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Ist der Koran eine Botschaft an die Heiden der arabischen Halbinsel, die innerhalb von nur 22 Jahren zur Gründung einer neuen Religion geführt hat? Ist er die schon kurz nach dem Tod ihres Verkünders kanonisierte heilige Schrift, die uns dennoch authentisch erhalten ist? Angesichts des beispiellosen Erfolgs des Koran ist es kein Wunder, daß diese Darstellung immer wieder in Frage gestellt und Hypothesen formuliert werden, die die frühislamische Geschichte umschreiben und den Koran in einer anderen Region, zu einer anderen Zeit und sogar ohne die Mitwirkung Muhammads entstehen lassen. Alle…mehr

Produktbeschreibung
Ist der Koran eine Botschaft an die Heiden der arabischen Halbinsel, die innerhalb von nur 22 Jahren zur Gründung einer neuen Religion geführt hat? Ist er die schon kurz nach dem Tod ihres Verkünders kanonisierte heilige Schrift, die uns dennoch authentisch erhalten ist? Angesichts des beispiellosen Erfolgs des Koran ist es kein Wunder, daß diese Darstellung immer wieder in Frage gestellt und Hypothesen formuliert werden, die die frühislamische Geschichte umschreiben und den Koran in einer anderen Region, zu einer anderen Zeit und sogar ohne die Mitwirkung Muhammads entstehen lassen. Alle bisherigen Rekonstruktionen sind aber miteinander unvereinbar und ergeben kein plausibles Bild der Ereignisse, sondern werfen nur zahllose neue Probleme auf.Die Frage muß anders lauten: Ist der Koran wirklich ein rein islamischer und damit dem westlichen Leser fremder Text? Oder ist er nicht eher eine neue und eigenwillige Stimme in jenem Konzert spätantiker Debatten, mit denen auch die theologischen Grundlagen der jüdischen und christlichen Religion gelegt worden sind? Nicht den Koran müssen wir aufgrund neuer Handschriftenfunde oder mit Hilfe linguistischer Experimente ummodellieren - unsere Perspektive auf den Koran müssen wir entscheidend ändern, wenn wir seine revolutionäre Neuheit in den Blick bekommen wollen. Angelika Neuwirth, Leiterin des Projekts Corpus Coranicum - Dokumentierte Edition und historisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, liest den Koran als Text der Spätantike, einer Epoche, die auch für die europäische Kulturgeschichte formativ war. Der Koran wird so als ein vertrauter Text erkennbar, den wir unbeschadet zum 'europäischen Erbe' rechnen könnten, trennten ihn nicht uralte Vorurteile von einer unvoreingenommenen Wahrnehmung.
Autorenporträt
Angelika Neuwirth, emeritierte Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin, seit 2003 Mitarbeit in Sonderforschungsbereichen der Freien Universität Berlin sowie an verschiedenen Fellowprojekten des Wissenschaftskollegs zu Berlin, seit 2007 Leiterin des Projekts Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2011

Der Koran ist ein Teil von uns
Diese Forschung kann die verhärteten Fronten der Islamdebatte aufweichen: Angelika Neuwirth liest den frühen Islam im Licht der Spätantike
Die Zeit ihres höchsten Ruhms liegt für die deutsche Islamwissenschaft rund hundert Jahre zurück. Ignaz Goldziher und Theodor Nöldeke legten damals Studien zum frühen Islam, zum Koran und zur Entstehung des islamischen Rechts vor, an denen heute noch kein Weg vorbeiführt. Seit einigen Jahren wird von ganz verschiedener Seite wieder an jene Blütezeit der Frühislam-Forschung angeknüpft. Während Christoph Luxenberg die provokante These aufstellte, beim Koran handele es sich in Wahrheit nicht um einen arabischen Text, sondern um eine bis heute stets falsch verstandene syrisch-arabische Mischsprache, griff eine Gruppe von Religionswissenschaftlern aus Saarbrücken die aus den siebziger Jahren stammende These auf, der Islam sei ursprünglich eine christliche Sekte gewesen, die erst später zu einer eigenen Religion umgedeutet wurde. Während ihnen von Laien und sogenannten Islamkritikern dafür viel Beifall entgegenschlug, stieß die These in der Fachwelt auf Befremden. Aber ein Gutes hatte sie: Vor dem – selbst durch 9/11 kaum angekratzten – Elfenbeinturm der seriösen Islamwissenschaft erscholl auf einmal unüberhörbar der Ruf: Rapunzel, lass dein Haar herunter!
Und siehe, dieses Haar ist über die Jahre und Jahrzehnte sehr lang geworden. Von der Öffentlichkeit unbemerkt und für den Normalbürger unbezahlbar war bereits in den neunziger Jahren Josef van Ess’ Monumentalstudie „Theologie und Gesellschaft im zweiten und dritten Jahrhundert der Hidschra“ erschienen. Dann präsentierte der Göttinger Emeritus Tilman Nagel im Jahr 2008 eine zweiteilige, 1500 Seiten starke Mohammed-Biographie, den quellengesättigten Versuch, unter dem Gestrüpp der Legenden zur realhistorischen Person des Propheten vorzudringen. Und nun legt Angelika Neuwirth unter dem programmatischen Titel „Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang“ die ersten Ergebnisse der von ihr an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geleiteten Gruppe junger Koranforscher vor.
Diese unterziehen den Koran einem mikroskopisch genauen close reading, das dank eines interdisziplinären Ansatzes und der Forschung im Kollektiv, wie es in den Naturwissenschaften längst üblich ist, etliche neue Wege beschreitet. Der postulierte „europäische Zugang“ bedeutet: Wie würden wir diesen Text, den Koran, lesen, wenn wir ihn losgelöst von seiner weiteren Geschichte betrachten – als Dokument einer religiösen Bewegung der Spätantike, deren weitere Zukunft als Weltreligion im Text selbst noch gar nicht absehbar ist?
Die ungewöhnliche Perspektive zeitigt einen erstaunlichen Effekt. Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Er liest sich dann so, wie ihn die Zeitgenossen verstanden haben müssen: Zwar als Zeugnis intensiver theologischer Auseinandersetzungen auf der arabischen Halbinsel, aber in einem kulturellen und religiösen Umfeld, wie es auch den übrigen Mittelmeerraum im siebten nachchristlichen Jahrhundert prägte – und damit letztlich die europäischen Glaubensvorstellungen bis heute: „Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskursen hervorgegangen ist und sich selbst in jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat (. . .), ist er selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa.“
Diese Lesart taugt wohlgemerkt nur zu einem kleinen Teil dazu, den späteren Islam oder auch nur den heutigen Blick der Muslime auf den Koran zu erklären. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben – von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler.
Lange Zeit ging man davon aus, dass der Islam gleichsam aus dem Nichts entstanden sei, in allenfalls schwacher Reibung mit nicht näher bestimmbaren jüdisch-christlichen, vor allem aber alt-arabisch heidnischen Traditionen. Der Austausch mit dem kulturellen Umfeld war jedoch in Wahrheit sehr intensiv und lässt sich auch zu weiten Teilen nachzeichnen, sofern man den Koran nicht als das fertige Buch liest, als das er uns heute begegnet, sondern vielmehr als Mitschrift der Entstehung einer neuen religiösen Gemeinde. „Nicht ein Autor ist hinter dem Text anzunehmen, sondern eine sich über die gesamte Wirkungszeit des Verkünders hinziehende gemeindliche Diskussion“, fasst Neuwirth den Paradigmenwechsel zusammen.
Anstelle der herkömmlichen Annahme, dass es auf der einen Seite den Verkünder gab, der nach Art eines Autors, entweder von sich aus oder von göttlicher Inspiration geleitet, seine Zuhörer oder Leser mit dem Text konfrontiert, schlägt Neuwirth ein Alternativmodell vor, das sich am Drama orientiert – ein dialogisches Prinzip also, in dem auch Gegenstimmen vernehmbar werden, die wiederum Reaktionen in Form neuer Koranverse hervorriefen. Wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist „aus der einzig vernehmbaren Sprecherrede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird.“
Ein Beispiel dafür bietet die Suren-Einleitung, deren Formel „des Barmherzigen und des Erbarmers“ in westlichen Ohren redundant klingt, wie die Illustration des Klischees vom blumigen Stil der Araber. Aber das ist falsch. Tatsächlich handelt es sich um eine Formulierung in Parallelität – und zugleich in scharfer Abgrenzung – zur bekannten christlichen Anrufung „Im Namen des Vaters, des Sohnes und den Heiligen Geistes“.
Die Basmala ist also weder schlechte Poesie, noch billige Kopie einer christlichen Formel, sondern sie verkündet eine theologische Neuerung: Mit ihr wird die Vorstellung von der Trinität ebenso aufgegeben wie die von Christus als Gottessohn.
Eine weitere einschneidende Erkenntnis Neuwirths ist, dass die heute allen Koranausgaben voranstehende erste Sure, die sogenannte Fatiha, nicht wie der übrige Koran zu den „Offenbarungen“ des Propheten gezählt werden darf. Es ist vielmehr ein nach Art eines Proömium dem Koran vorangestellter Paralleltext.
Eines Besseren belehrt wird auch, wer den Koran bisher für einen Text hielt, der einen zivilisatorischen Rückschritt darstellt und archaische, vom Christentum längst überholte Sitten wieder einführt. Sehr deutlich wird dies an der Funktion des Opfers. Das im Islam bis heute praktizierte Tieropfer ist aus theologischer Sicht alles andere als ein Rückschritt: „Im Koran fehlt – wie man ohne Übertreibung sagen kann – die Idee des Opfers als solche: Denn anders als im biblischen Kontext hat im Koran das Opfer keinerlei sühnende Wirkung.“
Stattdessen ist das islamische Opfer nach Neuwirth ein bloßes, das einstige Tieropfer Abrahams ins Gedächtnis der Gemeinde zurückrufendes Ritual ohne tiefere symbolische oder als Erlösung zu begreifende Funktion. Gleichsam nebenbei zeigt Angelika Neuwirth damit, wie eine intelligente, aus fundiertem Wissen statt aus Vorurteilen geschöpfte Islamkritik – verstanden als Kritik an islamischen Dogmen und Vorurteilen – möglich ist.
Die in diesem Buch vorgelegte Zwischenbilanz der Corpus-Coranicum-Forschungen offenbart aber auch, wo die Grenzen und Probleme eines solchen Projekts liegen. Man kann zum Beispiel davon ausgehen, dass die islamische Orthodoxie mit diesen Forschungen wenig wird anfangen können. Nicht nur dürfte sie kaum daran interessiert sein, ihre Gewissheiten von der westlichen Islamwissenschaft untergraben zu lassen; Neuwirth ist es auch zu sehr um den Entstehungsprozess des Korans und seine Einbettung in die zeitgenössische spätantike Welt zu tun, und was wir hier über die Ursprünge des Korans neu erfahren, ist für die später daraus entstandene, dogmatisch voll ausgebildete Religion in den seltensten Fällen wichtig, denn diese kocht, salopp gesagt, immer ihr eigenes Süppchen. Es verwundert daher nicht, dass die neueren westlichen Koranforschungen in der islamischen Welt kaum wahrgenommen werden, wie Neuwirth selbst bedauernd feststellt. Um in den Dialog auch mit gläubigen Muslimen zu treten, müsste viel stärker aufgezeigt werden, wie sich das orthodoxe muslimische Koranverständnis aus den offenen, dialogischen Anfängen des Korans entwickelt und dann dogmatisch verfestigt hat.
In dem vorliegenden Werk finden sich immerhin einige Beispiele dafür, etwa die Erklärung des Wortes kitâb, zu deutsch „Schrift“ oder „Buch“. Während zur Lebenszeit Mohammeds, angesichts der Herausbildung der neuen Gemeinde, mit dem arabischen Wort kitâb eine Urschrift im Himmel gemeint war und keineswegs der damals ja erst im Entstehen begriffene Koran, schien sich das Wort kitâb für die nachfolgenden Muslime auf den Koran zu beziehen, der damit gemäß dem späteren kanonischen Verständnis selbst zur himmlischen Urschrift wurde, zu einem immer schon fertig vorliegenden, göttlichen „Buch“, dessen Inhalt von Mohammed nur offenbart zu werden brauchte – gemessen an Mohammeds eigener Sicht auf den Koran zwar eine „Verlesung“, die aber aus Sicht der späteren Muslime, für die der Koran fertig vorlag, alles andere als irrational ist.
Von einem solchen Brückenschlag zwischen der orthodoxen Deutung und der neuen Forschung bräuchten wir mehr. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Islam muss das Verständnis dafür wachsen, dass eine Religion nicht nur aus historischen Fakten und nachprüfbaren Texten besteht, obschon sich vor allem der Fundamentalismus immer darauf beruft, sondern eben auch aus Vorstellungen, Phantasien und Wünschen.
Das scheint umso wichtiger, als alle Forschungen zum Frühislam aufgrund der problematischen Quellenlage hochspekulativ sind – die wenigen ältesten Schriftstücke entstanden erst ein halbes Jahrhundert nach Mohammeds Tod (632), die meisten Quellen sind erst hundert Jahre später sicher bezeugt. Am Ende ist eben doch vieles eine Glaubensfrage, so schmerzlich dies aus Sicht des Philologen auch sein mag.
Gleichwohl, die Rapunzel der deutschen Islamwissenschaft hat ihr schönes langes Haar jetzt heruntergelassen. Wir sind beeindruckt und zögern doch: Da sollen wir jetzt hinaufklettern? Ist das nicht ein bisschen zu hoch? Das vorliegende Buch ist zwar in einem Verlag erschienen, der durchaus auch den nicht spezialisierten Leser ansprechen will. Aber dem nicht vorgebildeten Publikum macht es Neuwirth nicht leicht. Gewiss, alle Koranstellen sind übersetzt, die Forschungslage und die Kontexte sind stets, wenngleich stets knapp, erläutert. Doch die mikroskopischen Erörterungen und Interpretationen kleinster Texteinheiten, so spannend sie für den Kenner sind, entziehen sich naturgemäß der Bewertung durch den Laien. So großartig sich die deutsche Islamwissenschaft daher inzwischen wieder präsentiert, im Hinblick auf die Vermittlung ihrer Ergebnisse bleibt auf das Pfingstwunder noch zu hoffen. Sollte es dereinst eintreten, hätte „Der Koran als Text der Spätantike“ das Zeug, die verhärteten Fronten in unseren Islamdebatten ein hübsches Stück weit aufzuweichen. STEFAN WEIDNER
ANGELIKA NEUWIRTH: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang. Verlag der Weltreligionen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 859 Seiten, 39,90 Euro.
Hier wird der Koran von der
späteren Tradition befreit – der
Entstehungsprozess wird sichtbar
Die neuere Koranwissenschaft
wird in den islamischen Ländern
bisher kaum wahrgenommen
Wie bei einem mitgehörten Telefongespräch sollen wir aus der „einzig vernehmbaren Sprecherrede“ auch die Situation mitdenken, in die hinein gesprochen wird. Koran-Manuskript aus dem Jahr 1789, aus Tunesien Foto: Getty Images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2011

Lesarten eines Korans, in dem Europa sich erkennen kann

Frucht der Forschung und intensiver Erfahrungen mit der islamischen Welt: Die Arabistin Angelika Neuwirth verortet den Koran in theologisch aufgeladenen Debatten der Spätantike.

Koranforschung war lange Zeit eine Angelegenheit weniger Orientalisten in ihren Studierstuben. Seit den Terroranschlägen des "11. September" hat sich das geändert. Der Koran hat Konjunktur, auch und gerade bei jenen, die keine Muslime sind, aber verstehen wollen, was der Islam ist, wie er entstand und was er eigentlich lehrt. Der Absatz von Koranübersetzungen steigt, viele Bürger lesen ihn nun in Übersetzungen "aus heiterem Himmel" und sind ob der Dinge, die sie darin finden, häufig verstört.

Eine unvorbereitete Lektüre des Korans ist ziemlich problematisch, daraus zu zitieren, ohne Zusammenhänge zu kennen, ebenfalls. Wer das tut, folgt ungewollt der unhinterfragten Lektüre radikaler Muslime, die allein dem Buchstaben folgen wollen, so als sei das Gesagte auch immer (und noch heute) das Gemeinte oder müsse es wenigstens sein. Vertreter der Islamkritik "bedienen" sich häufig unkritisch diverser Koranverse, doch ebenso die Verherrlicher des Islam, die Islamophilen.

Auch die professionelle Koranforschung, die lange Zeit in Deutschland ziemlich brachgelegen hatte, hat an Intensität wieder zugenommen. Lange waren Rudi Parets Koranübersetzung mit Konkordanz aus den sechziger Jahren, dazu die Arbeiten dieses Gelehrten über Muhammad und seine Welt so etwas wie das vorläufig letzte Wort gewesen. Doch die aktuellen, von Terrorismus und Kriegen mitgeprägten politischen Ereignisse haben auch die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wieder stärker auf Inhalt wie Entstehungsgeschichte des Korans gelenkt.

Deutschland kann da an eine Tradition anknüpfen, die im 19. Jahrhundert und vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war, dann aber leider abrupt abbrach: Gelehrte wie Abraham Geiger, Theodor Nöldeke, Friedrich Schwally, Karl Wollers, Julius Wellhausen und andere hatten sich philologisch und theologisch in den Korantext und seine sprachlichen, religionsgeschichtlichen und theologischen Schichten verbissen.

Angelika Neuwirth, Religionswissenschaftlerin und Arabistin aus Berlin, kennt den Koran nicht nur durch ihre intensiven Forschungen, sondern auch die Muslime und ihre aus dem Koran gespeiste Lebenswelt aus eigener Anschauung, sprich deren koranische Orthopraxie. Viele Jahre hat sie selbst unter Muslimen verbracht, unter anderem als Direktorin des Orientinstituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. Und sie leitet das Projekt Corpus Coranicum.

Auf mehr als achthundert Seiten versucht die Forscherin in ihrem neuen Buch über den "Koran als Text der Spätantike" auch einen neuen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Europäer lesen es, zumal als Christen, natürlich vor allem als die Gründungsurkunde einer konkurrierenden Religion, des Islam, die beansprucht, die religiösen Lehren von Judentum und Christentum zu verbessern und zu vollenden - vielleicht "aufzuheben" im Sinne Hegels. Nicht allein der Islam, sondern erst recht der Koran erscheint da als das "ganz andere", Fremde und - nicht zuletzt unter dem Einfluss des Terrorismus und fundamentalistischer Auslegungen - Bedrohliche. Dagegen sucht die Autorin auch inhaltlich einen "europäischen Zugang" zu diesem schwierigen Buch, dessen 114 Suren alleine der Länge nach aneinandergereiht sind.

Sie gibt einen Überblick über Geschichte und Stand der (westlichen) Koranforschung. Dem affirmativen, traditionellen Verständnis der Muslime, die lineare, auf wenige Jahre komprimierte Entstehungsgeschichte des Koran eingeschlossen, haben westliche Koranforscher zum Teil erheblich abweichende Deutungen und Variationen entgegengesetzt. Die angelsächsischen "Revisionisten" der Koranforschung (John Wansbrough, Patricia Crone, Michael Cook) kamen zu dem Ergebnis, in seiner vollständigen Gestalt habe der Koran erst etwa zweihundert Jahre nach dem Propheten vorgelegen, und er sei auch nicht im Hedschas, der Heimat Mohammeds, entstanden, sondern in Mesopotamien (Irak) oder in Palästina.

Zumindest in Teilen ist der Koran älter als der Prophet, lautet hingegen der Befund Günter Lülings, der vor mehr als vierzig Jahren mit seinem Werk über den Ur-Koran hervortrat, über dessen brisanten Inhalt - es handle sich ursprünglich um christliche Strophenlieder - aber seine akademische Karriere zu Bruch ging. Diese Spur wird im Buch nicht weiterverfolgt, auch nicht die Entdeckungen Lülings über die "Kaaba als Kirche".

Die aus der Geschichte der Religionskritik hinlänglich bekannte Behauptung, der jeweilige Religionsstifter habe gar nicht gelebt, sondern sei eine erfundene Symbolfigur, ist in jüngster Zeit auch wieder auf Mohammed übertragen worden. Von solcherlei Spekulationen, die auch aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts bekannt sind, ist, wie die Autorin im Hauptteil ihres Buches anhand einer Analyse zeigt, die sprachliche, religionsgeschichtliche und gemeindebildende Elemente umfasst, nichts zu halten. Ohne Zweifel hat auch die Luxenberg-Debatte dazu beigetragen, den Forschungsgegenstand wieder in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Über das Syrisch-Aramäische hatte der Semitist Christoph Luxenberg - der Name ist pseudonym - versucht, unklare Stellen im Koran neu zu lesen und dabei wieder christliche Kontexte herzustellen.

Die folgenden Kapitel sind in detaillierter Weise der Textgeschichte des Korans gewidmet. Das Wechselspiel von Kultentwicklung und Gemeindebildung in frühmekkanischer, mittelmekkanischer, medinensischer und wieder spätmekkanischer Zeit - also die Spanne zwischen etwa 610 n. Chr. und dem Tod des Propheten 632 - lässt sich an zahlreichen Versen des Korans exemplifizieren, auch die Beziehung auf jüdische und christliche Vorbilder, Fragestellungen und Diskussionen. Hier finden teilweise religionsgeschichtliche und textliche Bohrungen statt, die manchen interessierten Laien wahrscheinlich überfordern dürften. Noah, Abraham und Moses werden anschließend als biblisch-koranische Figuren des Monotheismus vorgestellt, ihre speziell koranische Entwicklung zu jenem Bild nachgezeichnet, das die Muslime von ihnen haben.

In den letzten vier Kapiteln erfährt man vieles über die koranische Rhetorik und über das (ambivalente) Verhältnis zwischen dem Koran und der arabischen Poesie (die zu den Fachgebieten der Autorin gehört). Bis heute sind Beziehungen zwischen der altarabischen Poesie und den sprachlichen Mitteln des Korans kaum erforscht worden. Dass der Koran auch ein poetischer Text ist - obwohl die Dichter dem Propheten Mohammed der Überlieferung nach nicht immer geheuer waren -, wusste ja schon Friedrich Rückert, dessen Übertragung versuchte, der Ästhetik des Korans gerecht zu werden. Seit alters her bedeutet das ästhetische Element den Muslimen viel mehr, als den Fundamentalisten mit ihrer Verengung auf das rein Diskursive recht sein kann. Dies gilt ja auch für die spirituelle Ebene, die vor allem den Sufis später so wichtig wurde. Das - sattsam bekannte, auch den kundigen Muslimen vertraute - Verhältnis zwischen Bibel und Koran erweist sich in den Augen der Autorin mehr als bisher vermutet als ein Ineinander von Überlieferungen und innerhalb spätantiker Diskussionen und Debatten geprägten theologischen Vorstellungen denn als losgelöste oder abgetrennte Textsphäre, die alleine für sich stünde.

Der Koran soll so als ein Text angesehen werden, der auch für Europa von essentieller Bedeutung ist. An diesem Punkt wird angesichts der Debatten, die gegenwärtig über den Islam, Islamophobie, Islamkritik, den Euro-Islam und den Islamismus geführt werden, gewiss auch mancher Widerspruch einsetzen.

WOLFGANG GÜNTER LERCH

Angelika Neuwirth: "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.

Verlag der Weltreligionen im Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 859 S., geb., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Durchaus kritisch hat Tilman Nagel diese große Untersuchung über den "Koran als Text der Spätantike" der Arabistin Angelika Neuwirth gelesen. Erhellend findet er die Ausführungen über die Redaktions- und Textgeschichte des Koran, über Kultentwicklung und Gemeindebildung, die sich im Koran widerspiegeln, über das Verhältnis von Koran und Bibel, den koranischen Blick auf die Poesie und die koranische Rhetorik. Dass es der Autorin um einen "europäischen Zugang zum Koran" geht, kann Nagel nachvollziehen. Neuwirths Behauptung, der Koran habe sich in einen "orientalisch-europäischen Text" verwandelt, der an der Entstehung des späteren Europa beteiligt war, betrachtet er indes sehr skeptisch, da ein Text nicht schon deshalb "europäisch" sei, weil er auf Judentum und Christentum Bezug nehme. Neuwirths Versuch, den Koran einzugemeinden, wirkt auf den Rezensenten recht "aufgesetzt". Die These einer latenten Verbindung Europas zum Koran kann die Autorin in diesem Buch für ihn jedenfalls nicht plausibel machen.

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»Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben - von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler.« Stefan Weidner Deutschlandfunk Kultur 20110106