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Erwin schläft und schläft und kann kaum mehr erwachen. Es ist das Jahr 1946, und der jüdische Junge, der mit knapper Not überlebte, treibt ziellos durch Europa, auf Zügen, Pferdekarren, stets vor sich hin dämmernd. Denn der Schlaf hält in Erwin das Verlorene lebendig: die grüne, heimatliche Bukowina, die geliebte Mutter, den Vater, der nebenher Romane schrieb. Nach Station in einem Flüchtlingslager bei Neapel und einer abenteuerlichen Schiffspassage findet Erwin sich in Palästina wieder. Der Kibbuz soll den Siebzehnjährigen zum zukunftsfrohen «neuen Juden» erziehen - aber die Fremdheit…mehr

Produktbeschreibung
Erwin schläft und schläft und kann kaum mehr erwachen. Es ist das Jahr 1946, und der jüdische Junge, der mit knapper Not überlebte, treibt ziellos durch Europa, auf Zügen, Pferdekarren, stets vor sich hin dämmernd. Denn der Schlaf hält in Erwin das Verlorene lebendig: die grüne, heimatliche Bukowina, die geliebte Mutter, den Vater, der nebenher Romane schrieb. Nach Station in einem Flüchtlingslager bei Neapel und einer abenteuerlichen Schiffspassage findet Erwin sich in Palästina wieder. Der Kibbuz soll den Siebzehnjährigen zum zukunftsfrohen «neuen Juden» erziehen - aber die Fremdheit schmerzt ihn nur umso mehr. Da wird Erwin schwer verletzt. Im Hospital obsiegt wieder der Schlaf - vorerst. Denn genesend liest Erwin die Bibel und lernt, mit den Worten ringend, Hebräisch. Die heilige Sprache seiner Väter zeigt ihm endlich einen Weg, das in Schlaf, Traum und Erinnerung Bewahrte zu retten: Unter neuem Namen beginnt Aharon zu schreiben, und erzählend lässt er die entschwundene Welt in der neuen, uralten Sprache wiedererstehen ...
Mit zärtlicher Kraft schildert Aharon Appelfelds autobiographischer Roman ein Erwachen im neuen Leben, inmitten der Wirren von Flucht und Emigration. Nach «Geschichte eines Lebens» das wohl persönlichste Buch des großen Erzählers.
Autorenporträt
Aharon Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz geboren, er starb 2018 bei Tel Aviv. Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Ku¿chenjunge der Roten Armee u¿berlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor fu¿r Literatur. Seine Romane und Erinnerungen, unter anderem mit dem Prix Me¿dicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet, sind in mehr als fu¿nfunddreißig Sprachen erschienen, auf Deutsch zuletzt «Meine Eltern».
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.02.2012

Eine neue Sprache für das neue Land
Aharon Appelfelds neuer Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“
Als der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld am 16. Februar 1932 in Czernowitz in der Bukowina geboren wurde, erhielt er nicht den Namen Aharon, sondern Erwin. Als Kind wurde er nach der Ermordung der Mutter mit dem Vater deportiert, kam in ein Arbeitslager in Transnistrien, dem er allein entfloh, war als Janek Handlager von Schmugglern, ehe er sich nach Süditalien durchschlug, dort von einer zionistischen Jugendbewegung trainiert wurde und aus dem Durchgangslager per Schiff nach Palästina gelangte, noch ehe dort der Staat Israel gegründet wurde.
Die Namen haften nicht fest an den Figuren in Appelfeld Werk, so wie sie an ihm selbst nicht fest gehaftet haben. In seiner Autobiographie „Geschichte eines Lebens“ (2005) blickt er auf den Jungen Erwin zurück, im Roman „Tzili“ hat er Abenteuer, wie er sie beim Sich-Durchschlagen als Janek erlebte, einem gleichaltrigen Mädchen zugeschrieben. Viele Bücher hat er seit seinem Debüt in den frühen 1960er Jahren geschrieben, oft wird darin die Brücke zurück von Israel in die osteuropäische Herkunftswelt geschlagen, manchmal auch stehen in Israel die Nachgeborenen ratlos vor der Stummheit ihrer Eltern, die der Vernichtung entkommen sind.
In seinem jüngsten Roman „Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen“, der im Original im Jahr 2010 und nun bei uns kurz vor seinem 80. Geburtstag erschienen ist, knüpft Aharon Appelfeld im Stoff wie im Ton an manches Vorgängerbuch an. Aber so konsequent wie hier hat er kaum anderswo ein zentrales Element seiner Autorschaft in den Mittelpunkt einer Handlung gerückt, die nur dazu da ist, das Porträt des Autors als junger Mann zu rahmen: den Wechsel der Sprache, der mit der Verwandlung des aus Czernowitz gebürtigen Erwin in Aharon, den „Mund des Moses“, kurz nach der Ankunft in „Erez Israel“ verbunden ist.
Der Mann, der dem Roman seinen Titel gibt, ist gar kein Mann, sondern ein Jugendlicher, der zu Beginn gerade 16 ist und mit seinen Generationsgefährten im Hachschara-Kurs zwei Ausbildungen zugleich absolviert: einen Crashkurs in Hebräisch ohne Bücher und Grammatik und ein anspruchsvolles Muskeltraining.
Das ist nicht nur eine Parallelaktion, die Sprache und Körper der Jugendlichen zugleich erfasst, es ist eine Koppelung der beiden Ziele, die erreicht werden sollen. Das Hebräische wird vom Ausbilder Efrajim nicht als die alte Sprache der Bibel und des Talmud gelehrt, sondern als das moderne, wiederentdeckte und neu erfundene Hebräisch des zu gründenden Staates. Sie ist auf die Erde bezogen, die mit Spaten und Rechen kultiviert werden soll: Sprache des Muskeljuden, der alle Schwäche des Exils und der Dekadenz hinter sich lässt.
Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, ist nicht nur kein Mann. Er ist auch nicht der Träumer, als den ihn Aharon Appelfeld dem Leser vorstellt. Gewiss, er kann das gelobte Land nur erreichen, weil ihn, den ständig Müden, ständig Schlafenden mitleidige Flüchtlinge nach Neapel geschleppt haben. Und nahezu Nacht für Nacht hält er Zwiesprache mit der Mutter und dem Vater, die er verloren hat. Aber dieser Schlaf ist nur ein bequemes Mittel des Erzählers, den Aufbruch des angehenden Schriftstellers nach Palästina und seine Teilnahme am militärischen Kampf für die Gründung des Staates Israel mit Erinnerungen an die Herkunftswelt zu durchsetzen.
Und der Autor Aharon Appelfeld kann den Schlaf und die Träume seines Helden so unbekümmert um allen psychologischen Realismus herbeirufen und mit überaus klaren Dialogen füllen, weil dieser Held dem alten Gesetz der Legende untersteht, nicht dem des modernen Romans. Diese Legende handelt vom Verlust der Muttersprache, des Deutschen, an dessen Stelle aber gerade nicht das Hebräische der Muskeljuden tritt, sondern das der Bibel, des großen Erzählers Samuel Josef Agnon und – Franz Kafkas.
Was dem Vater des jungen Erwin, der zeitlebens erfolglos an seinen Manuskripten arbeitete, im Deutschen nicht gelang, das gelingt am Ende dem zu Aharon gewordenen Sohn im Hebräischen: ein Schriftsteller zu werden, der den „ruhigen Ton“ der alten Erzählungen erneuert, in die Moderne rettet. Muss man hinzufügen, dass zu dieser Legende auch die Wunderheilung des im Kampf Verletzten gehört, als er die neue, alte Sprache ganz in sich aufgenommen hat?
LOTHAR MÜLLER
AHARON APPELFELD: Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012. 285 Seiten, 19,95 Euro.
Der Crashkurs in Hebräisch und
das Training des „Muskeljuden“
– eine Parallelaktion
Aharon Appelfeld, 1932 in der Nähe von Czernowitz, damals Rumänien, geboren. Foto: Ulf Andersen/Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2012

Die Geschichte vom schlafenden Jungen

Die Werke von Aharon Appelfeld kreisen immer wieder um die Frage, warum man Geschichte nicht zurücklassen kann. Das neueste Buch des israelischen Autors, der heute achtzig wird, ist wohl sein schönster und sein sanftester Roman.

Wie lebt einer mit den erlebten Schrecken, deren Wirklichkeit er nicht erinnern kann? Wohin wirken diese Ereignisse weiter? Kann man sie bannen? Und wie erzählen, was man nicht begreift? Der Protagonist des jüngsten Romans von Aharon Appelfeld befindet sich 1946, zu Beginn der Handlung, als Überlebender in einem Aufnahmelager bei Neapel. Erwin, ein sechzehnjähriger Jude aus Osteuropa, ist unendlich müde. Schlafend ist er den Schrecken entronnen, gerettet von Menschen, die nach dem Krieg vorbeikamen und ihn mitnahmen. Sie fanden, trugen und schleppten den Jungen nach Neapel, ins Überleben. Später wird der Heranwachsende einzelnen seiner Retter wiederbegegnen, doch nicht er, sondern sie werden ihn wiedererkennen: "Du bist doch der schlafende Junge, den wir gerettet haben!" Der Satz zieht sich durch das ganze Buch. Jede Rettung war ein Wunder, denn: "Im Krieg schrumpft der Körper und die Seele schwindet. Hunger und Kälte beherrschen dich, und du hast nur einen Wunsch: so schnell als möglich zu sterben."

Das Ertüchtigungsprogramm einer zionistischen Gruppe, die sich im Lager gebildet hat, weckt die Lebensgeister des Heranwachsenden. Er trainiert mit der Gruppe und bricht schließlich auf, raus aus diesem Europa der Erinnerungslosigkeit, fort aus den Ruinen und den Massengräbern: auf ins verheißene Land. Doch ist das möglich?, fragt sich der Ich-Erzähler. Kann einer nach Flucht und Verfolgung tatsächlich alles abstreifen? Wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren, die Solidarität mit den Hoffnungen und Ängsten seiner Retter? Setzt er nicht, indem er sich von ihren Lebenswelten und Idealen abwendet und einwilligt, in Palästina ein Neuerer zu werden, die ganze Geschichte der Diaspora ins Unrecht? Diese Fragen treiben das Romangeschehen voran und machen die Aktualität des Werks aus. Die Neuankömmlinge sollen vergessen. Sie leben im Kibbuz, bauen Terrassen für Orangenbäume und lernen Hebräisch, unter anderem die Bezeichnungen für Eckstein und Grundstein: der Zukunft zugewandt.

Aharon Appelfeld, der israelische Schriftsteller, den der Schriftstellerkollege Imre Kertész schon vor Jahren als großen jüdischen Erzähler Osteuropas feierte, ist dank seines Verlegers Alexander Fest schon lange auch in Deutschland kein Unbekannter mehr. Er erhielt zahlreiche internationale Preise, 2005 hierzulande den Nelly-Sachs-Preis. Rechtzeitig zum heutigen achtzigsten Geburtstag hat Rowohlt mit "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen" den jüngsten Roman des Autors veröffentlicht, der die Grundfrage seines Lebens umkreist: Wie wird einer zum Schriftsteller?

Appelfelds eigene Geschichte gleicht nicht zufällig vielen seiner Romane, auch wenn er das Geschehen von seiner Wirklichkeit entfernt. 1932 in der Bukowina geboren, wuchs er als Erwin Appelfeld in der näheren Umgebung von Czernowitz auf, wo Juden unter Ruthenen, Deutschen, Rumänen und Polen damals die Mehrheit bildeten. Kaum eine Stadt und Kultur ist heute so versunken wie das Czernowitz von Appelfelds Kindheit, die mit dem Überfall der Deutschen im Juni 1941 schlagartig endete. Erwins Mutter wurde sofort ermordet, Vater und Sohn, er war damals neuneinhalb, gelingt zunächst die Flucht, doch im Lager werden sie getrennt. Der Junge entkommt, überlebt in den Wäldern, unter Dieben und Prostituierten, später als Küchenjunge bei der Roten Armee. Irgendwann, 1946, gelangt er, wie sein Romanheld, über Italien in das damalige Palästina. Es dauert lange, bis Appelfeld in der fremden seine eigene Sprache findet.

Um diesen Prozess geht es in dem Buch, das in siebzig kurze, episodenhafte Kapitel gegliedert ist. Mit jeder Episode kommt für die kurze Zeit des Lesens ein Bruchstück der Geschichte an die Oberfläche. Erwin, der sich, in Palästina angekommen, in Aharon umbenennt, um sich an die neue Welt anzupassen, kann nicht aufhören, sich in den Schlaf zu flüchten. Und nicht selten, wenn er die Augen schließt, hört er die Stimmen der Toten, die er zurückgelassen hat - seiner Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten. Diese inneren Autoritäten hadern mit seinen Entschlüssen. Manchmal fordern sie ihn auf, sie nicht zu vergessen, dann wieder delegieren sie gleichsam ihr nichtgelebtes Leben an ihn. "Mach dir keine Sorgen, ich werde immer bei dir sein, wohin du auch gehst." Sagt seine Mutter, die mit ihm hadert, weil er seine Muttersprache aufgeben will.

Den Freunden Aharons ist eine solche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwehrt: Marek, der Schweigsame, der weder seinen Nachnamen noch seinen Herkunftsort preisgibt, begeht bald nach der Ankunft im Kibbuz Selbstmord, Benno, der Mitstreiter mit den sanften Händen, der mit Aharon trotz anderslautender Direktiven im Krankenhaus auch deutsch spricht, versucht vergeblich, an die Kindheit anzuknüpfen und wieder Geige zu lernen. Doch die musikalischen Sehnsüchte, die während der Kämpfe in der Wüste in ihm aufleben, kann er nicht in seine Wirklichkeit integrieren. "Die Landschaften des Negev sind spirituell. Ich habe ein Gefühl, als verberge sich hinter jedem Hügel ein Orchester oder ein großartiges Quartett", schreibt er. Einmal trifft Aharon einen alten Mann, den "letzten Flüchtling", der mit seiner Frage, ob die Orangenplantagen "unsere Seelen" leer machten, eine Grundangst des Romans berührt: Wer meint, die Geschichte zurücklassen zu können, ist nur ein halber Mensch.

Literatur schafft andere Wirklichkeiten, indem sie die Realität entmachtet. In dem Zwischenreich, das Appelfeld in seinen Romanen erschafft, sind nicht nur die üblichen Kontinuitäten der Beziehungen, sondern auch die üblichen Narrative über die Schoa ausgesetzt. Bei Appelfeld bekommen alle Personen und Positionen ihre Stimme, die Zionisten und die in Europa Gebliebenen, die Vertreter von Assimilation, Diaspora und Erez Israel. Die untergegangene Welt des rabbinischen Judentums, die verschwundene Welt der assimilierten Juden, die Nachbarn, Onkel und Tanten - ihnen allen verdankt der Junge im Roman sein Leben, und wenn ihre Geschichten nicht erzählt werden, sterben die Welten ein zweites Mal, endgültig vielleicht.

Appelfeld verbindet das alte und das neue Judentum, die Lebenden und die Toten. Damit er den Weg zu sich selbst und zu seinem Schreiben gehen kann, zahlt der Held zunächst einen hohen Preis: Erst nach einer Verwundung, die ihn lange paralysiert, findet der Junge zu sich und seiner Bestimmung: "Wenn Gott mir meine Beine wiedergibt, Vater, werde ich losziehen und den richtigen Ausdruck für das suchen, was uns geschehen ist", sagt er, als ihm sein Vater im Schlaf erscheint.

Der innere Auftrag des Autors wie der seines Helden ist es, das Zersprengte zusammenzufügen, das Verlorene zu bergen und im Erzählen zu bewahren. Aber Erzählen ist bei Appelfeld kein Erinnern. "Meinem Körper hat sich die Irrfahrt besser eingeprägt als mir", sagt er. Es ist der Körper, der sich bei Appelfeld erinnert. Hunger, Kälte, Liebe, Hingabe, Gewalt. Anders als Primo Levi oder Imre Kertész entrückt er das Erinnerte ins Märchenhafte, um das Vergangene, dem er in seiner Prosa Gegenwart verleiht, in Freiheit zu setzen und um die Erzählung entfernt vom Strom des öffentlichen Erinnerns anzusiedeln. Appelfeld beherrscht die Kunst des Weglassens. Seine Geschichten liefern kein authentisches Zeugnis, sie bauen auf physische Erinnerungen und körperliche Empfindungen. Durch die parataktische Erzählweise reiht sich Hauptsatz an Hauptsatz. Als der Protagonist die Klinik verlässt, liest man: "So verabschiedete er sich von mir. Ich hatte mir Worte überlegt, die ich zu ihm sagen wollte, aber sie waren von seinen wie weggeblasen worden. Ich brachte nur ein Danke heraus, das ich ihm hinterherrief, keine Ahnung, ob er es noch gehört hat. Seltsam, welche Wurzeln ich an diesem Ort, dem es doch derart an Privatsphäre mangelte, geschlagen hatte." - Das Leben besteht nicht aus Logik und Zusammenhang, sondern aus Ereignissen und Brüchen, aus Erscheinungen und Vorstellungen; zwischen jedem Satz und dem nächsten könnte sich alles wenden und alles ganz anders kommen. Außerdem hält Appelfeld in seinen Romanen stets die Figuren zueinander auf Distanz - Mitleid, Sehnsucht, Trauer und Hoffnung sind kalt.

Sinnvolle Gemeinsamkeit, bemerkte der schottische Schriftsteller John Burnside, erwachse nicht aus einer aufgezwungenen offiziellen Geschichte, sondern aus der Verknüpfung unserer individuellen Allegorien-Geschichten. Solange wir diese Gemeinsamkeit nicht hätten, bleibe nur Trostlosigkeit. Die Allegorien-Geschichten von Appelfelds jüngstem Roman verbinden die Hügel der Karpaten, die Gebetbücher der Vorfahren, die Literatur S. Yishars und die Anpflanzung der palästinensischen Obstbäume. "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen" ist vielleicht Appelfelds schönstes und sanftestes Buch. Der Übersetzerin Miriam Pressler verdanken wir, dass wir in der deutschen Ausgabe an dem unscheinbaren und doch so tiefgründigen Prozess der Loslösung des Helden von eigenen und fremden rituellen Fixierungen teilhaben können. Man kann der Geschichte nicht entkommen, doch vielleicht kann man Gewalt und Trostlosigkeit etwas lindern, wenn man das offizielle Erinnern und die bloße Zukunftsorientiertheit entmachtet.

Auch dieses Buch birgt wie alle Werke Appelfelds ein Fragment der jüdischen Tragödie. Wenn man, das kabbalistische Bild vom "Bruch der Gefäße" im Kopf, jeden Roman als eine Scherbe betrachtet, versteht man Appelfelds Lebensentscheidung, Schriftsteller zu werden, neu: als großartiges Projekt, angesichts der Katastrophe der Schoa im Erzählen das Versprengte zu bergen. Ihm gelingt es, für den Moment des Kunstwerks das Versprengte zu versammeln, das Zusammenleben der Lebenden und der Toten zu feiern und so gegen den drohenden Zerfall die Idee der Menschheit wachzuhalten.

MARIE LUISE KNOTT

Aharon Appelfeld: "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen".

Aus dem Hebräischen von Miriam Pressler. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 288 S., geb., 19,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Angesichts der spürbaren Abnahme der "Empathie für Israel", die Andreas Breitenstein vor allem im "Internet-Mainstream" wahrnimmt, begrüßt der Rezensent Aharon Appelfelds jüngsten auf Deutsch erschienenen Roman besonders. Die autobiografische Geschichte um Erwin, der in Czernowitz geboren wird, nach der Flucht über Neapel mit 16 Jahren nach Palästina kommt, wo er, verwundet, die Gründung des Staats Israel wie schon seine Flucht buchstäblich verschläft, versagt sich dem Aufbau von Spannung konsequent, stellt der Rezensent fest. Der Roman lässt zum ersten Mal die Entwicklung Erwins zum Schriftsteller Aharon Appelfeld sichtbar werden, der im Schreiben die Möglichkeit findet, jenseits des zionistischen "Tat-Glaubens" mit seiner Vergangenheit umzugehen, so Breitenstein fasziniert. Er zeigt sich sehr beeindruckt, wie der Autor den Bewusstseinsprozess nachzeichnet, der die Verbindung zwischen der untergegangen Welt seiner Herkunft und Gegenwart erlaubt und sieht mit Faszination, wie Appelfeld dafür auf die "elementaren Sprache der Bibel" zurückgreift.

© Perlentaucher Medien GmbH
Appelfeld ist als Erzähler des Holocaust Autoren wie Primo Levi oder Imre Kertész ebenbürtig. Der Spiegel