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1947 legt Hans Blumenberg aus Bargteheide in Holstein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel seine unter schwierigsten persönlichen Umständen entstandene Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie vor. Hinter diesem Titel verbirgt sich eine mit ständigem Bezug auf die Philosophie Heideggers und seine »Fundamentalontologie« geführte Auseinandersetzung mit dem Denken des christlichen Mittelalters, in dem die Frage nach dem Grund des Seins eine so krisenhafte wie produktive Zuspitzung erfahren hatte. Die Dissertation wird von den…mehr

Produktbeschreibung
1947 legt Hans Blumenberg aus Bargteheide in Holstein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel seine unter schwierigsten persönlichen Umständen entstandene Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie vor. Hinter diesem Titel verbirgt sich eine mit ständigem Bezug auf die Philosophie Heideggers und seine »Fundamentalontologie« geführte Auseinandersetzung mit dem Denken des christlichen Mittelalters, in dem die Frage nach dem Grund des Seins eine so krisenhafte wie produktive Zuspitzung erfahren hatte. Die Dissertation wird von den Gutachtern Ludwig Landgrebe und Rudolf Schneider mit »ausgezeichnet« bewertet, aber sämtliche Bemühungen, zeitnah einen Verlag für die Arbeit zu finden, scheitern.

Blumenbergs brillantes Erstlingswerk blieb mehr als 70 Jahre ungedruckt. Nun wird es erstmals publiziert in einer leserorientierten Edition, die unter anderem Übersetzungen der zahlreichen altsprachlichen Zitate wie auchein »Verzeichnis der Referenzliteratur« bietet, das die Lücke des im Original fehlenden Literaturverzeichnisses schließt und dieses darüber hinaus durch heute zugängliche Ausgaben ergänzt. In ihrem Nachwort beleuchten die Herausgeber den Entstehungskontext dieses Werks, das überraschende Perspektiven auf Blumenbergs Biographie und Denkentwicklung eröffnet.
Autorenporträt
Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ¿Halbjude¿. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe 'Poetik und Hermeneutik'. Benjamin Dahlke, geboren 1982, ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät Paderborn. Matthias Laarmann, geboren 1964, ist Studiendirektor mit den Fächern Latein, katholische Religionslehre und Philosophie am Immanuel-Kant-Gymnasium Dortmund.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Dominik Perler lernt mit der von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann erstmals gedruckt herausgegebenen Dissertation von Hans Blumenberg das Mittelalter neu kennen als "offenes Haus" mit vielen Eingängen. Wie der junge Autor hier aus seiner Beschäftigung mit Thomas von Aquin, Augustinus und Duns Scotus Funken schlägt und gerade nicht ein romantisches Mittelalter beschwört, sondern seine Disharmonie, scheint Perler bemerkenswert. Scharfsinnige Textanalysen, eine entschiedene Abgrenzung zu den Neuscholastikern und zu Heidegger sowie eigenwillige Formulierungen machen das Buch für Perler nicht unbedingt zum Schmöker, aber zum Ausflug in eine faszinierende Gedankenwelt.inik Perler lernt mit der von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann erstmals gedruckt herausgegebenen Dissertation von Hans Blumenberg das Mittelalter neu kennen als "offenes Haus" mit vielen Eingängen. Wie der junge Autor hier aus seiner Beschäftigung mit Thomas von Aquin, Augustinus und Duns Scotus Funken schlägt und gerade nicht ein romantisches Mittelalter beschwört, sondern seine Disharmonie, scheint Perler bemerkenswert. Scharfsinnige Textanalysen, eine entschiedene Abgrenzung zu den Neuscholastikern und zu Heidegger sowie eigenwillige Formulierungen machen das Buch für Perler nicht unbedingt zum Schmöker, aber zum Ausflug in eine faszinierende Gedankenwelt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2020

Von wegen Antike plus Christentum
Gegen Heidegger und bereits auf eigenen Wegen: Hans Blumenbergs Dissertation

Im Jahre 1947 reichte Hans Blumenberg an der Universität Kiel eine Promotionsschrift ein, ohne ein reguläres Studium nachweisen zu können. Als Sohn einer jüdischen Mutter war ihm der Zugang zu staatlichen Universitäten verwehrt worden. Er wich zunächst für ein Semester an die Philosophisch-Theologische Akademie in Paderborn und für zwei weitere Semester an die Jesuiten-Hochschule in Sankt Georgen aus, musste 1940 aber auch dieses Studium abbrechen. Es folgten Jahre der großen Unsicherheit und Gefahr, in denen er jedoch weiterhin las und sich privat fortbildete. Erst 1945 konnte er sich an der Universität Hamburg immatrikulieren und wechselte dann nach Kiel. Dort bescheinigt ihm ein Gutachten, er habe das Studium "aus rein politischen Gründen unterbrechen" müssen, sei aber für eine Promotion bestens qualifiziert.

Eine Dissertation zu einem Spezialproblem der mittelalterlichen Metaphysik? Gab es in den Wirren der Nachkriegszeit keine dringenderen Probleme? Wer zu Blumenbergs Frühschrift greift, die nun zum ersten Mal gedruckt vorliegt, wird sich unweigerlich fragen, was den jungen Mann antrieb, sich ausgerechnet mit Augustin, Thomas von Aquin und Duns Scotus zu beschäftigen. Eine Flucht ins heile Mittelalter? Keineswegs. Blumenberg beschwört in seiner dichten, historisch fundierten Arbeit nicht das romantische Mittelalter, auch nicht die harmonische Einheit des scholastischen Weltbildes. Ganz im Gegenteil: Er interessiert sich für die Disharmonie, für das "Zerbrechen des homogenen Wirklichkeitsbegriffs". In scharfsinnigen Textanalysen weist er nach, wie verschiedene Auffassungen von Wirklichkeit aufeinanderprallten und wie dadurch der letzte Grund oder Ursprung der Welt ganz unterschiedlich bestimmt wurde. So entsteht das Bild eines lebendigen, spannungsreichen Mittelalters, das sich wohltuend abhebt von den thomistischen Einheitsentwürfen, die nach dem Krieg beliebt waren.

Besonders deutlich zeigt sich dies in dem Kontrast, den Blumenberg zwischen Aristoteles und Augustin herstellt. Folgt man Aristoteles, ist die Suche nach dem Ursprung der Welt immer kosmologisch zu verstehen. Es muss dann bestimmt werden, was die natürlichen Gegenstände verursacht und in Bewegung versetzt. Dies kann nur ein erster Beweger als Naturprinzip sein, wie die mittelalterlichen Kommentatoren feststellten. Für Augustin hingegen ist der Ursprung der Welt ein personaler Gott, der sich für eine bestimmte Schöpfung entschieden hat und sich ihr auch zuwendet. Daher muss die Suche nach dem Ursprung immer auf einen Schöpfer zurückgehen, wie die Nachfolger Augustins festhielten. Doch wie lassen sich die beiden Auffassungen miteinander vereinbaren? Überhaupt nicht, wie Blumenberg betont - auch dann nicht, wenn sie sich in den Schriften ein und desselben Autors finden. Es stehen sich vielmehr zwei Konzeptionen gegenüber, und der besondere Reiz der mittelalterlichen Texte besteht gerade darin, dass sie die Spannung aufzeigen.

Hier zeigt sich, dass der junge Blumenberg bereits seinen eigenen Weg geht. Er kümmert sich nicht um die harmonisierenden Interpretationen seiner Zeit, die von einer geglückten Synthese von Aristotelismus und Christentum sprechen. Geglückt ist im Mittelalter höchstens die Zuspitzung des Konflikts zwischen zwei ganz unterschiedlichen Auffassungen. Dies kann der Autodidakt, der sich außerhalb der neuscholastischen Forschungszentren bewegt, unverblümt aussprechen.

Doch Blumenberg geht noch darüber hinaus. Anders als christliche Interpreten versucht er nicht, Gott als einen gütigen Schöpfer darzustellen. Er betont vielmehr die radikale Freiheit: Gott hat die Welt so erschaffen, wie er es wollte, hätte sie aber auch ganz anders erschaffen können und könnte sie jederzeit verändern. Ob ein weiser Plan dahintersteht, wissen wir nicht. Und ob dies die bestmögliche Welt ist, wissen wir ebenso wenig. Die Welt ist einfach so, wie sie ist, und könnte morgen schon ganz anders sein. Immer wieder weist Blumenberg auf die "Faktizität und Kontingenz der Wirklichkeit" hin - ein Leitmotiv, das er später wieder aufnimmt. So betont er in seinem bahnbrechenden Werk "Die Legitimität der Neuzeit", das fast zwanzig Jahre nach der Dissertation entstanden ist, dass die Subjektivitätstheorien der Neuzeit als eine Reaktion auf Kontingenzerfahrungen zu verstehen sind. Wenn die Welt morgen schon ganz anders sein könnte als heute, gibt es in der materiellen Welt keine Gewissheit - wir können uns nur noch auf uns selbst verlassen, auf unsere eigene Innenwelt. Die Dissertation verdeutlicht, wie früh Blumenberg diesen Grundgedanken bereits entwickelt hat und wie tief er in seinen Studien zum Mittelalter verwurzelt ist.

Der Doktorand grenzt sich aber nicht nur von den Neuscholastikern seiner Zeit ab. Ebenso entschieden distanziert er sich von Heidegger, der wie eine drohende Kulisse im Hintergrund steht. Blumenberg weist besonders dessen Verfallsgeschichte der Metaphysik zurück. Wer meint, schon in der Antike habe die Tendenz eingesetzt, alle Dinge nur noch als Gebrauchsgegenstände - heideggerianisch als "Vorhandenes" - zu betrachten, und diese Tendenz habe sich im Mittelalter verstärkt, übersieht einen wichtigen Punkt. Die Konzeption eines personalen Gottes führte dazu, dass die emotionale Perspektive betont wurde. Gott wendet sich ja den Geschöpfen zu, liebt und beschützt sie. Genau gleich wenden auch wir uns als Abbilder Gottes anderen Geschöpfen zu und stehen in einer affektiven Beziehung zu ihnen. Blumenberg weist nach, wie dieses relationale Modell es ermöglichte, Dinge in der Welt nicht als bloße Gebrauchsgegenstände zu bestimmen. Und ganz nebenbei weist er als selbstbewusster Doktorand den weltberühmten Heidegger in die Schranken.

Die sprachlichen Purzelbäume, die Blumenberg schlägt, und seine eigenwilligen Formulierungen sind nicht immer leicht nachzuvollziehen. Schon in diesem frühen Text taucht man als Leser in seine besondere Sprachwelt ein. Doch wer sich auf diese Welt einlässt, lernt ein faszinierendes Mittelalter kennen - keine geschlossene Kathedrale, sondern ein offenes Haus mit mehreren Eingängen.

DOMINIK PERLER.

Hans Blumenberg: "Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie".

Hrsg. von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2020

Bewusstsein für die verlorene Zeit
Technikaffin, brillant und ein unwiderstehlicher Monologisierer:
Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg untersuchen zwei Biografien das Leben des Philosophen
VON LOTHAR MÜLLER
Mehrfach taucht in den Schriften Hans Blumenbergs das Teleskop auf. Es holt das bis dahin Unsichtbare in die Sichtbarkeit hinein, beflügelt die Entgrenzung der Neugier und trägt zu dem Epochenbruch bei, als den Blumenberg „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975) schildert. Galileo Galilei, der insgeheim seit längerem dem kopernikanischen Weltsystem anhängt, sieht 1609 in Venedig im Fernrohr die Chance, die sinnliche Anschauung gegen jene Buchgelehrten in Stellung zu bringen, die das Weltbild des Aristoteles durch Zitate glauben verteidigen zu können, und richtet es gegen den Sternenhimmel.
Blumenbergs großer Essay „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“, der 1965 als Einleitung zu Galileis „Sidereus Nuncius“ (1610) und Auftaktband der „sammlung insel“ erschien, erzählt nicht die Geschichte eines Triumphs der Evidenz. Der Blick durchs Fernrohr in den Himmel wird verweigert, was Galilei sieht, wird bestritten, es braucht Zeit, Abstraktion und Mathematik, bis Keil zwischen Sichtbarkeit und Wirklichkeit getrieben, ein neues Wirklichkeitsbewusstsein erschlossen ist. Erst im Zusammenspiel mit der theoretischen Anstrengung zeigt das technische Instrument, was in ihm steckt, wird die Erde Stern unter Sternen und tritt den leuchtenden Himmelkörpern an die Seite.
Seinem jüngeren Kollegen Kurt Flasch hat Hans Blumenberg um 1974 erzählt, wie früh sein Interesse an Teleskopen ausgeprägt war. Er war Jahrgang 1920, hatte 1939 in seiner Geburtsstadt Lübeck Abitur gemacht. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als „Halbjude“ eingestuft, da seine Mutter jüdischer Herkunft war, war er „wehrunwürdig“ und musste 1940 sein Studium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt abbrechen, ab 1942 Arbeitsdienste leisten. So kam er, auf Vermittlung des Vaters, in die Draegerwerk AG. Dort habe er, so Blumenberg, Bücher über die Optik und ihre Geschichte gelesen, denn die Firma habe Teleskope für U-Boote produziert. Kurt Flasch hat diese Selbstauskunft an den Beginn seines großen Buches „Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966“ (2017) gestellt.
Einer der Schlüsselbegriffe Blumenbergs ist „Geschichtlichkeit“. Er dient dazu, in scheinbaren Kontinuitäten Brüche und Widersprüche aufzuspüren, zu markieren, was überhaupt in einer Epoche denkbar ist. Der Begriff führt dazu, dass die „Legitimität der Neuzeit“ (1966) als Selbstbehauptung aus eigenem Recht erscheinen kann, dass der Absolutismus der einen, festgefügten Wirklichkeit dem Plural der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ (1981) weicht. Nun, zum hundertsten Geburtstag, ist die erste umfassende Biografie des Philosophen erschienen. Rüdiger Zill, wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, hat ihr den Titel „Der absolute Leser“ gegeben. Das akzentuiert die Gelehrsamkeit des Philosophen, der nie den Eindruck erweckt, an einer tabula rasa zu sitzen und nur aus dem Eignen zu denken, der seine Zitate nicht nur den Werken der Philosophen entnimmt, sondern ebenso häufig Romanen und Memoiren, Tagebüchern und Fabeln, Briefen und Broschüren. Der Untertitel – „Eine intellektuelle Biographie“ – klingt nach Vorrang der Gedanken und theoretischen Entwürfe und nach Nebenrolle der Soziologie des Lebenslaufs. Aber was dann folgt, ist sehr viel mehr und schließt eine sehr genaue Erkundung der Lebensumstände und der Karriere eines erfolgreichen Universitätsprofessors und einflussreichen Akademikers ein.
Die nun erschienene, bisher unveröffentlichte, 1947 in Kiel vorgelegte Dissertation „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie“ und die zwei Jahre später entstandene Habilitationsschrift „Die ontologische Distanz“ liest Zill nicht nur als Einsatzpunkte der Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Heideggers und Edmund Husserls, sondern zugleich als Laufbahnschriften, die von Briefen an die akademischen Lehrer und Auseinandersetzungen mit den Gutachtern verbunden sind.
Der perspektivische Fixpunkt in Zills Darstellung des jungen Blumenberg ist die Deportation in das bei Dessau gelegene Arbeitslager Zerbst der Organisation Todt im Februar 1945. Als er nach zwei Monaten von dort entkam und sich nach Lübeck durchschlug, fand er dort Unterschlupf in einer Dachkammer der Schuhmacherfamilie Heinck, deren Tochter wenig später seine Frau wurde.
Die Abiturrede, die der junge Blumenberg, obwohl Jahrgangsbester, 1939 nicht halten durfte, der nationalsozialistische Direktor, der ihm sogar den Handschlag verweigerte, die Behinderung seines Studiums gehören zur Vorgeschichte der Lagererfahrung. Minutiös präpariert Zill heraus, wie das Bewusstsein der „verlorenen Zeit“, die es aufzuholen, in die Eile eingeht, mit der Blumenberg seine Laufbahnschriften so rasch wie möglich unter Dach und Fach bringen will. Die Biografie beginnt mit dem Verlust der gesamten bis dahin aufgebauten Bibliothek bei der Bombardierung Lübecks Ende März 1942. En passant korrigiert Zill ein Detail der von Flasch berichteten Teleskop-Anekdote Blumenbergs. Die Draegerwerke produzierten nicht Fernrohre, sondern Belüftungsanlagen für U-Boote.
Von den Ruinenstädten Kiel und Hamburg führt die akademische Karriere Blumenbergs in die Gelehrtenwelt der alten Bundesrepublik, von Gießen über die Neugründung Bochum bis nach Münster, das 1970 seine letzte Station wird. Ein Strang dieser Geschichte der Geisteswissenschaften in Deutschland handelt vom Umgang des als „Halbjude“ verfolgten Blumenberg mit denjenigen Kollegen, die vor 1945 sporadisch oder dauerhaft den Verfolgen nahegestanden hatten.
Wie die Infrastrukturen und Netzwerke, die Konkurrenzen und Rivalitäten des akademischen Lebens treten in Zilles Biografie die inneren Schichtungen und kommunizierenden Röhren der Autorschaft dieses Philosophen hervor, auch seine Verlagsbeziehungen, nicht zuletzt seine Konflikte mit Siegfried Unseld. Lange war Blumenberg ein Mann der Aufsätze, ehe er voluminöse Bücher veröffentlichte, schon als junger Mann publizierte er Feuilletons unter dem Pseudonym „Axel Colly“.
Es gibt im Prozess der theoretischen Neugier des Philosophen Hans Blumenberg ein Instrument, das für ihn so wichtig ist wie für Galilei das Fernrohr: den Zettelkasten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er nicht nur in Zills Biografie eine prominente Rolle spielt, sondern auch in ihrem Gegenüber, Jürgen Goldsteins nicht minder umfangreichem Buch „Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait“. Es verhält sich zum Leben des Porträtierten sehr diskret, ohne es auszublenden, und ist ein luzider, in einem überaus klaren und unangestrengten Stil geschriebener fortlaufender Kommentar zum Gesamtwerk in allen seinen Facetten, von den Bemerkungen zu Kafka und den „Nihilismus“, das Modethema der Nachkriegszeit bis zur lebenslangen Faszination durch Goethe wie durch die Technik. Beide, Zill wie Goldstein, porträtieren den Hochschullehrer Blumenberg, der seit dem Sommersemester 1978 keine Seminare und Kolloquien mehr, sondern nur noch Vorlesungen anbot, als so unwiderstehlichen wie gegenüber dem Publikum rücksichtslosen Monologisierer. Als junger Student hat Goldstein Blumenberg noch erlebt.
Zill erläutert den Zettelkasten Blumenbergs im Rückblick auf Schreibprozesse, in denen kurz vor ihrer Abdankung die Techniken analoger Gelehrsamkeit noch einmal kräftig aufblühen. Ein Bravourstück ist sein „close reading“ der Lektürespuren, mit denen Blumenberg den kurz zuvor erschienenen Aufsatz Niklas Luhmanns über dessen Zettelkasten versehen hat. Zills Focus ist nicht nur hier das Archiv samt der penibel geführten Lektüreliste, die produktive Zone, in welcher der „absolute Leser“ seine Autorschaft vorantreibt.
Blumenberg ist am 28. März 1996 gestorben, aber er führt seitdem als Autor ein überaus reiches Nachleben. Jürgen Goldstein kennt die Archivexistenz Blumenbergs, aber sein Focus ist die Bibliothek, aus der die Lektüren kommen und in die sie eingehen. Zu recht mag er ihn auf eine Formel nicht festlegen, etwa die von Odo Marquard in seinem Nachruf ins Spiel gebrachte, sein Zentralmotiv sei die „Entlastung vom Absoluten“ gewesen: der mythischen Gewalt, des christlichen Willkürgottes, der Übermacht des Politischen.
Und er nimmt Blumenbergs Hang zur Anekdote gegen das Misstrauen in Schutz, hier suche einer Erholung von den Anstrengungen des Begriffs im Spiel mit den Formen der Literatur. Das Misstrauen traf einen gewissen Hang zum Virtuosentum, aber nicht den Kern von Blumenbergs Interesse an Metaphern und an einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“. Es zielte nicht auf Ermäßigung begrifflicher Anstrengung oder Flucht in die Anschaulichkeit, sondern auf die Vervollständigung und Selbstaufklärung der Begriffsgeschichte durch eine Überprüfung der Metaphern, die unvermeidlich und notwendig zur Geschichte des Denkens gehören. Für die Lektüre von Blumenbergs nun aus dem Nachlass herausgegebenes Buch „Realität und Realismus“ ist Goldstein der ideale Begleiter. Nicht nur, weil er Blumenbergs Deutungen der Wirklichkeitsauffassungen in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne so gut kennt, sondern vor allem, weil er die „Geschichtlichkeit“ in Blumenbergs Denken und Werk mit der konkreten Zeitgeschichte verknüpft. Durch die Bücher von Zill und Goldstein tritt die Geschichte als Schreibhintergrund hervor, vom Nationalsozialismus über die Atomdebatten bis zur Mondlandung. Man lese in „Realität und Realismus“ die Passage, in der Blumenberg die Lebenserinnerungen des Anklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, Robert M.W. Kempner, kommentiert.
Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, 28 Euro.
Hans Blumenberg: Realität und Realismus. Herausgegeben von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 230 Seiten, 30 Euro.
Jürgen Goldstein: Hans Blumenberg. Ein philosophisches Porträt. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. 816 Seiten, 38 Euro.
Weil seine Mutter Jüdin war,
stuften ihn die Nationalsozialisten
als „wehrunwürdig“ ein
Der Zettelkasten war für ihn
so wichtig wie
für Galilei das Fernrohr
Sein Hang zum Virtuosentum,
zum intellektuellen Hochseilakt,
erregte auch Misstrauen
Hans Blumenberg im Mercedes des befreundeten Ehepaars Schorr, circa 1958.
Foto: Archiv Bettina Blumenberg
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»Schon in diesem frühen Text [Hans Blumenbergs] taucht man als Leser in seine besondere Sprachwelt ein. Doch wer sich auf diese Welt einlässt, lernt ein faszinierendes Mittelalter kennen - keine geschlossene Kathedrale, sondern ein offenes Haus mit mehreren Eingängen.« Dominik Perler Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200710