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»Das geteilte Bild«: Unter diesem Stichwort untersucht André Gunthert die Umbrüche, von denen die Ästhetik sowie der Gebrauch und die Konzeption der Fotografie im Zeitalter der Digitalisierung bestimmt sind. Im Fokus stehen dabei sowohl die netzbasierten Formen fotografischer Praxis als auch die damit verbundenen Formate (Selfie), Praktiken (Sharing) und Phänomene (Netzjournalismus).Das »geteilte Bild«, zentrales Konzept in den Schriften des Bild- und Fototheoretikers Gunthert, ist das distribuierte, verlinkte Bild, aber auch das Bild, das nicht eins ist, weil es aus ganz unterschiedlichen…mehr

Produktbeschreibung
»Das geteilte Bild«: Unter diesem Stichwort untersucht André Gunthert die Umbrüche, von denen die Ästhetik sowie der Gebrauch und die Konzeption der Fotografie im Zeitalter der Digitalisierung bestimmt sind. Im Fokus stehen dabei sowohl die netzbasierten Formen fotografischer Praxis als auch die damit verbundenen Formate (Selfie), Praktiken (Sharing) und Phänomene (Netzjournalismus).Das »geteilte Bild«, zentrales Konzept in den Schriften des Bild- und Fototheoretikers Gunthert, ist das distribuierte, verlinkte Bild, aber auch das Bild, das nicht eins ist, weil es aus ganz unterschiedlichen Daten besteht. Es ist außerdem das Bild, das als Dokument einer de-professionalisierten Fotografie die traditionellen Konzeptionen fotografischer Autorschaft herausfordert, zumal netzbasierte Kommentare und Kontexte sowie die Einbettung in wechselnde digitale Umgebungen wesentlich Einfluss auf seine Wahrnehmung haben.Die Fotografie unter den Bedingungen der Digitalisierung begreifen, ist ein Projekt, dem Gunthert in seinen Essays eine doppelte Bedeutung gegeben hat. Zum einen: eine Theorie der Fotografie aus der Perspektive des Beobachters zu (re)formulieren, der Verschiebungen innerhalb der fotografischen Praxis nicht retrospektiv evaluiert, sondern sie kommentiert, noch während sie sich ereignen. Zum anderen: das Schreiben über die digitalen Erscheinungs- und Gebrauchsweisen der Fotografie den Bedingungen des Digitalen anzupassen, in der »kleinen Form« der Kolumne oder des Blogs zu publizieren, sich als Chronist von laufenden Umbrüchen und Zäsuren zu begreifen, der in steter Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Medienkultur agiert.Das Buch macht die wichtigsten Essays Guntherts zum ersten Mal in deutscher Übersetzung zugänglich und dokumentiert die entscheidenden Entwicklungen, die das Nachdenken über Fotografie seit den 1990er Jahren bestimmt haben.
Autorenporträt
André Gunthert ist Professor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris und arbeitet zur Geschichte der Fotografie. Die visuelle Kultur und die soziale Funktion von Bildern im digitalen Zeitalter bilden einen Schwerpunkt seiner Forschungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2019

Wir sind alle Touristen des Alltäglichen

Zirkulieren ist alles: André Gunthert und Nathan Jurgenson machen sich Gedanken über das Fotografieren in Zeiten von sozialen Medien.

Als Martin Heidegger im Frühjahr 1962 zum ersten Mal die Tempelruinen von Delos besuchte, mischte sich in die Begeisterung über den Aufenthalt im Land der Griechen auch Ernüchterung angesichts der unübersehbaren Zeichen der Gegenwart. "Überall photographierende Leute", notiert Heidegger ins Reisejournal. "Sie werfen ihr Gedächtnis weg in das technisch hergestellte Bild. Sie verzichten ahnungslos auf das ungekannte Fest des Denkens." Wenige Jahre zuvor hatte auch Günther Anders seinen Unmut über die Unfähigkeit zum unmittelbaren Erleben am Beispiel der fotografierenden Touristen formuliert. "Wirklich" sei für diese nicht das in der Fremde Gesehene, sondern einzig dessen fotografisches Abbild - das zum "Eigentum gewordene Exemplar der Reproduktions-Serie".

Gemessen an der heutigen Praxis digitaler Bildproduktion wirkt die von Heidegger und Anders kritisierte Bildpraxis geradezu archaisch. Erst Tage nach der Rückkehr war daran zu denken, die im Labor entwickelten Urlaubsfotos in Augenschein zu nehmen, danach verblieben sie als Papierabzüge im privaten Fotoalbum. Vor allem aber hatte der Apparat, der die Bilder hervorbrachte, nur diese eine, spezifische Funktion des Bildermachens, während das heutige Fotografieren mit dem Smartphone das digitale Foto von Anfang an in den größeren Zusammenhang der elektronischen Kommunikation einspeist.

Zwei Neuerscheinungen fragen danach, wie diese medialen Veränderungen Bedeutung und Funktion des fotografischen Bildes verändert haben. Die eine stammt von dem französischen Kulturhistoriker André Gunthert, einem genauen Kenner der Fotografiegeschichte und Mitbegründer der renommierten Zeitschrift "Études photographiques". Zu Recht erinnert Gunthert daran, dass das vielfach prophezeite Ende der Fotografie als Dokument und Zeugnis bis heute ausgeblieben ist. "Wenngleich alle unsere Bilder inzwischen aus Pixeln zusammengesetzt sind, hören wir dennoch nicht auf, unsere Zeitungen aufzuschlagen, unsere Fernseher einzuschalten und den Informationen, die sie liefern, Vertrauen zu schenken." Möglichkeiten der Manipulation gab es auch vor der Digitalisierung schon, zudem sind sie kein exklusives Merkmal der Bilder: auch mit den Mitteln der Sprache lässt sich bekanntlich vortrefflich lügen.

Die radikalen Umbrüche der Digitalisierung sieht Gunthert hingegen in den ungeahnten Möglichkeiten ihrer öffentlichen Zirkulation. Das Mobiltelefon "verwandelt jeden von uns in einen Touristen des Alltäglichen". Auf dieser Grundlage formuliert Gunthert eine Reihe interessanter Beobachtungen, etwa zur Verbreitung von Nachrichtenbildern durch Amateure, die an den Schauplätzen politischer Ereignisse mit ihren Smartphones meist schon präsent sind, bevor die professionellen Fotografen eintreffen. Gunthert schlägt vor, die Zirkulation der Amateurbilder in den sozialen Netzwerken nicht als Krise, sondern als Möglichkeit zur Diversifizierung der klassischen Bildberichterstattung zu begreifen. Im Verlauf der Lektüre stellen sich allerdings auch Irritationen ein. Sie haben vor allem damit zu tun, dass es sich um eine Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 2004 bis 2015 handelt. Ihr identischer Wiederabdruck dokumentiert das rasche Altern der Texte: Wer wie Gunthert an der vordersten Front der medialen Entwicklung schreiben will, muss mit diesem schnellen Veralten seiner Beschreibungen rechnen. Das neueste Mobiltelefon aus dem Jahr 2007 wirkt heute so historisch wie ein Herren-Klappzylinder. Tatsächlich teilen technologische Innovationen das Schicksal des Veraltens mit den Erscheinungsweisen der Mode. "Als Mode", so Niklas Luhmann, "kann man viel wagen, weil man nicht auf Dauer spekulieren muss."

Dieses Wagnis wird zur Herausforderung, wenn man die jeweils aktuellen Beobachtungen später dann doch auf Dauer stellen will, nämlich in der klassischen Form eines gedruckten Buches. Ohne eine historisch-kritische Relektüre wiederholt das "Logbuch einer Erfahrung" (Gunthert) lediglich das traditionelle Narrativ von permanentem Fortschritt und technischer Innovation. Einen Leser des Jahres 2019 irritiert auch, das an keiner Stelle vom längst diskutierten Überwachungpotential sozialer Netzwerke oder der Schwierigkeit des Löschens von Bilddaten die Rede ist. Nach Gunthert leben wir zum ersten Mal in der Geschichte in einer "Republik der Bilder", in der "radikale Egalität", "offene und kumulative Interaktion" herrschen.

Die Verheißungen von Dialog, Kommunikation und Teilhabe sind hier so sehr zum Selbstzweck geworden, dass über Inhalte offenbar kaum mehr gesprochen werden muss. Was für Gunthert beispielsweise als undemokratisches "Privileg" journalistischer Arbeit gegenüber der Bilder- und Nachrichtenzirkulation in den sozialen Netzwerken gilt, lässt sich auch anders beschreiben: als Sachkenntnis, von der man eben mehr oder weniger besitzen kann.

Auch die zweite Neuerscheinung, "The Social Photo" von Nathan Jurgenson, hinterlässt ein ambivalentes Bild. Ein durchdachter Begriff des Sozialen ist dem Buch nicht zu entnehmen, eher handelt es sich um Erfahrungsberichte über den eigenen Mediengebrauch mit eingestreuten Theorie-Versatzstücken. Leser, die es nicht gewohnt sind, täglich ein Selfie zu posten oder im Restaurant ihre Mahlzeiten vor dem Verzehr zu fotografieren, werden sich nicht immer in die Lebenswelt des Autors finden können.

Interessant ist Jurgensons These, dass der Kritik an der digitalen Bilderflut ein ungeklärtes Verständnis davon zugrunde liegt, was denn stattdessen als authentisches, nicht medial vermitteltes Erleben gelten soll. "Es gab und gibt kein Offline", so der Autor. Leider wird aber auch dieser Gedanke nicht ausgeführt. Es ist nur konsequent, dass Jurgenson in seinem Buch auf Abbildungen gleich ganz verzichtet: Wenn der eigentliche Wert eines Bildes heute darin besteht, mit anderen geteilt werden zu können, kommt es offenbar nicht länger darauf an, Bilder analytisch zu betrachten, sondern einzig darauf, wo und wie sie zirkulieren.

Für beide Bücher hätte man sich eine größere reflexive Distanz zum Gegenstand gewünscht - im Sinne der Einsicht Giorgio Agambens, dass Zeitgenossenschaft kein Synonym für Distanzlosigkeit ist.

PETER GEIMER.

André Gunthert: "Das geteilte Bild". Essays zur digitalen Fotografie.

Aus dem Französischen von Stefanie Diekmann. Konstanz University Press, Göttingen 2019.

172 S., geb., 22,- [Euro].

Nathan Jurgenson: "The Social Photo".

On Photography and Social Media.

Verso, London/New York 2019. 135 S., br., 14,70 [Euro].

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»überaus anregend und fundiert« (Anton Holzer, Wiener Zeitung, 24./25.08.2019) »Lesenswert!« (Fotogeschichte 154/2019) »ein absolut lesenswertes wie erhellendes historisches Dokument« (Katja Gunkel, MEDIENwissenschaft, 02-03/2020)