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DEUTSCHER SACHBUCHPREIS 2023
Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwunden. Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von der großen Zäsur. Mit wenigen Strichen, anhand von vielsagenden Szenen und Beispielen, zeigt er, wie die Welt der Eltern unterging, die Geschwister anderen Lebensentwürfen folgten und der allgemeine gesellschaftliche Wandel das Land erfasste.
Zuchtbullen für die monatliche Auktion, Kühe und Schweine auf der Weide, Pferde vor dem
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Produktbeschreibung
DEUTSCHER SACHBUCHPREIS 2023

Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre in rasantem Tempo und doch ganz leise verschwunden. Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von der großen Zäsur. Mit wenigen Strichen, anhand von vielsagenden Szenen und Beispielen, zeigt er, wie die Welt der Eltern unterging, die Geschwister anderen Lebensentwürfen folgten und der allgemeine gesellschaftliche Wandel das Land erfasste.

Zuchtbullen für die monatliche Auktion, Kühe und Schweine auf der Weide, Pferde vor dem Pflug, ein Garten für die Vorratshaltung - der Hof einträglich bewirtschaftet von Eltern, Kindern und Hilfskräften. Das bäuerliche Leben der Fünfzigerjahre scheint dem Mittelalter näher als unserer Zeit. Doch dann ändert sich alles: Einst wohlhabende und angesehene Bauern gelten trotz aller Modernisierung plötzlich als ärmlich und rückständig, ihre Kinder riechen nach Stall und schämen sich. Wege aus der bäuerlichen Welt weist die katholische Kirche mit neuer Jugendarbeit. Der Sozialstaat hilft bei Ausbildung und Hofübergabe. Schon in den Siebzigerjahren ist die Welt auf dem Land eine völlig andere. Staunend blickt man zurück, so still war der Wandel: "Mein Gott, das hab ich noch erlebt, das kommt mir vor wie aus einem anderen Jahrhundert." Ewald Frie hat seine zehn Geschwister, geboren zwischen 1944 und 1969, gefragt, wie sie diese Zeit erlebt haben. Sein glänzend geschriebenes Buch lässt mit treffsicherer Lakonie den großen Umbruch lebendig werden.

Deutscher Sachbuchpreis 2023 Eine Familie erlebt das Verschwinden des bäuerlichen Lebens in den 50er und 60er Jahren Verwebt auf überzeugende Weise die eigenen Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Zusammenhängen Dicht und eindringlich geschrieben, überzeugend und berührend Für Leser:innen von Christiane Hoffmanns Bestseller "Alles, was wir nicht erinnern"
Autorenporträt
Ewald Frie wurde 1962 als neuntes von elf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland geboren. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

In den höchsten Tönen lobt Rezensentin Elisabeth von Thadden Ewald Fries Geschichte über das bäuerliche Leben seiner Familie, das nun mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde. "Methodisch durchdrungen" von der Kunst des Historikers und ganz ohne Plauderei erzählt ihr Frie vom Aufwachsen mit elf Geschwistern, vom Vater, der ein Leben lang auf dem Hof im Münsterland als Rinderzüchter darbte, seinen Kindern aber ein anderes, besseres Leben wünschte, und von Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft seit den sechziger Jahren. Die Kinder schämten sich für Armut und Kinderreichtum der Familie, in der katholischen Familie herrschte Schweigen, erfährt Thadden, die vor allem bewundert, wie zärtlich und "subtil" Frie das Lebensgefühl seiner Familie, mit der er lange Interviews führte, in Worte fasst. Darüber hinaus liest sie, wie durch die künstliche Besamung die Bullenzucht an ihr Ende kam, externe Arbeiter zu teuer wurden oder sich die Zahl der Traktoren zwischen 1949 und 1960 allein in Westfalen verzehnfachte. Ein berührendes Buch, in dem kein Wort zu viel ist, versichert Thadden.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2023

„Wir rochen nicht mehr nach Kühen“
Sein Vater konnte Ferkel kastrieren, Ewald Frie ist Historiker geworden. In „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt er vom Auszug aus einer versinkenden Welt
Wenn man einfach nur ganz professionell seine Rolle spielen würde, dann könnte die Geschichte mit einem einzigen Satz wie diesem zu Ende sein: „Die Eltern des Historikers Ewald Frie, der Professor in Tübingen ist, waren Bauern im Münsterland.“ Ein Satz in der Kurzbiografie eines etablierten Forschers. Mission erfüllt, und weiter.
Aber die Geschichte ist damit nicht zu Ende, denn Ewald Frie hat es gewagt, seine eigene Familie zum Thema zu machen. Er ist eines von elf Kindern, ja: elf, alle von derselben Mutter. Noch im Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1944, gebar sie ihr erstes Kind, den späteren Hoferben, und bis Ende der Sechzigerjahre wurde sie dann alle zwei Jahre schwanger. Elf Kinder überlebten. Die Mutter war „marienfromm und bildungshungrig zugleich“. Alle Kinder außer dem Ältesten haben dann mit der Zeit die Welt der Landwirtschaft verlassen. „Wir rochen nicht mehr nach Kühen, Schweinen und Silage.“
Ewald Frie, 60 Jahre alt, hat seine vielen Geschwister in Interviews befragt und hinterlassene Quellen studiert, und er erzählt nun in einem wunderbaren Buch vom Abschied von der bäuerlichen Gesellschaft. Es ist ein Prozess, der in der Bundesrepublik wie auch anderswo schleichend oder rasant verlief, je nachdem, wie nah man dran ist. Seine älteren Geschwister durften noch nicht Fußball spielen, weil dies dem Selbstverständnis der Hofbesitzer widersprach, sondern allenfalls zum Reiterverein gehen. Wenn die Kinder Hausaufgaben zu machen hatten, dann war das damals „die einzige Alternative zur Hof- und Hausarbeit, die akzeptiert wurde“. Den Aufstieg durch Bildung, parallel zur Maschinisierung der Landarbeit, mussten die älteren Geschwister sich noch auf eigene Faust durch Umwege organisieren. Ewald Frie hingegen, 1962 geboren, als obsessiver Bücherleser ein Sonderling in der Familie, konnte schon ohne Widerstand kicken gehen und einfach mit dem Bus zum Gymnasium fahren und nachher studieren. Das war von der Tradition der Vorfahren eigentlich nicht vorgesehen.
Die richtige Mischung aus sachlicher Distanz und persönlicher Wärme, die Ewald Frie als Beteiligter und als Wissenschaftler findet, um diese Geschichte seiner Familie zu verstehen, sie klingt beim Lesen so einfach, wie selbstverständlich. Aber sie ist bewundernswert. Mal referiert er nüchtern und präzise den sozialen Wandel – vom Pferd zum Traktor zur höheren Bildung in wenigen Jahrzehnten. Mal werden Lebensbilanzen gezogen, in eindringlichen Passagen wie dieser:
„Ich kann ganz viele Dinge nicht mehr, die mein Vater konnte: Vererbungsqualitäten von Bullen an deren äußerer Gestalt ablesen, Ferkel mit dem Taschenmesser kastrieren, fließend Plattdeutsch reden, Besen binden, das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs vorhersagen.“ Da fragt Ewald Frie sich: „Bin ich ein Aufsteiger? Meine Wohnung ist viel kleiner als der Wohnbereich des Hofes meiner Eltern. Ich besitze kein Land, kein Haus, keine Tiere, keine Apfelbäume und keine Feuerstelle. (…) Ich habe einen Professorentitel und eine lange Publikationsliste. Läuft das nicht eher auf ein solides Unentschieden hinaus?“
Der Hof, auf dem Ewald Frie mit seinen Geschwistern (deren Vornamen er für das Buch geändert hat) aufwuchs, liegt zwei Kilometer von dem Dorf namens Nottuln entfernt und 25 Kilometer von Münster. Ein großes Bauernhaus, das 1896 neu gebaut worden war. Der eine Nachbarhof 150 Meter, der andere 300 Meter entfernt.
Zu den Besonderheiten der Siedlungsstruktur, über die Städter wohl selten nachdenken, wenn sie an das Landleben und die Landwirtschaft denken, gehört, dass Hof und Dorf zumindest in der herkömmlichen Welt dieser Münsterländer Bauern eher getrennte Welten waren. Die Höfe waren „lockere Gemeinschaften von Ungleichen“, schreibt Frie: „Das entscheidende Kriterium war Landbesitz.“ In der Hinsicht hatte es die Familie, bei aller harten Arbeit, nicht so schlecht, und so fühlte man sich früher dem Dorf überlegen.
Zwar war das Dorf „der Ort der Kirche und des Frühschoppens, des Amtes und der Post. Die Volksschule war dort und die katholische Mädchenrealschule mit angeschlossenem Internat.“ Und es gab sogar seit 1926 auch ein Freibad und am Wochenende Kino. Aber da lebten, den Werten der Bauern zufolge, eigentlich keine richtig freien Menschen. Und man hatte früher selten Zeit für solche Dinge, als die meiste Arbeit noch mit den Händen gemacht wurde. „All das war beeindruckend, aber nichts davon war Alltag“, beschreibt Frie das Lebensgefühl auf dem Hof. „Um ins Dorf zu fahren, musste es Gründe geben.“
Später kamen die Autobahn, Sportplätze und ein neuer Mittelstand dazu – und erst mit der Zeit merkten die Älteren, dass die modernere Lebensweise in Dorf und Stadt den stärkeren Anspruch auf Autonomie und Freiheit stellen konnte als die Bindung an die eigene Scholle. Die Kinder wurden nach und nach davon weggelockt, sie wurden etwa Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Pharmazeuten und eben einmal Professor. Obwohl die Mutter beim Abschied immer sagte: „Denk dran, hier ist immer einer zu Hause.“
Und während die Mutter ihre Beschränkung auf das Haus laut Ewald Frie wohl noch als „eine Errungenschaft ihrer Ehe“ empfunden hatte, „abweichend von den vielen krumm gearbeiteten Frauen der Bauernschaft“, die noch auf dem Feld mithalfen – so strebten ihre Töchter in die eigene Berufstätigkeit, und die Mutter unterstützte sie auf ihren neuen Bildungswegen. Mindestens so wichtig waren dafür die Angebote der katholischen Landjugend – vom Redewettbewerb bis zum Tanzabend –, die Disko und das Geld vom BAföG, das im Jahr 1971 eingeführt wurde. Und die eigene Erfahrung im Teamwork. Zugleich veränderte sich auch die Landwirtschaft selbst, technisch und wirtschaftlich.
„Es gibt nicht die eine Entscheidung, die uns vom Früher trennt“, schreibt Ewald Frie. Eigentlich hatte er als nächstes eine große Geschichte des Pazifik schreiben wollen, aber die Pandemie verhinderte die dafür nötigen Recherchereisen. Ein Glück für dieses Buch. Wie Frie auf 170 Textseiten die allmähliche Lösung von einer Welt beschreibt, die durch körperliche Arbeit und Gebet strukturiert war, illusionslos und doch sensibel, mit historischem Blick als Fachmann und doch voller Dankbarkeit, wie er westfälisch handfest seine Familie analysiert und zugleich respektiert, wie er eine allgemeine, aber auch seine Geschichte erzählt, das hinterlässt großen Eindruck.
Dieses Buch ist auch so etwas wie ein Rezept, für alle, die im Wandel der Zeit ihren Platz finden wollen: Wir werden unsere Herkunft nicht einfach los; sie soll uns zwar nicht fesseln, aber wenn wir nicht versuchen, sie auf den Begriff zu bringen, dann wird sie zu sehr zu einem blinden Fleck. Es müssen ja nicht alle ein Buch daraus machen. Aber mit seiner Familie darüber zu sprechen, so wie es Ewald Frie getan hat, das ist eine gute Idee.
JOHAN SCHLOEMANN
Die Oma arbeitete sich auf dem
Feld noch den Rücken krumm,
die Enkel streben in die Stadt
Die Bauernfamilie Frie, festfein herausgeputzt im Jahr 1960. Vier weitere Kinder sollten dann noch hinzukommen, darunter auch Ewald Frie, der 1962 geboren wurde.
Foto: privat
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland. Verlag C. H. Beck, München 2023.
191 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2023

Der Verlust der Würde

Der Historiker Ewald Frie hat aus der Geschichte seiner Herkunft - aus einer Bauernfamilie - einen preisgekrönten Sachbuchbestseller gemacht. Ein Besuch in der Vergangenheit.

Von Rüdiger Soldt

Landidee", "Mein Ländle", "Landlust", "Mein Schönes Land", "Landkind". Die Illustrierten-Auswahl zum wohligen Dorfleben im sanierten Bauernhaus ist riesig. Nostalgisch wird nicht nur hier dem angeblich idyllischen Landleben hinterhergetrauert, gern will man rustikale Gemütlichkeit in die Städte importieren. Doch das Verhältnis der Deutschen zu ihren Landwirten ist kompliziert: Auf dem Hochglanzfoto ist der Bauer gern gesehen, das Verständnis für die wirkliche Arbeit in der Landwirtschaft hat aber enge Grenzen. Wie ein Acker bestellt wird und wie mühsam es ist, Kälber aufzuziehen, wissen nur wenige. Wenn der Traktor auf dem Feldweg mal dem E-Mountainbiker in die Quere kommt, endet das häufig im Streit.

Nichts hat sich in den vergangenen 70 Jahren stärker verändert als das Leben auf dem Land. An die Industriearbeit früherer Zeiten erinnern noch viele Fabriken, auch wenn sie heute Kulturzentren beherbergen, vom Dorfleben der Fünfzigerjahre ist vielerorts nichts mehr übrig. Aus Dörfern mit zehn oder 20 Bauernhöfen wurden Schlafstätten, in früheren Schweineställen sind Ferienwohnungen im Modern-Country-Stil oder Physiotherapiepraxen untergebracht. Das Sterben der bäuerlichen Welt war ein langsames Siechtum, das sich über Jahrzehnte erstreckte und von dem ein Großteil der Bevölkerung betroffen war. "Es ist ein großes Thema", wird Ewald Frie später im Gespräch sagen, und der Mann kennt sich aus mit Geschichte.

1949 arbeiteten 5,1 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, Mitte der Siebzigerjahre nur noch 1,6 Millionen, immer mehr mittlere und kleinere Betriebe mussten aufgeben. Bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts war Bauer ein angesehener Beruf. Einst konnten mehr Menschen eine Melkmaschine bedienen als ein Auto lenken. Heute sind nur zwei Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt und von zwei Millionen Bauernhöfen, die es 1950 gab, nur 250.000 geblieben.

Viele Menschen spüren erst im Alter, dass sie Teil dieses Wandels waren und sind. Wahrscheinlich ist das ein Grund, weshalb der Tübinger Geschichtswissenschaftler Frie binnen kurzer Zeit zum Bestsellerautor wurde - buchstäblich als neuntes von elf Kindern einer Bauernfamilie aus dem Münsterland. Fries Buch "Ein Hof und elf Geschwister" gewann den Deutschen Sachbuchpreis und gehört, inzwischen in der 12. Auflage, seit Monaten zu den meistgelesenen Sachbüchern.

Frie hatte zuvor Bücher über Preußen und die Armenfürsorge geschrieben. Doch erst die persönliche und zugleich wissenschaftlich informierte Erzählung über die Geschichte seiner Familie machte ihn einem größerem Publikum bekannt. "Ich bekam in den vergangenen drei Wochen mehr als 300 Zuschriften von Lesern, die mir geschildert haben, wie sie das Sterben ihrer bäuerlichen Welt erlebt haben", sagt Frie jetzt. "In den Fünfzigerjahren blühte das agrarische Leben noch einmal auf, mit dem Verkauf von Flächen modernisierten sich viele Betriebe. Anfang der Achtzigerjahre löste sich die Bauernwelt mit ihrer Eigenlogik und mit der selbstverständlichen Hofübergabe auf."

Während der Pandemie schrieb der Historiker dann eine Sozialgeschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive einer katholischen Bauernfamilie, der seinen: Das Geld ist stets eher knapp, der Alkoholkonsum bei beiden Geschlechtern beträchtlich, junge Menschen konnten ihr Ich erst nach der Verheiratung entwickeln. "Wenn ich ausziehe", zitiert Frie seine Schwester in dem Buch, "dann werde ich mir schon Wäsche kaufen können, die ich mag." Eine Welt aus Dorfschulen, Ackerpferden und Zuchtviehmärkten geht unter. Die Bildungsexpansion habe es den Kindern aus Bauernfamilien ermöglicht, ein anderes Leben zu führen. Fries ältester Bruder wird 1944 geboren, der jüngste 1969; Fries Mutter war zwischen ihrem 22. und 47. Lebensjahr nahezu jedes zweite Jahr schwanger. Vielfach sei es gelungen, die Landwirtschaft zu verlassen; die neue Dienstleistungsgesellschaft machte es möglich, der Sozialstaat federte vieles ab. "Mein ältester Bruder", schreibt Frie, "hat die Veränderung der ländlichen Welt mitgestaltet. Wir anderen haben sie verlassen, ausgestattet mit der neuen Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß."

Auch Frie griff nach den neuen Möglichkeiten; ihn hielt es nach dem Abitur nicht lange im Kuhstall und auf lehmigen Äckern. Sein Vater hielt den Sohn für einen Taugenichts, mit dem Hang zu Büchern tanzte er aus der Reihe. Frie verabscheute die "knochenbiegende Landarbeit", von welcher der Vater - Mitte der Fünfzigerjahre ein vielfach prämierter, angesehener Rinderzüchter - früh gezeichnet war. Von den elf Geschwistern blieb nur Fries Bruder Hermann der Landwirtschaft treu und führte den Betrieb bis zur Rente. Seither sind alle Stallungen und Ländereien verpachtet. Das Einzige, was Frie heute vermisst, ist das Äpfelpflücken auf der eigenen Wiese.

An einem sonnigen Herbsttag macht Frie etwas, was ihm sichtlich nicht sehr behagt: Er besucht einen Bauernhof - den "Heuberger Hof" von Gregor Rauser, in der Nähe von Rottenburg, knapp zwanzig Kilometer westlich von Tübingen. Ein 120-Hektar-Biobetrieb mit 60 Rindern, 200 Schweinen und 80 Gänsen. Auf dem Hof riecht es nach Kuhdung und Schweinejauche. Die Gänse suchen in der Spätherbstsonne Kühlung in einer Schlammpfütze. Vor der Scheune steht über einer großen Ölwanne ein kaputter alter MB-Trac - der alte Kultschlepper von Mercedes. "Da kann man mit der Kneifzange noch was reparieren; bei den modernen Traktoren piept es nur, und dann musst du für 500 Euro in die Werkstatt", sagt Rauser stolz, als er den Professor über das Gelände führt. Der Biohof ist noch ein klassischer Vollerwerbsbetrieb: Ackerbau, Viehzucht, Selbstvermarktung von Fleisch und Wurst auf dem Wochenmarkt. Die Schuhe bleiben beim Gang zu den Ställen nicht sauber.

Nostalgische Gefühle für die untergegangene Bauernwelt haben weder Frie noch Rauser. Der Professor hält wenig von falscher Romantik; es sei schon im 19. Jahrhundert falsch gewesen, das Landleben zu verherrlichen. Ferkel mit dem Taschenmesser kastrieren oder überzählige Katzenjungen im Jutesack im Dorfteich ertränken, das ist ja auch wenig romantisch. Der Biobauer wünscht sich allerdings mehr Anerkennung für seinen Beruf: "Es gibt in der Gesellschaft viele nostalgische Sehnsüchte nach der guten alten Landwirtschaft. Die Leute, die bei Würth oder Mercedes arbeiten, sehen ja nur den Bauern, wie er scheinbar gemütlich mit dem Schlepper übers Feld fährt. Dass bei uns der Stress, vor allem der psychische Stress, sehr groß ist, sehen die meisten nicht." Einige könnten ihre Höfe nur mit Grundstücksverkäufen am Leben halten und modernisieren. Wenn dann der Generationswechsel anstehe, sei oft Schluss.

Rauser führt Frie zum Hinterausgang des Kuhstalls. Ein sprichwörtlich störrischer Esel steht auf der Wiese, eine Kuh springt wild im Gatter herum. Frie erschrickt und sucht Abstand zum Tiergatter. Der Erhalt der verbliebenen bäuerlichen Strukturen sei auch heute ein permanenter Kampf, erzählt Rauser. Die Schließung eines nahe gelegenen Schlachthofs in Rottenburg habe man gegen den Willen der Politiker nur per Bürgerentscheid verhindern können. Die Kenntnisse über die Produktion hochwertiger Lebensmittel und die Pflege der Landschaft, somit die wichtigsten Leistungen der Bauern, seien in der Bevölkerung ausgesprochen gering: "Da sagte ein Oberbürgermeister mal, eine Ackerfläche sei erst etwas wert, wenn sie als Bauland ausgewiesen sei. Das fand ich unverschämt", sagt Rauser. Noch mehr ärgerte er sich über den früheren Seniorchef des Motorsägenherstellers Stihl, immerhin Weltmarktführer. Der habe mal für die komplette Abschaffung der Landwirtschaft in Deutschland plädiert: Es sei günstiger, alle Lebensmittel zu importieren, denn jeder Bauer werde ja subventioniert. "Solche Aussagen vergesse ich nicht." Vor Ärger schmiss Rauser die Stihl-Motorsägen aus dem Schuppen. "Ich säge jetzt mit Honda."

Rauser zeigt Frie dann noch den modernen Schweinestall. In einer Box werden bis zu 20 Schweine gehalten. Drinnen stehen sie im Trockenen, draußen ist der Nassbereich. Spaltenböden gibt es nicht. Rauser erzählt, dass die Schweinezucht durch die Inflation und das Abflauen des Ökobooms noch härter und auch unwirtschaftlicher geworden sei. Die Leute wollen und können gerade für Lebensmittel nicht mehr so viel Geld ausgeben. Einige Bauern, die erst vor wenigen Jahren auf Öko-Landwirtschaft umstellten, seien nun enttäuscht, weil sie weniger verdienten als erwartet.

"Ein Ökoschwein wiegt 180 Kilo, es ist größer und fetter", sagt Rauser. Der Kilopreis eines Schweins aus konventioneller Züchtung liegt bei 1,50 Euro, der eines Ökoschweins bei 4,30 Euro. Das kann sich nicht jeder leisten. "Aber die Arbeit ist zum Glück leichter geworden, wir müssen den Schweinekot nur draußen mit dem Frontlader wegschieben, das ist viel einfacher als früher", sagt Rauser. Frie tritt nicht dicht an die Schweineboxen heran, der Gestank weckt in ihm schlechte Kindheitserinnerungen. Länger als 20 Minuten hält er es am Nassbereich des Stalls nicht aus. In Fries Kindheit war die Geruchsmischung aus Silage, Schweiß und Kuhstall ein soziales Distinktionsmerkmal. "Ich war schon als Kind nicht für die Arbeit auf dem Hof geeignet. Ich hatte Angst vor Tieren, die Handgriffe saßen bei mir nicht. Es muss jeder das machen, was er kann. Deshalb war es bei uns der älteste Bruder, der den Hof übernahm."

Frie hält die bäuerliche Gesellschaft, wie er sie erlebt hat und in seinem Buch porträtiert, für alles andere als träge und sozialkonservativ. Leider sei das Bild der ewig rückständigen bäuerlichen Gesellschaft, wie es zum Beispiel von dem einflussreichen Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl geprägt wurde, in der Öffentlichkeit immer noch präsent. Dabei sei kaum ein anderer Berufsstand seit dem Beginn der Industrialisierung so großen Veränderungen ausgesetzt gewesen, schon im 19. Jahrhundert habe es einen globalen Getreidemarkt gegeben. "Und später zeigten die Agrarpolitik der EWG und das unglaubliche schnelle Hochfahren von Produktionsmengen bei Milch und Butter, dass Bauern veränderungsbereit waren." Der Maschinenpark wurde ständig modernisiert, viele unangenehme Tätigkeiten automatisiert. Computer zur Verwaltung der Betriebe waren schon Mitte der Sechzigerjahre im Einsatz.

Nach Fries Forschungen und seinen eigenen biographischen Erfahrungen kam der Todesstoß für die herkömmliche bäuerliche Lebenswelt nicht aus Brüssel oder aus Bonn, sondern er kam aus dem Inneren. Der Niedergang war unabwendbar, als die Arbeit von Bäuerinnen und Bauern an Prestige und vor allem an Dignität verlor. Die Menschen schauten nicht zum stolzen Rinderzüchter empor, sondern machten im Supermarkt die Erfahrung, dass es Lebensmittel im Überfluss gab. Zu Beginn der Siebzigerjahre wollten Bauerntöchter plötzlich keine Bauernsöhne mehr heiraten. Und die Teenager in der Landjugend wollten mit dem Konsum- und Freizeitverhalten der städtischen Jugendlichen mithalten - Sonnenliege in Spanien statt Schufterei auf dem elterlichen Feld.

Die individualisierte Freizeitgesellschaft passt zum bäuerlichen Leben mit viel Arbeit, wenig Freizeit und starker sozialer Kontrolle überhaupt nicht. Plötzlich gab es keine Nachfolger mehr, die bereit waren, den Hof der Eltern weiter zu bewirtschaften. "Die Landwirtschaft hat sich leider von der normalen Welt immer mehr abgekoppelt", sagt Rauser. Und ergänzt noch eine Anekdote aus der eigenen Familie: Seine jüngste Tochter habe zunächst Landwirtschaft studiert, ihr Schwerpunkt sei aber dummerweise Landwirtschaftspolitik gewesen. "Je mehr sie davon verstand, desto hoffnungsloser wurde sie." Heute studiere sie Sportwissenschaften.

Ewald Frie, "Ein Hof und elf Geschwister: Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland"; C.H. Beck, 191 Seiten, 23 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein kluges und gekonntes Porträt mit großer Anschaulichkeit und analytischer Kraft."
SZ, Die Besten der Besten 2023, Steffen Mau
Nominierung für den Deutschen Sachbuchpreis 2023: "Lässt liebevoll und unprätentiös eine Lebensweise wiederauferstehen, die vielen nicht mehr vertraut ist. Und er zieht dabei Bilanz: Was ist mit der Verstädterung und der Bildungsexpansion verlorengegangen? Was haben wir mit dem gesellschaftlichen Wandel gewonnen? Dass Frie auf einfache Fragen nicht immer einfache Antworten gibt, zählt zu den Stärken dieses unterhaltsamen wie erkenntnisreichen Buchs."
Aus der Jurybegründung

"Eine Erzählung in einer meisterlich unverplauderten Prosa, die alles in sich birgt, worauf es ankommt, und ausspart, was nicht gesagt werden muss. ... Methodisch durchdrungen von Fries Historikerkunst und wie ein Destillat aus einem wohl einzigartigen Fundus gewonnen."
DIE ZEIT, Elisabeth von Thadden

"Wie sich das Verhältnis von Individuum und Welt in nur einer Generation verändert hat, das analysiert anschaulich der Tübinger Historiker Ewald Frie."
DER SPIEGEL, Susanne Beyer

"Eine exzellente Entscheidung der Jury."
Süddeutsche Zeitung, Felix Stephan

Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im April 2023: "Eine Familienchronik, die zugleich das Porträt einer untergehenden Welt ist."

"Wie das bäuerliche Leben zu Ende ging. Ein Historiker porträtiert seine Familie."
ZEIT, Elisabeth von Thadden

"Ein überaus elegant konstruiertes Sachbuch ... Sehr zu Recht wurde Frie dafür mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet."
Tagesspiegel, Denis Scheck

"Frie beschreibt einen Verlust, den Untergang einer Welt. Frei von Nostalgie, mit klarem Blick. Eine fast vergessene Geschichte der Bundesrepublik scheint hinter Fries Gesprächen mit seinen Geschwistern auf."
DER SPIEGEL, Tobias Rapp

"Ewald Frie ...erzählt nun in einem wunderbaren Buch vom Abschied von der bäuerlichen Gesellschaft."
Süddeutsche Zeitung, Johan Schloemann

"Eine andere Geschichte der Bundesrepublik."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Helmut Mayer

"Ein lesenswertes Buch."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ulla Fölsing

"Ein tiefes und gleichzeitig zugängliches und unterhaltsames historisches Sachbuch."
NDR, Agnes Bührig

"Ewald Frie erzählt eindrücklich vom Aufwachsen in der bäuerlichen Großfamilie."
Der Freitag, Regina Bartel

"Ein schönes Stück Zeitgeschichte"
hr2 Kultur, Christiane Hillebrand

"Auch ein Stück Bildungsgeschichte der jüngeren Bundesrepublik [...] das besondere Leseerlebnis in Ewald Fries Buch besteht in den amüsanten Szenen, in denen die Geschwister als Komplizen oder zumindest Insider der bäuerlichen Lebenskultur auftauchen."
Bayerischer Rundfunk, Astrid Mayerle

"Macht entlang der unterschiedlichen Erfahrungsräume von Eltern und Kindern auch im Kleinen den großen gesellschaftlichen Wandel sichtbar."
Falter, Julia Kospach

Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im April 2023: "Eine Familienchronik, die zugleich das Porträt einer untergehenden Welt ist."

"Erzählt anhand seiner eigenen Familiengeschichte, wie rasant sich das Leben der Bauern in den vergangenen fünfzig Jahren verändert hat ... Ewald Frie erklärt, warum die Wut der Bauern Tradition hat."
SPIEGEL Online, Susanne Beyer

"Der Historiker beschreibt den Untergang der bäuerlichen Welt - und wie sich dieser Verlust für die Menschen anfühlt."
SPIEGEL Bestseller, Platz 6

"Eine Familienchronik, die zugleich das Portrait einer untergehenden Welt ist."
ZEIT Newsletter Was wir lesen

"Ein berührendes Buch."
Badische Zeitung, Michael Neubauer

"Es verweben sich im Text Familiengeschichte und Zeitgeschichte, lebensweltliche Betroffenheit und der nüchterne Blick des Historikers, autobiografische Erinnerung und geschichtswissenschaftliche Kontextualisierung, sensible Auseinandersetzung mit der Familie und die sezierende Analyse des kritisch zurückschauenden und einordnenden Geschichtsschreibers. Imponierend an dem Buch ist nun gerade die Art und Weise, in der die auseinanderstrebenden Betrachtungsweisen stilistisch miteinander verbunden werden."
Soziopolis.de, Juri Auderset,

"Applaus! Und ein fröhliches Muuh."
stern.de

"Dieses Buch ist bemerkenswert in vielerlei Hinsicht."
Stuttgarter Zeitung, Armin Käfer

"Ein bundesrepublikanisches Sittenbild, dass die Bildungsaufsteiger der ersten Bafög-Jahre zur Identifikation einlädt."
Tagesspiegel, Gunda Bartels

"Liebevoll und warmherzig, gleichzeitig aber mit dem Instrumentarium und dem geschulten Blick des Historikers erzählt Ewald Frie vom Leben seiner Eltern, vom Aufwachsen seiner Geschwister und von ihrem Entwachsen der Landwirtschaft, vom sozialen und technischen Wandel."
NZZ online, Cord Aschenbrenner

"In Gesprächen mit den zehn Geschwistern rekonstruiert er ebenso profund wie elegant kollabierende Welten."
Tagesspiegel, Denis Scheck
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