung
Der Historiker Mark Jones schildert die dramatische Gründungsphase der Weimarer Republik erstmals als eine Geschichte der Gewalt. Er zeigt, wie eine anfangs friedliche Revolution in einer Reihe von Tabubrüchen endet, einschließlich des Mordes an Frauen und Kindern durch Soldaten der sozialdemokratisch geführten Regierung. Diese Erfahrung wurde für das weitere Schicksal Deutschlands prägend - bis hin zur entfesselten Gewalt des NS-Regimes.

Anhand neu erschlossener Archivquellen, darunter zahlreiche Berichte von Zeitzeugen, führt Mark Jones den Leser an die Orte der staatlich legitimierten und ausgelösten Gewaltexzesse dieser Zeit und lässt die Stimmen der Täter, ihrer Opfer und deren Familien lebendig werden.

»Mark Jones' exzellent geschriebenes Buch wirft einen neuen Blick auf die deutsche Revolution von 1918/19.«
Sönke Neitzel

»Am Anfang war Gewalt ist das Werk eines der meistversprechenden Historikers der jüngeren deutschen Vergangenheit. Es stützt sich auf akribische archivalische Forschung und fügt unserem Verständnis von der Geburt der deutschen Demokratie ein wichtiges Korrektiv hinzu. Zugleich ist das Buch eine Herausforderung für die Historiker, die sich traditionell meist auf die hohe Politik konzentrieren. Denn es eröffnet uns neue Fragestellungen zur Geschichte Deutschlands in der schicksalhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.«
Robert Gerwarth, University College Dublin

»Eine bemerkenswerte Darstellung der deutschen Revolution von 1918/19 (...) Mark Jones gelingt es, die militärische und politische Geschichte mit der Gesellschafts- und Kulturgeschichte zu verbinden. Ein Buch, das eine breite Leserschaft verdient.«
Peter C. Caldwell, Rice University (USA)

»Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass dieses Buch einmal als ein Wendepunkt in der Art und Weise eingestuft werden wird, wie die Historiker die revolutionären Umwälzungen und die politische Gewalt erklären, die am Ende des ErstenWeltkrieges den europäischen Kontinent erschütterten (...) Originell und gut geschrieben, ist Am Anfang war Gewalt eine innovative, faszinierende und überzeugende Analyse der Gewalt in der deutschen Revolution von 1918/19. Man kann Mark Jones zu diesem neuen und provokativen Beitrag nur gratulieren.«
Ángel Alcalde, Ludwig-Maximilians-Universität München

»Ein gründlich recherchiertes und intelligent argumentierendes Buch. Mark Jones verdient Anerkennung für diesen unser Verständnis der deutschen Revolution von 1918/19 bereichernden Beitrag (...) In gewisser Weise kommt seine Darstellung der heute als klassisch geltenden Sichtweise nahe, die Mehrheitssozialdemokraten hätten aus überzogenen Ängsten vor dem Bolschewismus heraus auf die revolutionäre Unruhe überreagiert (...) Doch statt diese Ängste von oben herab verurteilen, macht Jones sich die Mühe, ihre Entstehung und ihre Wechselwirkungen mit den Ereignissen auf der Straße zu analysieren.«
Moritz Föllmer, University of Amsterdam

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2017

Mit dem Revolver durch Berlin spazieren
Drohten wirklich russische Verhältnisse? Mark Jones legt eine Geschichte der deutschen Revolution von 1918/19 vor

Einst ein Zankthema der Zeitgeschichte von öffentlichem Rang, ist die deutsche Revolution von 1918/19 in den letzten drei Jahrzehnten nahezu in Vergessenheit geraten. Erst in jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen für eine Umkehr dieses Trends. Neben den demnächst runden hundert Jahren dürfte eine Gegenwart voller krisenhafter Herausforderungen zu einem gesteigerten Interesse an Umbruchsperioden vergangener Zeiten beitragen. Mark Jones legt sein Buch, das in der deutschen Ausgabe den Anspruch erhebt, die erste Gesamtwürdigung der Novemberrevolution seit mehr als dreißig Jahren zu sein, also zum richtigen Zeitpunkt vor.

Im vergangenen Jahr erschien diese Doktorarbeit im englischen Original. Einfach von einer deutschen Übersetzung zu sprechen, wäre kaum angemessen. Der deutsche Verlag hat mit großer Lektoratskunst all das bereinigt und umkomponiert, was auf wissenschaftliche Schwerfälligkeit hindeutet. Das Ergebnis ist eine Geschichtsdarstellung von erzählerischer Qualität.

Im Titel des Buchs, "Am Anfang war Gewalt", steckt bereits die Leitperspektive, die für die Revolution 1918/19 mit solcher Stringenz und Quellendichte noch niemand zuvor erörtert hat. Es ist mehr als die bloße Übertragung des Modethemas Gewaltgeschichte auf die Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Es gelingt Jones, mittels des Gewaltsujets ein erfahrungsgeschichtliches Zeitpanorama aufzuspannen. Wenngleich er kriminalistischen Spürsinn bei der Rekonstruktion einzelner Gewaltakte - man mag es dichte Beschreibung nennen - beweist, so gilt sein Hauptaugenmerk vor allem ihrer Wahrnehmung und Vermittlung. An physische Gewalt geknüpfte Ängste, Gerüchte, Panikreaktionen, (Fehl-)Perzeptionen und (Auto-)Suggestionen sorgten demnach erst für ihre historische Prägekraft.

Dabei war ganz am Anfang keine Gewalt. Im ersten Revolutionsmonat kam es - nicht zuletzt aus Sorge revoltierender Matrosen vor einer "Offiziersverschwörung" - nur zu wenigen Ausschreitungen und waren kaum Todesopfer zu verzeichnen. Das sollte sich am 6. Dezember ändern, als in Berlin mindestens sechzehn Menschen einem nicht vollständig aufzuklärenden Maschinengewehreinsatz zum Opfer fielen. Die "Spirale der Gewalt" drehte sich ab den Weihnachtstagen, während der Januarunruhen ("Spartakusaufstand"), der Märzkämpfe und der Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Mai 1919 immer heftiger.

Gerade der Einsatz schweren Geschützes im aufständischen Osten Berlins im März 1919, verbunden mit Gustav Noskes Befehl standrechtlicher Erschießungen, markiert für Jones einen Wendepunkt hin zu einer "staatlich lizenzierten Gewalt", die sich als ebenso unverhältnismäßig darbot, wie sie öffentlich, mindestens in weiten Teilen der Presse, akzeptiert war. Ausgelöst wurde das drakonische Vorgehen durch die Meldung eines Massakers der Spartakisten an 150 bis 200 Polizisten, das gar nicht stattgefunden hatte, wie sich bald herausstellen sollte. Die Angst vor dem Bolschewismus, angetrieben von Fehlannahmen und Phantasmagorien, die durch die Propaganda der "Roten Fahne" freilich befördert wurden, stand in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Kraft in Deutschland.

In dieser Klarheit ist dies aber erst die Einsicht von Historikern. Damals waren die vielbeschworenen "russischen Verhältnisse" für viele Beobachter ein Menetekel für die Macht von Minderheiten. Lenin und Liebknecht ließen grüßen, auch bei Zeitdiagnostikern wie Ernst Troeltsch, Theodor Wolff und Harry Graf Kessler oder den weniger bekannten Historikern Karl Hampe und Gustav Mayer.

Dabei lässt Jones diese Kronzeugen meist so zu Wort kommen, dass ihre Beobachtungen zu dem von ihm konstatierten Gewaltcrescendo passen. An einer Stelle erwähnt er indes die Episode, wie Ernst Troeltsch während eines Spaziergangs auf Anraten seiner Frau einen Revolver bei sich trägt, um später festzustellen, wie überflüssig dies angesichts der friedlichen Stimmung gewesen sei. Und Graf Kessler hält nur wenige Tage nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts in seinem Tagebuch fest - diese Geschichte findet sich nicht bei Jones -, wie sehr Berlin einem mit dem Taschenmesser gestochenen Elefanten gleiche: "Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob nichts geschehen wäre."

Diese Erfahrungsgeschichte der Beruhigung und des Gleichmuts tritt bei Jones ganz hinter einer Geschichte der Nervosität und Hypersensibilität zurück, so als ob viele Finger stets am Abzug gewesen seien. Der These einer Radikalisierung der politischen Kultur im Zeichen von Bolschewismusfurcht und ostentativ eingesetzter militärischer Gewalt ließe sich die einer Mäßigung entgegenhalten: politisch beruhend auf einem linken Schisma, aber ebenso auf einer bürgerlich-sozialdemokratischen Übereinkunft und beachtlichen Integrationsanstrengung mit vielfältigen Ideen zur weiteren Ausgestaltung der liberalen und sozialen Demokratie.

So sehr daher Zweifel bestehen, ob Jones mit dieser thesenstarken Geschichte der Umbrüche 1918/19 ein adäquates Gesamtbild zeichnet: Seine vernichtende Kritik an der Mehrheitssozialdemokratie, die er wesentlich von einem "Herrschaftswillen um jeden Preis" geleitet sieht, und seine Ansicht eines Sonderwegs, der von 1918/19 ("Inkubationsraum für das Dritte Reich") nach 1933/39 führt, dürfte die Diskussionen aus Anlass des Zentenariums einer (fast) vergessenen Revolution beflügeln.

Es stellt sich von Neuem die Frage, was eigentlich die formative Phase der Revolution 1918/19 war: jene erste im November und Dezember, als die Weichen hin zur verfassunggebenden Nationalversammlung und zur parlamentarischen Demokratie gestellt wurden, oder jene zweite in den ersten Monaten des Jahres 1919 mit einer deutlich gestiegenen Zahl von Opfern einer Gewalt, die für Mark Jones regierungsseitig gezielt zum Einsatz kam und medial breit orchestriert wurde. Die Debatte ist eröffnet.

ALEXANDER GALLUS

Mark Jones: "Am Anfang war Gewalt". Die deutsche Revolution 1918/19 und

der Beginn der Weimarer Republik.

Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber.

Propyläen Verlag, Berlin 2017. 432 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.06.2017

Stunden der Abrechnung
Panik, Autosuggestion, Bolschewikenfurcht, Enthemmung: Der junge britische Historiker Mark Jones
beleuchtet Gewalt und Straßenpolitik in der deutschen Revolution 1918/19
VON JENS BISKY
Wir kommen in die Zeiten des Faustrechts zurück“, notierte Harry Graf Kessler am 1. Januar 1919: „Die Staatsgewalt ist ganz ohnmächtig.“ Die Behauptung scheint übertrieben, setzt man sie ins Verhältnis zu den Erlebnissen, die der Diplomat und Kunstsammler an diesem Neujahrstag in seinem großartig beobachtungsreichen Tagebuch festhielt. Im Lokal, in dem er sich zu Tisch setzen wollte, hatten streikende Kellner den Betrieb gestört, mit Schließung gedroht, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Sie führten eine rote Fahne mit, andere Lokale waren geschlossen, gestürmt, demoliert worden. Und am Nachmittag hatten einige Gläubige versucht, dem Kultusminister, einem Unabhängigen Sozialdemokraten, zu Hilfe zu kommen.
Das waren gewiss ungewöhnliche Ereignisse, wenn man im revolutionär aufgeregte Berlin die Maßstäbe des bürgerlichen Alltags heranzog. Aber es waren kleine, keineswegs dramatische Vorfälle, verglichen mit dem jahrelangen Töten an allen Fronten des Krieges, der gerade zu Ende gegangen war, verglichen auch mit der Brutalität des Bürgerkrieges, der seit Monaten im ehemaligen Zarenreich tobte, gemessen an den Schreckbildern revolutionärer Anarchie, die seit 1792 zum europäischen Vorstellungshauhalt gehörten.
Kesslers Neujahrstagsurteil wirkt im Rückblick geradezu irrig. Während des Januaraufstands und der Märzunruhen in Berlin, später bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik zeigte sich die Staatsgewalt keineswegs ohnmächtig, gerade weil sie den Freikorps mehr als Faustrecht zugestand, Eskalation beförderte. Gewalt, standrechtliche Erschießungen und politische Morde wurden in diesen Monaten normal in deutschen Städten. Wie es dazu kam, schildert der in Dublin und Berlin forschende Historiker Mark Jones in seiner Studie „Am Anfang war Gewalt“.
Er versucht, einzelne Gewaltakte aufzuklären; von den Schüssen auf eine Sparkasse in Kiel, über die blutigen Tumulte am 6. Dezember 1918 in Berlin, den weihnachtlichen „Sturmangriff“ auf Schloss und Marstall, den Januaraufstand, die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den Märzaufstand bis hin zu den Geiselerschießungen in München und dem gegenrevolutionären Terror. Dabei nimmt Jones die Erwartungen und Ängste der Zeitgenossen ebenso ernst wie das tatsächliche Geschehen, soweit es sich aus Akten, Zeitungsberichten, Tagebüchern, Erinnerungen rekonstruieren lässt. Er kann zeigen, wie die Angst vor den Bolschewiken und Spartakus, vor „russischen Verhältnissen“ und Anarchie die Eskalation der Gewalt beförderte und ein Klima schuf, in dem Durchgreifen um jeden Preis, Handeln statt Unterhandeln, Totschlagen zur Losung wurde. Jede Gräueltat besaß, wie er schreibt, ihre eigene „Vorgeschichte und Dynamik“. Aber sie alle konnten nur geschehen, „weil die politischen Führer der Republik bestimmte politische Entscheidungen getroffen hatten mit dem Ziel, ihre Macht und ihren Herrschaftswillen um jeden Preis zu demonstrieren“.
Exemplarisch dafür steht Gustav Noskes Schießbefehl vom 9. März 1918: „Die Grausamkeit und Bestialität der gegen uns kämpfenden Spartakisten zwingen mich zu folgendem Befehl: Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.“ Gerechtfertigt wurde der Befehl mit der Meldung, in Lichtenberg hätten die Spartakisten wenigstens 60 Polizeibeamte massakriert. Es war eine Falschmeldung, ein Lügenmärchen, aber zu gut passte es zu Imaginationsroutinen. Der Arbeiterbezirk Lichtenberg lag weit im Osten, der Zentralschlachthof in der Nähe. War nicht die Gesellschaft insgesamt auf dem Weg zur Schlachtbank? Eben deswegen musste nun die Spartakus-Bestie niedergerungen werden. Da im Osten vermutete man ohnehin Menschen zweiter Klasse, Großstadtpöbel, Kleinkriminelle.
Mit guten Gründen weist Jones die beliebte Abwälzung aller Schuld auf den „Bluthund“ Noske zurück. Das brutale, rechtswidrige Durchgreifen fand viel Zustimmung, die staatlich sanktionierte Gewalt gewann ein eigenes Charisma, dem die Kommentatoren vom sozialdemokratischen Vorwärts bis zum liberalen Berliner Tageblatt erlagen. Die Kriegsjahre, in denen der Feind so oft als „entmenschtes Ungeheuer“ dargestellt worden war, hatten dem Rückschritt vorgearbeitet.
Anfangs, nach der Abdankung des Kaisers und der sonstigen regierenden, überforderten Häupter, war es erstaunlich friedlich geblieben. Die Revolution verlief weitgehend gewaltlos. Zu Zwischenfällen kam es meist aufgrund von Ungeschick, Panik. Doch das minderte die Furcht vor der Gewalt, der angeblich unausweichlichen Eskalation nicht. Die Revolutionäre, ob Mehrheitssozialisten oder Unabhängige Sozialdemokraten, Spartakusleute oder kriegsmüde Soldaten, hatten ihre Herrschaft nicht in einem Akt der „Gründungsgewalt“ demonstriert. Später, in den Jahren der Weimarer Republik, nach den Bluttaten des Jahres 1919 überzeichnete man die revolutionäre Gewalt. Symbolischer Stellvertreter der nicht stattgefundenen revolutionären Exzesse wurde in den Erinnerungen das Abreißen der Uniformkokarden.
Diese Studie, die 2016 auf Englisch erschien, ist keine Gesamtgeschichte des Umbruchs 1918/19 und der Gründung der Weimarer Republik. Das will sie auch nicht sein. Es geht um die Rolle, die Gräuel und Gewalt spielten, um das Ineinander von Gerüchten, Furcht, Autosuggestionen. Deswegen wird der berüchtigte Pakt zwischen dem Volksbeauftragten Friedrich Ebert und dem General Wilhelm Groener nur kurz erwähnt, werden die außenpolitischen Probleme zwischen Waffenstillstand und Versailler Vertrag nur gestreift, während die Ermordung von sieben Unterhändlern nach der Aufgabe der Besetzung des Vorwärts-Gebäudes am 11. Januar 1919 und das Gemetzel an Mitgliedern eines katholischen Vereins in München am 6. Mai 1919, die für Spartakisten gehalten wurden, ausführlich geschildert werden.
Die Linke hatte an der Radikalisierung ebenso teil, rhetorisch in der Roten Fahne und auf Flugblättern, praktisch in Straßenkampfaktionen. Jones gelingt es, dem mutigen Karl Liebknecht gerecht zu werden, ohne den Liebknecht-Legenden aufzusitzen. Er würdigt dessen Aufruf, den im Osmanischen Reich verfolgten und hingeschlachteten Armeniern zu helfen, ebenso wie dessen Friedensappelle. Dennoch war der Versuch, die Regierung zu stürzen und eine Räteherrschaft einzurichten, schlecht vorbereitet, selbst in den Räten ohne Rückhalt der Mehrheit, politisch abenteuerlich. Der „reale Liebknecht“ erlebte eine Enttäuschung nach der anderen, das „Schreckgespenst Liebknecht“ beflügelte Abrechnungs- und Mordfantasien.
„Die vergessene Revolution von 1918/19“ hieß ein Sammelband, den Alexander Gallus 2010 herausgegeben hat. Der Titel traf es nicht ganz. Vergessen war die Revolution nie, nicht nur wegen der treuen Leser Kurt Tucholskys oder Alfred Döblins, dessen Meisterwerk „November 1918“ das Buch ist, das man über diese dramatischen Wochen gelesen haben muss. In jedem Januar findet in Berlin zum Gedenken an die ermordeten Revolutionäre eine meist gut besuchte Liebknecht-Luxemburg-Demo statt. Auch die Rede vom Verrat der Sozialdemokraten gehört immer noch zur eisernen rhetorischen Reserve.
Nein, diese Revolution war nie vergessen, aber sie scheint bis heute unbekannt, von Floskeln und ein paar angenommenen Gewissheiten verstellt. Sebastian Haffners zeithistorischer Klassiker aus dem Jahr 1968, „Der Verrat“, ist daran nicht unschuldig, das große Buch eines leidenschaftlichen Zeitgenossen, keine abwägende historische Darstellung.
Vor zwei Jahren erschien Victor Klemperers „Revolutionstagebuch 1919“ über die Münchner Räterepublik, ebenso scharf beobachtet wie angemessen in den Urteilen, was selten ist bei Berichten, die im Angesicht der Ereignisse verfasst werden. Ein kurzes Blättern im Kommentar belehrte, wie folgenreich die wenigen Revolutionswochen waren. Mark Jones formuliert die These, dass die Muster des Straßenterrors, die im Winter 1918/19 entstanden, in den Kämpfen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten während der Weimarer Republik eine Wiedergeburt erlebten. Die staatliche Gewalt 1919 wurde, so Jones, ähnlich legitimiert wie die NS-Gewalt 1933: Es gelte, einen kommunistischen Umsturz abzuwehren. Diese These wäre genauer zu diskutieren. Hatte sich das Bild vom Arbeiter nicht gewandelt?
Auf jeden Fall ermöglicht diese Studie einen genaueren Blick auf 1918/19. Das ist besonders willkommen, solange man sich scheut, diese Revolution neben der von 1848 und der von 1989 zu den Gründungsmomenten der heutigen Republik zu zählen.
Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Propyläen Verlag, Berlin 2017. 432 Seiten, 26 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Die Angst vor Spartakus
beförderte die
Eskalation der Gewalt
Die staatliche Gewalt wurde
1919 ähnlich legitimiert wie
später die NS-Gewalt
Berlin 1919.
Ein Soldat in der Großen Frankfurter Straße (unten). Gefangene werden abgeführt (oben). Häufig wurden Gefangene geschlagen oder erschossen.
Foto: Süddeutsche Photo/Scherl
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für den in Chemnitz lehrenden Ideenhistoriker Alexander Gallus trifft Mark Jones mit seiner "ersten" Gesamtdarstellung der Novemberrevolution seit dreißig Jahren nicht nur den Puls unserer unruhigen Gegenwart, sondern eröffnet auch die Diskussion über das Thema, indem er den Herrschaftswillen der Mehrheitssozialdemokratie kritisiert. Die vergangenes Jahr im englischen Original erschienene Dissertation findet Gallus vorzüglich lektoriert, das Resultat sei frei von jeder akademischen Schwerfälligkeit und verfüge über erzählerische Qualität. Was der Autor entlang des Gewaltthemas an Stringenz und Quellendichte aufbietet und wie er es zu einem erfahrungsgeschichtlichen Zeitpanorama ausarbeitet, hat Gallus beeindruckt, auch wenn er meint, dass sich der These der Radikalisierung der politischen Kultur ebenso gut die einer Mäßigung im bürgerlich-sozialdemokratischen Milieu entgegenhalten lässt.

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