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Scheppernde Sounds, lautes Benehmen und schrille Mode: Das Vokabular, mit dem Zeitgenossen Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue Jugendszene beschrieben, markiert einen Kulturbruch. Ästhetische Konflikte kulminierten in Straßenkrawallen, Polizeimaßnahmen und Zensurgesetzen. Zugleich etablierten Tourneen, Piratensender und Fanclubs grenzüberschreitend neue Inhalte. Bodo Mrozek analysiert einen Wandel, der sich in den 1950er und 1960er Jahren vollzog und die Gesellschaft prägte: Was zunächst als Jugenddelinquenz bekämpft wurde, galt zehn Jahre später als Inbegriff urbaner Kultur. Dokumente aus…mehr

Produktbeschreibung
Scheppernde Sounds, lautes Benehmen und schrille Mode: Das Vokabular, mit dem Zeitgenossen Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue Jugendszene beschrieben, markiert einen Kulturbruch. Ästhetische Konflikte kulminierten in Straßenkrawallen, Polizeimaßnahmen und Zensurgesetzen. Zugleich etablierten Tourneen, Piratensender und Fanclubs grenzüberschreitend neue Inhalte. Bodo Mrozek analysiert einen Wandel, der sich in den 1950er und 1960er Jahren vollzog und die Gesellschaft prägte: Was zunächst als Jugenddelinquenz bekämpft wurde, galt zehn Jahre später als Inbegriff urbaner Kultur. Dokumente aus sechs Staaten bilden das Material dieser transnationalen Geschichte der Popkultur.
Autorenporträt
Bodo Mrozek ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kolleg Kalter Krieg des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2019

Der Sound der Polizeiakten

Als die Jugend zum Problem für die Zukunft avancierte: Bodo Mrozek schreibt die Geschichte des Pop als methodisch breit angelegte transnationale Zeitgeschichte.

Um 1960 lief in der DDR etwas gewaltig schief. Die Jugend konzentrierte sich nicht auf die Durchsetzung des Sozialismus, sondern sympathisierte mit den kapitalistischen Freizeitangeboten. Zumal die westlichen Soundattacken setzten der guten Gesinnung zu. 1960 erinnerte daher die für Propaganda zuständige Abteilung der SED in einem geradezu anrührenden Kommuniqué an ihre Klang- und Bewegungsideale: "Die Grundtendenz der Entwicklung unserer Tanzmusik in der DDR liegt darin, die Schönheiten des Lebens in bestimmter oder lyrisch besinnlicher Weise zu besingen. Ihre Funktion ist es, in unterhaltsamer Form die Erkenntnis zu festigen, dass das Leben im Sozialismus schön, interessant, sinnvoll und gut ist."

Die politische Intervention hatte ihren guten Grund, denn im selben Jahr knackte Chubby Checker mit "The Twist" die Marke von einer Million verkaufter Platten. Erstmals überschritt ein Tanz- und Musikstil jene jugendlichen Milieus, denen er entstammte und für die er eigentlich konzipiert worden war. Dieser historische Moment bildet die entscheidende Scharnierstelle in Bodo Mrozeks Geschichte der Popkultur. Das "Twist-Fieber" grassierte weltweit. Es befiel in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Kultur insgesamt und war ein deutliches Zeichen für die "gesamtgesellschaftliche Etablierung eines Pop-Dispositivs". Diese soziale Integrationsleistung war ein Effekt transnationaler Beziehungen.

Der Twist brachte "politische Bewegungen" aufs Parkett: Der neue Tanz war geschlechtsneutral angelegt; die Partner berührten sich nicht mehr. Damit gab er individuellen Ausdrucksbedürfnissen mehr Raum und nivellierte die Geschlechterverhältnisse. Diese Tendenz wurde noch dadurch verstärkt, dass zur selben Zeit das männliche Vorrecht der Partnerwahl zunehmend in Frage gestellt wurde. Diese Ordnungsstörung behagte selbst dem "Spiegel" nicht. Das Nachrichtenmagazin bemängelte angesichts von Männern und Frauen auf der Tanzfläche, deren "zentrales Nervensystem gestört" zu sein schien, dass die Polizei keine Ordnung schaffe. Experten machten sich an die Arbeit: Psychologen erkannten in den Twist-Bewegungen die "Pantomime eines Sexualtraumas"; Orthopäden warnten vor "Twist-Verletzungen" bis hin zu Knochenabsplitterungen. Jedoch war gegen die crossmediale Verbreitung, bei der Plattenindustrie, Presse, Kino, Fernsehen und Radio zusammenwirkten, kein Kraut gewachsen.

Die Twist-Gegner ergaben sich nicht kampflos. In der Abwehr der neuen Jugendkulturen, die sich seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre formierten, bildeten sich eigentümliche Koalitionen. Einige Jahre vor Ausbruch des "Twist-Fiebers" zitierte die DDR-Propagandabroschüre "Heiße Musik und Kalter Krieg" die "großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung", die den Rock 'n' Roll als "Hohngeschrei auf jegliche Ordnung" und "Musik des Rückenmarks" beschrieben habe. Auch diese Berufung auf den Klassenfeind belegt die integrative Wirkung des Pop.

Der Verweis auf die Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfolgte nicht von Ungefähr. 1958 las man in ihr über das erste Rock-'n'-Roll-Turnier in Frankfurt: Der "somnambule Ausdruck in den jugendlichen Gesichtern, diese peinliche Offenbarung von Sehnsüchten" erschien dem Autor wie "Ohnmacht, Behexung, Gier, verzückter Krampf". Auch "Jazzkonzerte" kamen nicht besser weg.

Bodo Mrozek breitet solche Befunde genüsslich aus. Mit dem Anspruch, Popgeschichte als Zeitgeschichte zu schreiben und sie zugleich in die Ära einer globalisierten Historiographie zu überführen, schließt er an etablierte Forschungsrichtungen an. Die "Massenästhetik" ist von der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft schon lange entdeckt worden, und zur Geschichte des Pop liegen komparatistische Untersuchungen vor, die nationale Sonderwege und entsprechende Erklärungsmuster relativieren. Auch die Periodisierung entspricht einem etablierten Konsens: "1968" gilt nicht mehr als entscheidende Zäsur. Strukturgeschichtlich wird die Revolte als Effekt einer Transformation verbucht, die sich rund fünfzehn Jahre zuvor abzeichnete und über die "langen sechziger Jahre" erstreckte. Die Stärke der Studie liegt in Mrozeks Spezialgebiet, der Geschichte der populären Musik. Mit offenem Bekenntnis zum Methodenpluralismus synthetisiert er vom "Sonischen" ausgehend Forschungen etwa der Sound Studies, der Körper- und Emotionsforschung sowie der Konsum-, Medien-, Mode- und Stadtgeschichte.

Erst in dieser eindrucksvollen Zusammenschau wird deutlich, wie die Popkultur historisch ein emergentes Niveau erreicht, wie sich also aus einer Vielzahl von ungeordneten und unverbundenen Phänomenen nach und nach ein Konzept herauskristallisiert, das man nicht mehr übersehen kann. Die entscheidende Pointe von Mrozeks Studie liegt in dieser Diskursgeschichte, bei der gerade die Gegner ungewollt an einem gemeinsamen Skript arbeiten. Als besonders ergiebig erweist sich dabei die Auswertung von Polizeiakten. Überspitzt formuliert: Was später als "Pop" firmiert, galt zunächst einmal als kriminell. Popkulturelle Handlungsmuster breiteten sich zunächst in jener "Kontrolllücke" aus, die zwischen dem Abschluss der Schulausbildung und neuen sozialen Bindungen durch Ehe und Erwerbsleben bestand. Dieser jugendliche Freiraum gewann für die Gesellschaft insgesamt Pilotfunktion, weil die "Freizeit" in den fünfziger und sechziger Jahren zunahm und auch volkswirtschaftlich immer wichtiger wurde.

Eine Menge von unkoordinierten Akteuren aus den Medien, der Justiz, Wissenschaft und Politik lenkte also ihre Aufmerksamkeit unabhängig von politischen Systemgrenzen auf Ereignisse, die sich an bestimmten Straßenecken oder in einigen Stadtvierteln abspielten. Die kritischen Beobachter rechneten ihre Eindrücke hoch und erklärten "die Jugend" zum Problem für die Zukunft der Gesellschaftsordnung. Experten wie David Riesman oder Helmut Schelsky verdienten mit entsprechenden Zeitgeistdiagnosen auf dem Buchmarkt viel Geld. Schließlich wurden der Verwaltungsapparat sowie ein ganzes Heer von Jugend- und Sozialarbeitern, Polizisten, Soziologen und Sozialpsychologen aktiv.

Umgekehrt schlossen sich Jugendliche unter diesem Druck von außen zusammen und erkannten gemeinsame Interessen, von denen sie zuvor noch gar nichts gewusst hatten. Weder war nämlich der Anstieg der Jugendkriminalität in den fünfziger Jahren so hoch, wie er von Experten immer wieder behauptet wurde, noch war das Wertesystem der Jugendlichen "außer Rand und Band" geraten. Eigentlich hielten sie mehrheitlich an strikt konservativen Vorstellungen von Ehe und Familie fest. Die "negativen Sozialklischees" wurden dann jedoch in die Selbstbeschreibung übernommen und dienten als "Subjektivierungsressource". Mehr noch: Sie brachten "die Jugendlichen" überhaupt erst auf dumme Gedanken. Besonders hellsichtig formulierte dies 1956 ein Zeuge der zeitgenössischen Kino- und Konzertkrawalle: "Die Musik macht nicht viel mit dir. Aber wenn du ein Dutzend Polizisten siehst, die sich rund um die Wände aufgereiht haben, und einen Polizeihund im Foyer, dann weißt du, dass man von dir Krawall erwartet." Dass die jungen Leute dieser impliziten Forderung der Polizei so brav Folge leisteten und damit die Vorstellungen von "Ruhe und Ordnung" grundlegend veränderten, ist ein schöner Beleg für die Dialektik der Weltgeschichte.

STEFFEN MARTUS

Bodo Mrozek: "Jugend - Pop - Kultur". Eine transnationale Geschichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 866 S., Abb., br., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Steffen Martus lernt die schöne Dialektik der Weltgeschichte am Beispiel des Pop kennen in Bodo Mrozeks Geschichte der Popkultur. Dass es sich beim Pop um eine Integrationsleistung erster Garde handelt, bei der Polizei, Sozialarbeiter, Medien und natürlich die krawallige Jugend selbst mitmischten, erklärt Mrozek dem Rezensenten anhand von mit Lust zitierten Presseartikeln, Polizeiakten, Forschungsergebnissen und weiteren diskursgeschichtlichen Details. Besonders stark ist der Autor laut Martus auf seinem Spezialgebiet der Popgeschichte. Und wie Mrozek dem Phänomen methodenpluralistisch mit Sound Studies, Körper- und Emotionsforschung, Konsum- und Modesgeschichte zu Leibe rückt, findet Martus imposant.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Der Berliner Historiker Mrozek gilt als einer der besten Kenner der Geschichte des Pop und nähert sich dem Phänomen methodenpluralistisch, indem er Zeitungsartikel und Polizeiakten ebenso auswertet wie Ergebnisse der Emotionsforschung und der Modegeschichte.« taz. die tageszeitung 20190604