79,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Deutsche Ordnungspolizisten wirkten am Judenmord in Polen in unvorstellbarem Maße mit. Neben SS und Hilfswilligen in den Vernichtungslagern stellte die deutsche Ordnungspolizei zwar nicht bei der Initiierung und Leitung, wohl aber bei der Durchführung des Judenmords das entscheidende Instrument dar.Etwa 30.000 Polizisten führten Erschießungen durch oder sicherten sie ab, trieben die Juden zu den Deportationszügen und bewachten sie auf dem Weg in die Vernichtungslager. In Chelmno beteiligten sich Polizeibeamte an der Ermordung von 152.000 Juden in Gaswagen. Polizisten riegelten die Ghettos…mehr

Produktbeschreibung
Deutsche Ordnungspolizisten wirkten am Judenmord in Polen in unvorstellbarem Maße mit. Neben SS und Hilfswilligen in den Vernichtungslagern stellte die deutsche Ordnungspolizei zwar nicht bei der Initiierung und Leitung, wohl aber bei der Durchführung des Judenmords das entscheidende Instrument dar.Etwa 30.000 Polizisten führten Erschießungen durch oder sicherten sie ab, trieben die Juden zu den Deportationszügen und bewachten sie auf dem Weg in die Vernichtungslager. In Chelmno beteiligten sich Polizeibeamte an der Ermordung von 152.000 Juden in Gaswagen. Polizisten riegelten die Ghettos hermetisch ab, so dass Juden durch Hunger, Kälte und Krankheiten ums Leben kamen. Polizisten sicherten ferner die Transporte aus einem Dutzend Ländern Europas in die Vernichtungslager in Polen, wo von diesen Deportierten etwa 630.000 sofort in den Gaskammern getötet wurden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011

Grausamkeit durch Gruppendruck

Früherer Justizsenator dokumentiert die Mordtaten deutscher Ordnungspolizisten im besetzten Polen.

Von Michael Wildt

Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg begann in Polen. Schon im Herbst 1939 folgten den Armeegruppen die Einsatzkommandos von SS und Polizei, die zusammen mit einheimischen Milizen - dem "Volksdeutschen Selbstschutz" - Tausende von Polen und Juden umbrachten. Die polnische Elite, so drückte es Reinhard Heydrich aus, sollte "so gut wie möglich unschädlich gemacht" werden. Der polnische Historiker Bogdan Musial schätzt, dass bis zum Jahresende 1939 weit mehr als 45 000 polnische Zivilisten getötet wurden, darunter etwa 7000 Juden. In Ostpolen, das aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes von der Sowjetunion besetzt wurde, war die stalinistische Polizei gleichermaßen bestrebt, die polnische Führungsschicht zu vernichten. Ebenso wie im von Deutschland besetzten Polen wurden Hunderttausende deportiert, das polnische Offizierskorps, das sich vor dem deutschen Angriff in die Sowjetunion zu retten geglaubt hatte, verhaftet. 15 000 polnische Offiziere wurden im Frühjahr 1940, unter anderem im Wald von Katyn, vom NKWD erschossen.

Am Krieg gegen die polnische Bevölkerung waren deutsche "grüne" Ordnungspolizisten in einem hohen Maß beteiligt. In den ersten Kriegstagen waren bereits 12 Polizeibataillone im Einsatz, im Laufe der nächsten Monate richtete man den Einzeldienst mit 103 Offizieren und über 5800 deutschen Polizisten ein. Spätestens seit dem wichtigen Buch von Christopher Browning über die "ganz normalen Männer", das die Mordtaten des Polizeibataillons 101 im besetzten Polen schilderte, ist die wichtige Rolle der Ordnungspolizei im Holocaust bekannt.

Der Rechtsanwalt und ehemalige Hamburger Justizsenator Wolfgang Curilla, der schon vor einigen Jahren eine akribische Untersuchung der Ordnungspolizei in den besetzten sowjetischen Gebieten vorlegte, hat in einem umfangreichen Buch mit immenser Präzision den Massenmord der deutschen Ordnungspolizei an den polnischen Juden recherchiert und aufgezeichnet. Wo immer man dieses Buch aufschlägt, sind die nüchternen Auflistungen der Mordtaten übermächtig. Kaum eine Razzia, Gettoräumung, eine Jagd auf geflüchtete Juden, die versuchten, sich in den Wäldern in Sicherheit zu bringen, an denen Ordnungspolizisten nicht beteiligt gewesen wären. Sie begleiteten die Transporte in die Vernichtungslager nach Treblinka, Sobibór, Belzec und Auschwitz, bewachten Zwangsarbeitslager, erschossen Juden auf offener Straße, wie es ein entsprechender Schießbefehl des Befehlshabers der Ordnungspolizei im Generalgouvernement, dem unter deutscher Besatzungsherrschaft stehenden Zentralpolen, aus dem November 1941 anwies: Alle Juden, die außerhalb der Gettos oder Kleinstädte angetroffen würden, seien zu exekutieren.

Das Buch ist keines, das man von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen kann. Es ist vielmehr ein Nachschlagewerk, ein Handbuch des Grauens, das, gegliedert nach den jeweiligen Einheiten der Ordnungspolizei, exakt Daten, Orte, Opferzahlen, Geschehnisse nennt. Neben den Mordzahlen, die in die Tausende gingen, sind es indes vor allem die Einzeltaten, die Grausamkeit und Willkür hervortreten lassen. So wollte sich zum Beispiel in Kielce im Sommer 1942 ein Jude am Getto-Tor einer jüdischen Arbeitsgruppe anschließen, die auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle außerhalb des Gettos war. Dies merkten die deutschen Schutzpolizisten. Sie schrien: "Halt!" und riefen den jüdischen Leiter der Arbeitskolonne zu sich, schlugen ihm mit der Pistole die Zähne aus und herrschten ihn an, wenn er so etwas noch einmal mache, werde er erschossen. Der jüdische Mann, der sich der Arbeitskolonne hatte anschließen wollen, wurde auf der Stelle getötet.

Im November 1942 erhielt die Gendarmeriestation in Losice im Distrikt Warschau die Meldung, dass sich im nahe gelegenen Wald Juden versteckt hielten. Sie fuhren sogleich heraus, fanden eine Erdhöhle und warfen Handgranaten hinein. Als die verletzten, überlebenden Juden, meist Jugendliche aus dem Getto von Losice, aus dem Erdloch herauskrochen, wurden sie sofort von den Gendarmen erschossen. Deutsche Polizisten in Kolbuszowa, Distrikt Krakau, töteten 1942 zwei kranke Juden, die auf dem Weg zu einem Krankenhaus waren, und einen geistig behinderten Jungen, von dem die Polizisten annahmen, dass er ein Jude sei. Im Januar 1943 erschoss ein deutscher Gendarm in Sadowne, Distrikt Warschau, eine jüdische Frau und drei Polen, weil diese angeblich der Jüdin Brot verkauft hätten.

Der Autor hat für seine immense Recherche nicht nur die entsprechende, zumeist deutsche, Forschungsliteratur sowie Quelleneditionen durchgesehen, sondern auch die bundesdeutschen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ausgewertet, in denen ehemalige Ordnungspolizisten beschuldigt beziehungsweise angeklagt waren. Allein die Liste der Urteile, Anklageschriften bis hin zu Einstellungsverfügungen umfasst im Buch 20 Seiten. Dennoch gibt er zum Schluss zu bedenken, dass damit vermutlich nicht alle Morde der Ordnungspolizei in Polen erfasst sind, zumal Curilla nur die getöteten polnischen Juden berücksichtigt hat. Die ermordeten nicht-jüdischen Polen, Roma und Sinti, sowjetische Kriegsgefangenen sowie kranke und behinderte Menschen wurden nicht erfasst.

Die Opferzahlen kulminieren im Schlusskapitel, das schlicht mit "Quantifizierung" überschrieben ist. An dem Mord an über 1,7 Millionen polnischen Juden war die deutsche Ordnungspolizei beteiligt, was einem Anteil von neunzig Prozent entspricht. Die Ordnungspolizei, resümiert Curilla, stellte somit einen wichtigen und unverzichtbaren Teil der nationalsozialistischen Mordmaschinerie dar. Etliche deutsche Ordnungspolizisten wurden nach dem Krieg an Polen ausgeliefert und dort abgeurteilt. Auch in der DDR gab es mehrere Prozesse gegen Polizisten mit hohen Freiheitsstrafen. Milder dagegen fielen die Urteile in den bundesdeutschen Prozessen aus, die meist erst in den sechziger und siebziger Jahren stattfanden. Hier listet Curilla leider nur Einzelfälle auf und verzichtet auf eine vergleichende, quantifizierende Betrachtung, die Aufschluss über die unterschiedlichen Rechtspraxen gegeben hätte.

Am Ende wendet sich er noch einmal den möglichen Motiven zu. Es findet sich ein Abschnitt über jene Ordnungspolizisten, die sich weigerten, wehrlose Zivilisten, Männer, Frauen, auch Kinder zu erschießen. Disziplinarisch geschah ihnen nichts, aber sie mussten sich Vorwürfe ihrer Kameraden anhören, dass sie Feiglinge seien und die übrige Truppe im Stich ließen. Damit bestätigt sich die These von Christopher Browning, der weniger einer Mord-Willigkeit als vielmehr ebenjenem Gruppendruck einen hohen Stellenwert einräumte, wenn es um die Bereitschaft zum Töten ging. Curilla bleibt auch in den analytischen Schlusspassagen eher ein Chronist, der die Geschehnisse und die Akteure festhält, aber wenig verallgemeinert und Zusammenhänge herstellt. Doch trotz dieses Vorbehalts stellt sein Buch eine ganz außergewöhnliche Forschungsleistung dar. Seine Dokumentation wird ein unverzichtbares Hilfsmittel für die Geschichtsschreibung werden.

Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945.

Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2011. 1035 S., 58,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr