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Eisenbahnschienen, Telegrafendrähte, Wasserleitungen, aber auch der bürokratische Apparat, das Gesundheitsamt oder das Banken- und Börsenwesen - mit der Entwicklung des modernen technischen und administrativen Apparates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich auch der Ausdruck 'Infrastruktur', der bald zu einem Passepartout für die Versprechen von Stabilität, reibungsfreien Abläufen und Dauermobilität wurde. Steffen Richter zeigt in seiner großen kulturgeschichtlichen Untersuchung, wie die Infrastruktur zwischen 1848 und 1914 in Werken von Ernst Jünger, Max Weber, Wilhelm…mehr

Produktbeschreibung
Eisenbahnschienen, Telegrafendrähte, Wasserleitungen, aber auch der bürokratische Apparat, das Gesundheitsamt oder das Banken- und Börsenwesen - mit der Entwicklung des modernen technischen und administrativen Apparates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich auch der Ausdruck 'Infrastruktur', der bald zu einem Passepartout für die Versprechen von Stabilität, reibungsfreien Abläufen und Dauermobilität wurde. Steffen Richter zeigt in seiner großen kulturgeschichtlichen Untersuchung, wie die Infrastruktur zwischen 1848 und 1914 in Werken von Ernst Jünger, Max Weber, Wilhelm Raabe, Gustav Freytag, Friedrich Spielhagen, Heinrich Seidel, Theodor Fontane und anderen als Agent der Selbstermächtigung der Subjekte gefeiert und als hart, kalt und entfremdet kritisiert wurde. So werden Unbehagen und Faszination jener Tiefenstrukturen erfahrbar, auf denen unsere Gesellschaft auch heute noch beruht.
Autorenporträt
Steffen Richter, 1969 geboren, lehrt als Privatdozent Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Braunschweig. Als Journalist schreibt er u. a. für die Neue Zürcher Zeitung und den Tagesspiegel, seit 2018 ist er Wissenschaftlicher Koordinator des DFG Schwerpunktprogramms Ästhetische Eigenzeiten am Peter Szondi-Institut der FU Berlin. Bei Matthes & Seitz Berlin gibt er die Zeitschrift Dritte Natur heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2019

Die Abgehängten kamen mit der Eisenbahn
Spinnennetze: Steffen Richter zeigt am Beispiel der deutschen Geschichte und ihrer Literatur seit 1848, welche zentrale Rolle die Infrastruktur spielt

Hinter uns liegt ein großes Infrastrukturexperiment: Weihnachten. 2018 transportierte allein DHL im Durchschnitt täglich etwa 4,6 Millionen Pakete. Weil immer mehr Einkäufe im Internet erfolgen, wurde für die Weihnachtszeit ein Anstieg auf bis zu elf Millionen vorhergesagt. Entgegen allen Befürchtungen erwies sich das Liefersystem als robust und verlässlich. Man mag sich die Verzweiflung gar nicht vorstellen, wenn der Paketservice kurz vor der Bescherung tatsächlich zusammengebrochen wäre. So weit die gute Nachricht. Die schlechte: Weil es so gut funktioniert hat, werden alle, die sich den digitalen Infrastrukturen verweigern, über kurz oder lang pleitegehen.

Personen und Ereignisse beherrschen die Nachrichten, nicht Infrastrukturen, denn die Routine genießt keinen guten Ruf. Wer unsere Welt verstehen will, muss jedoch vor allem über jene öden Dinge nachdenken, die "das reibungslose Funktionieren des modernen Lebens gewährleisten": über Kommunikationswege, Transport- und Verkehrsverbindungen, Versorgungs- und Vorsorgeunternehmungen oder Verwaltungen. Infrastrukturen schaffen es in der Regel nur dann in die Schlagzeilen, wenn sie in die Krise geraten, wenn sie zu hohe Kosten verursachen oder wenn ihr maroder Zustand für einen Unfall verantwortlich gemacht wird.

Gleichwohl bestimmen sie unterschwellig das Weltbild. Steffen Richter rekonstruiert aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, wie sich im neunzehnten Jahrhundert ein "Diskurs" etabliert hat, in dem ein komplexes Geflecht von "sichtbaren Apparaten" und "unsichtbaren Relationen" die Möglichkeiten der Welt definieren. Damit schließt er an die einschlägigen Studien von Dirk van Laak an, der aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive dazu gerade einen Überblick vorgelegt hat (F.A.Z. vom 14. August 2018).

Die postromantische Literatur, auf die Richters Untersuchung zielt, unterhielt ein gespanntes Verhältnis zu Infrastrukturen. Auf der einen Seite öffneten sich im Zeitalter des Realismus maßgebliche Autoren den Alltagswelten. Gustav Freytag, der mit "Soll und Haben" einen der wichtigsten Infrastrukturromane überhaupt vorgelegt hat, empfahl den Schriftstellern, die "Arbeitsstuben" aufzusuchen.

"Der Deutsche", so meinte er, sei "am größten und schönsten, wenn er arbeitet". Auf der anderen Seiten kollidierte das allzu Technische, das Rohe und wirklich Prosaische mit der realistischen Ästhetik der Verklärung. Darin spiegelt sich eine prinzipielle Ambivalenz: Infrastrukturen befördern zwar die Selbstermächtigung des Subjekts und befreien die Menschen von den Vorgaben und Rhythmen der Natur. Diese Autonomie aber fordert ihren Preis: Wer sich den Infrastrukturen nicht unterwirft, verliert im wahrsten Sinn des Wortes den Anschluss. Richter bedient zunächst die Interessen der Geschichts- und Kulturwissenschaften. Bis etwa zur Hälfte des Buchs spielt Literatur keine große Rolle. In der Tat verdanken sich die historischen Zäsuren der Jahre 1848 und 1914 auch eher politischen als literaturhistorischen Ereignissen. Der Schwerpunkt des ersten Teils liegt daher auf der wechselseitigen Stimulation und Stabilisierung von scheinbar disparaten Aspekten der Moderne: Globalität, Hygiene, Verkehr, Bürokratie und Geldwirtschaft. Als besonders wichtiger Effekt erweist sich dabei das Vertrauen, das Infrastrukturen stiften. Sie federn "nicht nur technische, sondern auch metaphysische Risiken des Prozesses der Modernisierung ab".

An dieser Stelle zeigt sich besonders gut die Aktualität des Forschungsgegenstands. Wenn gegenwärtig immer wieder davon die Rede ist, dass die Bürger das Vertrauen in die Politik verloren haben, weil sie sich "abgehängt" fühlen, dann mangelt es der Politik offenkundig an Sensibilität für den Stimmungswert von Infrastrukturen. Die Metapher "abgehängt" stammt nicht zufällig aus dem Bereich des Eisenbahnwesens, in dem der Begriff der Infrastruktur erstmals auftaucht. So erscheint es auch konsequent, dass die Proteste der französischen "Gelbwesten" eskalierten, als die Erhöhung der Benzinpreise die Verkehrstüchtigkeit der Bevölkerung zu bedrohen schien.

Erst im zweiten Teil seiner Studie untersucht Richter Romanformen, die sich - wie der Kolonialroman, der Berlin-Roman, der Kaufmanns- und Börsenroman sowie der Technik- oder Zukunftsroman - "besonders infrastruktur-affin" verhalten. In Werken von Georg Weerth, Gustav Freytag, Theodor Storm, Wilhelm Raabe oder Theodor Fontane spielen Straßen, Leitungen, Kanäle und Kanalisation oder Land- und Wasserfahrzeuge immer wieder eine entscheidende Rolle.

Es zeigt sich teils drastisch, wie Infrastrukturen die Welt unterteilen in diejenigen, die dazugehören, und in die anderen, die dann auch nicht mehr menschlich behandelt werden müssen. So kommentiert Gustav Frenssen den Völkermord an den Herero in "Peter Moors Fahrt nach Südwest" (1906) mit der ungeheuerlichen Feststellung: "Diese Schwarzen haben vor Gott und den Menschen den Tod verdient, nicht weil sie zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben."

Erhellend ist nicht zuletzt, wie lange schon literarisch die "Vorstellung" von dem "weitverzweigten Spinnennetze" fest etabliert ist, "das Handel und Verkehr über die ganze Welt gesponnen haben". Obwohl sich etwa Heinrich Seidel in den "Leberecht Hühnchen"-Erzählungen (1880-1893) stilistisch behaglich im Biedermeierton suhlt, weiß er genau, dass seine Idylle auf einer globalisierten Weltwirtschaft gründet: "Es ist etwas Großes, dass, damit ich hier in aller Ruhe meinen Tee schlürfen und du deine Pfeife rauchen kannst, der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns pflanzt und der Neger für uns unter der Tropensonne arbeitet."

Kein Zweifel besteht jedenfalls nach Steffen Richters Studie daran, dass Literatur keineswegs immer auf der "Seite des Widerstands gegen Härte und Kälte, gegen Technik, rationale Gesellschaftsverhältnis und eine objektivierte Kultur zu finden" ist. Dies liegt schlicht daran, dass sie selbst von modernen Infrastrukturen profitiert. So richtete bereits Friedrich Spielhagen, ein Bestsellerautor der 1860er- und 1870er Jahre, dessen Werke in mehrere Sprachen übersetzt wurden, sein kommerzielles Selbstbewusstsein auf einem weltweiten Buchmarkt ein: "Man kann dreist behaupten, dass heutzutage kein guter Roman geschrieben wird, der nicht für die ganze Welt geschrieben würde."

Und wer glaubt, die Minimalisierung von Aufmerksamkeitsfenstern sei der Ära der Digitalisierung vorbehalten, wird von Spielhagen in seinen Reflexionen über "Die epische Poesie unter den wechselnden Zeiten des Verkehrs" (1896/97) eines Besseren belehrt: "Heute herrscht unumschränkt der Einbänder, den man auf dem Bahnsteig für 1 DM erstehen, bequem in die Tasche stecken und ebenso zwischen Anfangs- und Endstation der Fahrt durchblättern kann." Ob in der Abstimmung der literarischen Form auf die Infrastruktur des Verkehrswesens ein Vor- oder Nachteil für die "Erzählkunst" liege, ließ Spielhagen leider offen.

STEFFEN MARTUS

Steffen Richter: "Infrastruktur". Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848-1914.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018. 452 S., geb., 40,- [Euro].

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