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"Der Begriff der Toleranz spielt in pluralistischen Gesellschaften eine zentrale Rolle, denn er bezeichnet eine Haltung, die den Widerstreit von Überzeugungen und Praktiken bestehen läßt und zugleich entschärft, indem sie Gründe für ein Miteinander im Konflikt, in weiterhin bestehendem Dissens, aufzeigt. Ein kritischer Blick auf die Geschichte und die Gegenwart des Begriffs macht jedoch deutlich, daß dieser nach wie vor in seinem Gehalt und seiner Bewertung zutiefst umstritten ist und somit selbst im Konflikt steht: Für die einen war und ist Toleranz ein Ausdruck gegenseitigen Respekts trotz…mehr

Produktbeschreibung
"Der Begriff der Toleranz spielt in pluralistischen Gesellschaften eine zentrale Rolle, denn er bezeichnet eine Haltung, die den Widerstreit von Überzeugungen und Praktiken bestehen läßt und zugleich entschärft, indem sie Gründe für ein Miteinander im Konflikt, in weiterhin bestehendem Dissens, aufzeigt. Ein kritischer Blick auf die Geschichte und die Gegenwart des Begriffs macht jedoch deutlich, daß dieser nach wie vor in seinem Gehalt und seiner Bewertung zutiefst umstritten ist und somit selbst im Konflikt steht: Für die einen war und ist Toleranz ein Ausdruck gegenseitigen Respekts trotz tiefgreifender Unterschiede, für die anderen eine herablassende, potentiell repressive Einstellung und Praxis. Um diese Konfliktlage zu analysieren, rekonstruiert Rainer Forst in seiner umfassenden Untersuchung den philosophischen und den politischen Diskurs der Toleranz seit der Antike; er zeigt die Vielfalt der Begründungen und der Praktiken der Toleranz von den Kirchenvätern bis in dieGegenwart auf und entwickelt eine historisch informierte, systematische Theorie, die an aktuellen Toleranzkonflikten erprobt wird."
Autorenporträt
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Forschungszentrums »Normative Ordnungen«. Sein Werk wird international breit diskutiert. Im Jahr 2012 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forst ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy. Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Forschungszentrums »Normative Ordnungen«. Sein Werk wird international breit diskutiert. Im Jahr 2012 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forst ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2004

Eine moralische Tatsache
Rainer Forst fragt, wie weit sie geht, die Toleranz
„Je weiter ich in das Thema eindrang, schien mir das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, zuweilen in immer weitere Ferne zu rücken: eine systematische Abhandlung über Toleranz vor dem Hintergrund einer Geschichte der für sie gelieferten Argumente und auch der Praktiken der Toleranz zu schreiben, die uns helfen würde, uns in unseren Konflikten der Gegenwart zu orientieren.” Bei der Belesenheit des Autors auf philosophischem und politikwissenschaftlichem Gebiet, die er für das vorliegende Buch geschickt zu nutzen wusste, war sein zeitweiliger Selbstzweifel kein Wunder. Wie sollte er die Fülle seiner Gedanken in eine systematische Form bringen können? Jedenfalls ist ihm sein Vorhaben meisterlich gelungen. Beeindruckend ist vor allem die Bilanz der Toleranzgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Es folgt die Reflexion des Begriffs auf ethischem, moralischem und politischem Gebiet.
Rainer Forst, Jahrgang 1964, gehört der „jüngsten Generation” der Frankfurter Schule an, zu der auch Axel Honneth (Jahrgang 1949) und Lutz Wingert (1958) gezählt werden. Die drei haben einander beeinflusst, und sie grenzen sich von Jürgen Habermas (1929) ab, der der „jüngeren”, nicht der „jüngsten Generation” angehört. Alle drei werden dennoch nicht müde, zu betonen, was sie Habermas zu verdanken haben. Wingert und Forst grenzen sich dadurch ab, dass sie Ethik von Moral distinkt unterscheiden, was Habermas 1991 in seinen „Erläuterungen zur Diskursethik” auch noch tat, aber 1996 in seinem Buch „Die Einbeziehung des Anderen” zurücknahm. Forst musste diese Unterscheidung für sein hier vorgestelltes Toleranzkonzept beibehalten.
Der Geist unter dem Kopftuch
Toleranz muss es auf ethischem Gebiet geben; da ist sie moralisch gefordert. Forst schreibt: „Der Respekt ethischer Identitäten ist moralisch geboten.” Die ethische Identität findet jeder Mensch in dem, was er für ein gutes, gelungenes Leben hält; da kann ihm keiner reinreden. Der Nachbar findet eben etwas anderes gut und für ihn selbst richtig. Wingert hat diese Unterscheidung zwischen Ethik und Moral mittels zweier Fragen beleuchtet, die uns den Unterschied erhellen können: „Warum ist es gut für mich, x zu tun?” ist eine ethische Frage, „Warum ist man kategorisch verpflichtet, x zu tun?” hingegen eine moralische.
Jeder Mensch erhebt Anspruch auf Realisierung eines guten und glücklichen Lebens. Dieser Anspruch muss von allen anderen anerkannt werden. In dem durch Forst übernommenen Honnethschen Anerkennungsparadigma – mit dem Honneth sich nebenbei gesagt von Habermas’ Kommunikationsparadigma abgrenzt – handelt es sich um wechselseitige Anerkennung. Darum muss jeder Mensch den Selbstverwirklichungsanspruch auch der anderen anerkennen. Diese wechselseitige Anerkennung ist allen unseren moralischen Regeln als Prinzip inhärent. Der englische Moralphilosoph William D. Ross bezeichnete es als „primary duty”. In dieser englischen Ausdrucksweise wird deutlicher als im Deutschen, dass es sich um ein vorrangiges kategorisches Gebot handelt: Wir alle sind moralisch verpflichtet, den anderen in seiner Anders- und Eigenheit anzuerkennen.
Soviel zur ethischen Toleranz, von der Forst die moralische und die politische unterscheidet. Forst spricht auf moralischer Ebene, in Anlehnung an Habermas, von einem „Toleranzdiskurs”, in dem nur solche Normen zurückgewiesen werden dürften, die nicht reziprok sind und keine allgemeine Geltung beanspruchen können. Forst lehnt sich an den amerikanischen Moralphilosophen Thomas Scanlon an, der sagt, dass wir nicht fragen dürften, ob wir moralische Regeln anerkennen, sondern wir müssten fragen, warum wir sie nicht anerkennen. Mit diesem Test, bei dem nicht die Frage gestellt wird, ob wir einer Regel zustimmen, sondern vielmehr die Frage, warum wir ihr nicht zustimmen, will Scanlon vermeiden, dass altruistische Personen eher zustimmen als egoistische.
Wir beobachten bei der Lektüre dieses voluminösen Buches eine weitere Besonderheit gegenüber Habermas, denn auffallend häufig bezieht Forst sich auf moralische Kognitivisten, von denen Habermas sich abgrenzt. Habermas steht dem Nonkognitivisten John Leslie Mackie nahe, wenn er 1999 in seinem Buch „Wahrheit und Rechtfertigung”, also einer seiner aktuellsten Publikationen, von „intersubjektiv geteilter normativer Überzeugung” spricht. Dieses Intersubjektivitätsmodell liegt der Konzeption von Mackie ebenso zugrunde wie der Theorie von Habermas. Kognitivisten, wie der von Forst im Übermaß zitierte John McDowell, dessen Schriften in deutscher Sprache übrigens von Axel Honneth herausgegeben wurden, sprechen hingegen von moralischen Tatsachen oder objektiven moralischen Regeln. Für Forst ist die Toleranz eine solche moralische Tatsache, die uns auf ethischem Gebiet verpflichtet.
Nun hatte Forst in seinem eingangs zitierten Selbstzweifel in Aussicht gestellt, dass er uns Orientierung für politische Konflikte der Gegenwart liefert. Er geht interessanterweise von denselben Beispielen aus wie Susanne Boshammer in ihrem kürzlich erschienen Buch „Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit”. Diese Beispiele scheinen tatsächlich die politischen Konflikte der Gegenwart wiederzugeben.
Nehmen wir die sogenannten Kopftuchfälle. Forst durchleuchtet die Urteile im Fall der in Deutschland lebenden afghanischen Muslimin Fereshta Ludin, die bei uns inzwischen zur Symbolfigur für das Recht des Kopftuchtragens vor der Klasse geworden ist, und im Fall von Iyman Salwa Alzayed, die 1990 vom evangelischen zum islamischen Bekenntnis konvertierte. Grundsätzlich sagt Forst zur Toleranz in diesen Fällen: „Es stehen sich zwei Toleranzansprüche gegenüber: die Forderung der Angehörigen einer Minderheit, sie in ihrer Identität zwar nicht ethisch zu schätzen, wohl aber als Gleiche zu achten und ihre gleichen Rechte nicht zu begrenzen, und die Forderung an sie, sie mögen doch tolerant sein und einsehen, dass ihr Identitätsausdruck eine Verletzung religiöser Grundrechte und institutioneller Funktionserfordernisse darstellt.”
Wie wird nun die Abwägung zwischen diesen beiden Ansprüchen vorgenommen? Hier setzt Forsts berechtigte Urteilsschelte ein. Das Kopftuch wird in den genannten Fällen als politisches Symbol interpretiert, das der „Unterdrückung der Frauen im Islam diene und nicht dem Ziel der sozialen Integration und der Toleranz”. Entgegen der Forderung, dass man jeden Einzelfall sorgfältig prüfen müsse, werde das Kopftuch von den Gerichten generell als Symbol der Intoleranz bewertet. Auch sollte in jedem Einzelfall geprüft werden, ob das Gebot der Neutralitätspflicht der Lehrer verletzt sei. Das sei nicht geschehen.
Hinzuzufügen ist dieser Feststellung von Forst, dass man in diesen konkreten Fällen nicht davon ausgehen kann, dass das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung ist, denn diese beiden Frauen wären niemals den Weg des juristischen Widerstands gegangen, wenn sie nicht emanzipiert wären. Für sie hat das Kopftuch eine andere Bedeutung als für die Gerichte. Es kann – um mit Boshammer zu sprechen – kulturelles oder politisches Symbol sein; es komme darauf an, wer die Definitionsmacht hat.
DETLEF HORSTER
RAINER FORST: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 808 S., 19,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003

Wir sollten jedenfalls öfter miteinander sprechen
Kein Friede im Büro, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt: Rainer Forst rät zur Toleranz / Von Bettina Engels

Auf dem Höhepunkt der studentischen Protestbewegung stellte Herbert Marcuse 1965 klar, daß Toleranz für ihn keinen Wert an sich bedeutet. In einer "repressiven" Gesellschaft, einer Gesellschaft also, die der Emanzipation ihrer Bürger im Wege stehe, müsse auch Toleranz gegenüber Kräften der sozialen Unterdrückung als repressiv betrachtet werden. "Befreiende Toleranz", so ist in Marcuses umstrittenem Aufsatz über "Repressive Toleranz" nachzulesen, "würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links".

Diese Arbeit, die nicht zuletzt von den ehemaligen Kollegen am Frankfurter Institut für Sozialforschung, Adorno und Horkheimer, als Apologie revolutionärer Gewalt verstanden und abgelehnt wurde, markierte Marcuses Bruch mit der von ihm als moralische Feigheit wahrgenommenen politischen Zurückhaltung der Philosophen. Die Doppelgesichtigkeit der vermeintlichen Tugend aber hatte schon Mitte der dreißiger Jahre ein anderer dem Frankfurter Institut verbundener Theoretiker, der Psychoanalytiker Erich Fromm, mit Blick auf den bürgerlichen und "patriarchalen" Charakter Sigmund Freuds gegeißelt: Während Freud der Moral seiner Patienten wertneutral und tolerant gegenüberzustehen scheine, verberge sich hinter dieser "Neutralitätsfassade" - so Fromm - oft nur jener ärztliche "Sadismus", mit dem das aufbegehrende Subjekt in die lustfeindliche bürgerliche Ordnung zurückgepreßt werden solle.

Den Annalen der Kritischen Theorie ist also zu entnehmen, was ein gerade im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch über "Geschichte, Gehalt und Gegenwart des Toleranzbegriffs" zum Ausgangspunkt gewählt hat: daß Toleranz nicht nur eine Tugend ist, nach der man im Falle gesellschaftlicher oder psychischer Konflikte ruft, sondern auch eine Haltung, die selbst theoretische Kontroversen auslöst. In seiner Habilitation "Toleranz im Konflikt" knüpft der Frankfurter Philosoph Rainer Forst deshalb auch an die Institutsgeschichte an, wenn er daran erinnert, daß dem Toleranzbegriff ebenso die "Geschichte und Gegenwart sozialer Kämpfe" wie die Auseinandersetzungen um den Wert oder Unwert jener Einstellung selbst eingeschrieben seien.

Aus Forsts Rekonstruktion der bis in die Frühgeschichte des Christentums zurückreichenden Konflikte um Toleranz geht diese allerdings eindeutig als "Tugend der Gerechtigkeit" und "Forderung der Vernunft" hervor. Daß Toleranz historisch gesehen stets im "Spannungsfeld von Macht und Moral" stand, von weltlichen und kirchlichen Machthabern also oftmals zur Durchsetzung ihrer Interessen instrumentalisiert wurde, beschädigt seiner Analyse zufolge keinesfalls den rationalen Kern dieses Begriffs.

Im Zuge der von Augustinus über Locke und Kant bis zu Rawls reichenden unterschiedlichen Deutungen dieser Schlüsselkategorie des theologischen und politischen Denkens habe sich zunehmend jene Konzeption durchgesetzt, der auch Forst mit souveräner Parteinahme das Wort redet: Sie expliziert Toleranz nicht mehr im Sinne der von Toleranzkritikern wie Goethe gescholtenen Duldung einer Minderheit, sondern als symmetrischen Respekt zwischen Gleichberechtigten. Deshalb ist die einzige Begründung, die vor dem Forstschen Toleranztribunal Bestand hat, eine auf dem Fundament von Kants Kritik der praktischen Vernunft fußende moraltheoretische.

Die Pointe ist nicht ohne Witz, da der Erfinder des kategorischen Imperativs gemeinhin nicht gerade als Gewährsmann für Liberalität galt. Obgleich der preußische Aufklärer Kant also scheinbar mit "dem hochmüthigen Namen der Toleranz" wenig anzufangen wußte, befördert ihn Forst - natürlich in der Nachfolge von John Rawls - zum Ehrenbürger seiner toleranten, weil gerechten Gesellschaft. Neben Kant und Rawls hat aber für Forsts Arbeit insbesondere die Diskurstheorie seines akademischen Lehrers Habermas Pate gestanden. Dessen Reformulierung des kantischen Gerechtigkeitsprinzips in Begriffen einer allgemeinen und reziproken Rechtfertigung von Normen spielt nämlich für den Bau der Forstschen Toleranztheorie eine ebenso tragende Rolle wie die von Habermas in der praktischen Philosophie etablierte Unterscheidung von Ethik und Moral. Da mit den beiden, von Forst als "moralische Differenz" und als "Recht auf Rechtfertigung" bezeichneten Prinzipien das Gebäude um den Gedanken einer universal begründbaren Toleranz steht und fällt, gehört die veranschlagte Universalität dieser Prinzipien auf den Prüfstand.

Während die Formel vom "Recht auf Rechtfertigung" zunächst nur die kantische Intuition grundlegender moralischer Anerkennung auf einen diskurstheoretischen Nenner bringt, wird mit der genannten Binnendifferenzierung im Moralischen (zwischen Ethik und Moral) der Gehalt jener "teleologischen" oder "perfektionistischen" Theorien, die einen Begriff vom Guten entwickeln, innerhalb der Gerechtigkeitstheorie verortet und relativiert. Hält man sich vor Augen, welche Aufgabe die auf diesem Weg begründete Toleranztheorie erfüllen soll, nämlich Konflikte in modernen, pluralistischen Gesellschaften zu schlichten, dann erscheint es ebenso naheliegend wie streitbar, daß Rainer Forst der Respekt-Konzeption der Toleranz vor konkurrierenden Interpretationen (als "Erlaubnis" einer Obrigkeit, als pragmatische "Koexistenz" oder, emphatischer, als echte "Wertschätzung") den Vorzug gibt.

Naheliegend erscheint Forsts Wahl vor dem Hintergrund seiner deontologischen Überzeugungen, als streitbar ist sie im Zusammenhang mit der nicht abreißenden Debatte um den Kommunitarismus zu erkennen. Schon vor knapp zehn Jahren hatte sich Forst in seiner Arbeit über "Kontexte der Gerechtigkeit" als dessen liberaler Gegner positioniert. Und dabei ist er seitdem geblieben: Mögen die Fronten in dieser Arena auch heute nicht mehr so verhärtet sein, ist der Liberalismus doch nach wie vor alles andere als ein Selbstläufer. Sowohl als politische Theorie (und dies ist im wesentlichen Forsts Perspektive) wie natürlich auch in der gesellschaftlichen (Rechts-)Praxis, die Forst in einem anregenden, aber kurzen Kapitel beleuchtet, muß er sich gegen Positionen behaupten, die die kulturelle Identität partikularer Gemeinschaften über den gleichmäßigen Respekt vor der moralischen Autonomie aller Bürger stellen.

Im Sinne der Unterscheidung zwischen moralischen Normen und ethischen Werten bestimmt Forst Toleranz als die Fähigkeit, "zwischen dem unterscheiden zu können, was Menschen moralisch voneinander fordern können, und dem, was für sie vielleicht viel bedeutsamer ist, nämlich den Auffassungen davon, was ein Leben lebenswert und gut macht". Die "tolerante Person" aber muß sich dem Forstschen Kanon gemäß nicht nur der "Komplexität der normativen Welt", das heißt der "verschiedenen Rechtfertigungskontexte, in der sie steht", bewußt sein, sondern zudem die Ebenen des Normativen als "Bestimmungsaspekte" der eigenen Identität auseinanderhalten können.

Während Marcuse noch die mangelnde Toleranz der Gesellschaft gegenüber der Utopie befreiter Sexualität denunzierte und Erich Fromm in der Toleranz des Analytikers nur ein weiteres Instrument sozialer Disziplinierung sah, ist die Toleranz bei einem der jüngsten Vertreter kritischer Sozialphilosophie zu einem schwindelerregend hohen Ideal aufgeschossen. In Anbetracht der handverlesenen Zuschreibung könnte man meinen, daß hinter der gefeierten Charaktereigenschaft doch mehr von jener "postmodernen Autorität" steckt, mit der sie der Ideologiekritiker Slavoj Zizek einmal auf einem Frankfurter Podium gleichsetzte.

Rainer Forst: "Toleranz im Konflikt". Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 807 S., br., 19,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Thomas Meyer zeigt sich von dem voluminösen Werk des Frankfurter Philosophen Rainer Forst beeindruckt: Eine "große Erzählung der 'Dynamik von Macht und Moral'" erwarte den Leser hier - zudem eine bislang ungeschriebene Geschichte, fristete die Toleranz im "Zeitalter der Extreme" doch ein Schattendasein als "Schlafmittel". Problematisch findet Meyer nur, dass der Autor einen "Höhepunkt des neuzeitlichen Toleranzdiskurses" ausgemacht haben will, und zwar in Pierre Bayles (1647-1706) Denken. Davon abgesehen, dass die Konstruktion eines "Höhepunktes" der Geschichte eine - dann wieder ideologisch verdächtige - "Verfallsgeschichte" voraussetzt, wendet der Rezensent vor allem ein, dass auch die Diskurse der herausragenden Toleranzphilosophen, Bayle und Nikolaus Cusanus, "dauernden Transformationen und Umschreibungen" unterliegen. Gerade die Geschichte des Toleranz-Begriffs zeigt keine Kontinuität, merkt Meyer an. Da die Entwicklung des Toleranzgedankens auch eine "facettenreiche Geschichte unserer selbst" darstelle, orientiert gleichermaßen an den Bedürfnissen von "theoretischer und praktischer Vernunft", führe Forst auch aktuelle Fragen in die Darstellung ein, etwa die Debatten um Kruzifix und Schleier in Klassenzimmern. Dabei lege er einen besonderen Akzent darauf, dass die Beteiligten in einer Demokratie stets doppelt in die Konflikte eingehen: sie sind "Bürger als Gesetzgeber" und "Rechtspersonen als Empfänger dieser Gesetze". Insofern erfolge die Einübung von Toleranz auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Der Rezensent schließt: "Eindringlicher hat schon lange niemand mehr historische Verantwortung mit philosophischer Analyse zu verknüpfen gewusst."

© Perlentaucher Medien GmbH
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