51,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Buch mit Leinen-Einband

Als Walter Benjamin im Juli 1932 - nach seinem 40. Geburtstag - in Nizza seinem Leben ein Ende setzen wollte, stand ihm nicht nur das Scheitern seiner Versuche, eine Gelehrtenexistenz zu führen, vor Augen, sondern auch die zunehmende Gefährdung der Verwertung seiner Lohnschreiberei für Rundfunk und Presse. Der »tiefen Müdigkeit«, von der er schreibt und der er sich noch einmal entwinden konnte, folgte die Arbeit an der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« in der durch eine Zusammenarbeit mit Wilhelm Speyer finanziell unterstützten Abgeschiedenheit von Poveromo. Im Spätherbst des Jahres nach…mehr

Produktbeschreibung
Als Walter Benjamin im Juli 1932 - nach seinem 40. Geburtstag - in Nizza seinem Leben ein Ende setzen wollte, stand ihm nicht nur das Scheitern seiner Versuche, eine Gelehrtenexistenz zu führen, vor Augen, sondern auch die zunehmende Gefährdung der Verwertung seiner Lohnschreiberei für Rundfunk und Presse. Der »tiefen Müdigkeit«, von der er schreibt und der er sich noch einmal entwinden konnte, folgte die Arbeit an der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« in der durch eine Zusammenarbeit mit Wilhelm Speyer finanziell unterstützten Abgeschiedenheit von Poveromo. Im Spätherbst des Jahres nach Berlin zurückgekehrt. Mitte März verließ Benjamin Deutschland für immer und fuhr nach Paris, von wo aus er Anfang April für fünf Monate nach Ibiza ging. - Noch von der Baleareninsel aus unternahm Benjamin alle denkbaren Schritte, um seiner zukünftigen Existenz in Paris ein Minimum an Kontinuität zu geben. In Paris traf Benjamin mit Brecht und Grete Steffin zusammen, konnte Elisabeth Hauptmann begrüßen. Alfred Kurella stellte Beziehungen zur Zeitung »Monde« her, wo Benjamin einen Aufsatz über den »Seine-präfekten Haussmann« publizieren zu können hoffte. Dieses Projekt zerschlug sich ebenso wie andere, die Benjamin hartnäckig verfolgte. Seine Zuflucht innerhalb der Stadt Paris fand Benjamin in der Bibliotheque Nationale, wo er die Materialsammlung zum Passagen-Werk trotz aller Widrigkeiten fortsetzte und sogar im Frühjahr 1934 ein Schema des Buches mit dem Titel »Paris, Capitale du XIXéme siècle« fixierte. - Die Arbeit an seinem Kafka-Essay, der im Juni fertig war, aber erst im Dezember teilweise erschien und den Benjamin zeitweise als den Abschluß seiner essayistischen Produktion ansah, verzögerte seine Abreise nach Svendborg zu Brecht. Benjamin, der den Begriff der »Haltung« liebte, hat die seine unter Um- und Widerständen, die andere zu heroischer Stilisierung verführt hätten, sich erhalten. Mit dem Bürger des 19. Jahrhunderts, der mit Kursschwankungen weitab liegender Minen und Gesellschaften jonglierte wie mit den Tischkarten eines häuslichen Soupers, teilte Benjamin die Kunst der Improvisation und die bedachtsame Virtuosität, mit der er in seiner Korrespondenz auf das Ziel hinwirkte, die materiellen Bedingungen seiner geistigen Arbeit zu sichern.
Autorenporträt
Gödde, ChristophChristoph Gödde ist Mitarbeiter am Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt am Main und gibt im Suhrkamp Verlag die Nachgelassenen Schriften sowie den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer heraus (zusammen mit Henri Lonitz). Im August erscheinen im Suhrkamp Verlag: Theodor W. Adorno, Briefe an die Eltern 1939-1951, herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz, sowie Adorno. Eine Bildmonographie, herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Rette mich, wer kann!
So fern er sein mag: Mit dem sechsten Band ist die Briefausgabe Walter Benjamins abgeschlossen / Von Richard Kämmerlings

Mit der Wirkung Walter Benjamins hat es eine ganz eigene Bewandtnis, die in einen paradoxen Mißverhältnis zu seiner These vom "Verfall der Aura" steht. Mit dem fast exponentiellen Anwachsen der Sekundärliteratur, der nur noch die Kafka-Philologie Paroli bieten kann, wird ihr Gegenstand immer mehr zu einer singulären Denkergestalt, zu einem erratischen Block, dessen Umrisse auch mit den subtilsten Meßmethoden nicht zu bestimmen sind. Nach Benjamins Definition der Aura als "einmaliger Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag", wird er selbst zur auratischen Lichtgestalt, deren Helle um so mehr blendet, je näher der Betrachter herantritt.

Auch die Lektüre der Briefe, deren Ausgabe mit Band sechs für den Zeitraum 1938 bis 1940 nun abgeschlossen ist, läßt Benjamin nicht vertrauter erscheinen. Herkömmlicherweise eröffnet das Studium solch intimer Dokumente einen neuen, persönlichen Zugang zu ihren Verfassern. Doch Benjamin wird im Gegenteil zum Fremden, zur rätselhaft-fernen Ikone einer Einheit von Leben und Werk, Theorie und Biographie - und nicht zuletzt zur Allegorie des katastrophischen Geschichtsverlaufs selbst.

Neuentdeckungen waren von dieser, wiederum editorisch vorbildlich erschlossenen Ausgabe ohnehin kaum zu erwarten, die viele bereits publizierte Texte enthält. Benjamins letzte Jahre und die Entwicklung seines Denkens vor dem zunehmend verfinsterten Horizont der weltpolitischen und persönlichen Situation sind ausführlich dokumentiert und kommentiert. Vor allem die Bemühungen um eine Rekonstruktion des nur als torsoförmige Materialsammlung überlieferten "Passagenwerks" haben zum Ausgleich für den Fragmentcharakter des Werks wenigstens die Bruchstücke der Biographie zusammenzuleimen sich bemüht und jene "Rettung" versucht, die das pochende Herzstück des vitalen Theoriekorpus des späten Benjamin war.

Die Arbeit an seinem "Baudelaire", ursprünglich als ein Kapitel des Passagenwerks, dann als Essay und schließlich als selbständiges Buch geplant, ist Benjamins Hauptbeschäftigung im Jahr 1938, mit dessen Beginn er eine neue Wohnung in Paris bezieht. Gleich im ersten Brief des neuen Bandes berichtet er Horkheimer von seinen Gesprächen mit Adorno über dessen "Versuch über Wagner". Dessen Tendenz, "das Physiognomische unmittelbar, fast ohne psychologische Vermittlung, im gesellschaftlichen Raum anzusiedeln", reizt ihn aufgrund der Nähe zu seiner eigenen Konzeption. Die späteren Einwände gegen die fertige Arbeit sind fortiter in re: "Der umstandslose Gebrauch der Kategorien des Progressiven und des Regressiven" mache die Ansätze zue "Rettung" Wagners "überaus problematisch". Da Rettung "eine zyklische Form" sei, schließe sie die ideologiekritische Abfertigung des Gegenstands im Namen einer "fortschrittlichen" Tendenz aus. Wenn die Ausweglosigkeit der Gegenwart die Rede vom Fortschritt verbietet, woher dann einen Maßstab zur Verurteilung der Vergangenheit gewinnen? Dann aber stellt sich das Problem der Auwahl historischen Materials: Alles ist erlösungsbedürftig und so gleich bewahrenswert.

Bei Wagners Spiegelbild Baudelaire sei für Polemik "so wenig Raum", sei "so weniges verrufen und überholt, daß die Form der Rettung an diesem Gegenstande selbst zum Problem werden könnte". Die Schwierigkeiten des gesamten Passagen-Projekts hängen damit zusammen. Der tiefe Satz aus der Einbahnstraße, wonach das Werk die Totenmaske der Konzeption sei, bewahrheitet sich nun, da sich der Stoff wie der berühmte Brei im Märchen unaufhaltsam vermehrt. Unter dem theologischen Vorzeichen der Rettung der Vergangenheit als "historische Apokatastasis", als "Wiederbringung Aller" ist Benjamin gezwungen, alle Längen- und Terminvorgaben zu überschreiten und alle Energien auf die Arbeit zu werfen. Zuletzt ist es die Offenheit der Passagen, die den Fluchtweg verstellt.

Hinzu kommen die Mühen der Ebene. Die letzten Jahre sind weiter überschattet von finanziellen Problemen - Horkheimer kündigt ihm im Februar 1939 an, seine Geldzahlungen eventuell einstellen zu müssen - und scheiternden Bemühungen um Publikation (etwa der Neufassung der "Berliner Kindheit"). Gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Gleichzeitig betreibt Benjamin seine Einbürgerung, was ihn in einen lästigen Papierkrieg mit den Behörden verwickelt. Die raren Publikationsmöglichkeiten bekommen so existentielle Bedeutung. Er bedankt sich überschwenglich, als Horkheimer einen seiner beiläufig entstandenen Literaturberichte in der Zeitschrift für Sozialforschung drucken will - und ist umgekehrt völlig niedergeschlagen, als der nach langem Ringen abgeschlossene Mittelteil des "Baudelaire" von Adorno abgelehnt wird. An Karl Thieme schreibt er, als er für seine Brecht-Kommentare ein Exemplar der "Hauspostille" ausleihen möchte: "Sie sehen, was wir haben drucken lassen, gewinnt schnell den Wert von Handschriften." Gegenüber Scholem bedauert er den Mangel an Belegexemplaren, da "die Vollständigkeit Deines Archivs meiner Schriften von jeher mein Anliegen war". Die Sorge um vollständige Überlieferung ist die Signatur des katastrophischen Bewußtseins.

Mit Kriegsausbruch wird Benjamin als deutscher Flüchtling interniert; die Briefe aus dieser Zeit sind wegen der Zensur auf Französisch verfaßt. Gleich nach seiner Rückkehr stürzt sich Benjamin in seine Arbeit, liefert noch im Frühjahr ausführliche Literaturberichte an Horkheimer, etwa über Michel Leiris' "Mannesalter" und Gaston Bachelard. Doch sein Gesundheitszustand verschlechtert sich in unheimlicher Parallelität zur politischen Lage. Ein Brief an Gretel Adorno vom Anfang Mai 1940, kündigt die Thesen "Über den Begriff der Geschichte" gleichzeitig mit der Zusendung eines Röntgenbilds vom kranken Herz an und ist gezeichnet mit "Dein alter, auch alternder Detlef". Gegenüber Sohn Stefan klagt er schon 1939 darüber, "daß meine Freunde fast ausnahmslos in New York sitzen".

In einem großartigen Brief an Adorno (7. Mai 1940) spricht Benjamin in Bezug auf den späten Baudelaire davon, "daß wir da auf Haltung stoßen, wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt. Die Einsamkeit, die sehr wohl, weit entfernt der Ort seiner individuellen Fülle zu sein, der Ort seiner geschichtlich bedingten Leere, der persona als seines Mißgeschicks sein könnte." Die abweisende Maske erscheint hier als Rüstung gegen die Anfeindungen des Historischen; es ist kein Zufall, daß sich Benjamin in diesen letzten Monaten ausführlicher mit Brecht, dem Theoretiker der Verhärtung und Panzerung beschäftigt. Im Baudelaire-Essay heißt es: "Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost".

Es ist unvermeidlich, zu Benjamins Biographie immer wieder kontrafaktische Überlegungen anzustellen, die dem Tod ausweichen. Doch solche Tagträume des historischen Bewußtseins halten nicht lange vor, da das tragische Ende seiner katastrophisch eingefärbten Geschichtstheorie so deutlich korreliert. Das Leben Benjamins anders als von seinem Scheitern her zu denken, scheint unmöglich, wofür er selbst die Begründung geliefert hat: "Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat", hießt es in der siebten geschichtsphilosophischen These, die zugleich die Aufgabe formuliert, die Opfer vor der katastrophischen Faktizität in Schutz zu nehmen, zu der noch die Gegenwart in kausalem Verhältnis steht.

Was an Benjamins Ende so erschreckt, ist die Konsequenz, mit der er sein Leben seinem Werk unterordnet, ein nur mit dem Glauben an die erlösende Kraft seiner Geschichtstheologie zu erklärender Zwang, die Urgeschichte der Moderne auch unter den feindlichsten Bedingungen der Gegenwart weiterzutreiben. Der Tod wurde auf der beschwerlichen Flucht über die spanische Grenze einkalkuliert, um nur die berühmte Aktentasche außer Landes zu bringen. Ein jüngst entdeckter Augenzeugenbericht hat die letzten Stunden festgehalten (F.A.Z. vom 6. September). Zum Zeitpunkt seines Selbstmords wähnte Benjamin sein Werk wohl fälschlicherweise in Sicherheit. In einem Brief an Scholem heißt es: "Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von einem Gescheiterten." Es ist ein schwacher Trost, daß nach Benjamin nur ein solcher sich für die Rettung bereithalten kann.

Walter Benjamin: "Gesammelte Briefe". Band VI: "1938-1940". Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 630 S., geb., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Uwe Steiner lobt die Edition der Briefe Walter Benjamins als mustergültig. Die Bände IV und V machten da keine Ausnahme. Kommentar und Register seien vorbildlich. Zwar gebe es keine sensationellen neuen Brieffunde, das Verdienst der Ausgabe sei die Übersicht über bisher verstreut veröffentlichtes Material. Steiner misst dann aber die Edition an Benjamins Warnung vor der Herausgabe der Briefe eines Autors statt der vollständigen Briefwechsel und bedauert mit ihm, dass die Briefe der Adressaten nicht mit abgedruckt wurden. Besondere Bedeutung misst der Rezensent dem Brief an Gershom Scholem aus dem Jahr 1932 zu, der sich im nun wieder hergestellten Zusammenhang mit den nicht abgeschickten Briefen als veritabler Abschiedsbrief erweise. Bedeutsam scheinen Steiner weniger die Spuren der politischen Ereignisse als der Gestus des Briefschreibers Benjamin, der an einer von Benjamin selbst am Beispiel Arnold Bennetts beschriebenen Lebenskunst geschult sei. Auf diese Weise würden Benjamins "Briefe zugleich in die Zeit eingebettet und näher an sein Werk herangerückt."

© Perlentaucher Medien GmbH