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Selbstdarstellung scheint heute selbstverständlich, Schüchternheit hingegen ist passé. Stimmt nicht, wie Florian Werner in seinem Bericht zeigt. Die Gesellschaft der Schüchternen ist auch im 21. Jahrhundert überraschend groß. Amüsant und formvollendet erzählt Werner von seiner Rolle als zweitgeborener Zwilling, von der Bedeutung von Kapuzenpullis, wie er seine Frau kennenlernte und warum er auch gegenüber unverschämten Kellnern zwanghaft höflich bleibt. Werner erklärt außerdem, wie Schüchternheit bei Kindern entsteht, wie der große Markt der Schüchternheitsbekämpfung funktioniert und warum…mehr

Produktbeschreibung
Selbstdarstellung scheint heute selbstverständlich, Schüchternheit hingegen ist passé. Stimmt nicht, wie Florian Werner in seinem Bericht zeigt. Die Gesellschaft der Schüchternen ist auch im 21. Jahrhundert überraschend groß. Amüsant und formvollendet erzählt Werner von seiner Rolle als zweitgeborener Zwilling, von der Bedeutung von Kapuzenpullis, wie er seine Frau kennenlernte und warum er auch gegenüber unverschämten Kellnern zwanghaft höflich bleibt. Werner erklärt außerdem, wie Schüchternheit bei Kindern entsteht, wie der große Markt der Schüchternheitsbekämpfung funktioniert und warum Schüchternheit auch eine Stärke sein kann. Ein geistreicher, ungewöhnlicher und verblüffender Erlebnisbericht.
Autorenporträt
Florian Werner, 1971 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Berlin. Sein bei Nagel & Kimche erschienenes Buch Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung (2009) wurde in mehrere Sprachen übersetzt und von der Zeitschrift Bild der Wissenschaft als originellstes Wissenschaftsbuch des Jahres sowie mit dem Umweltpreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet. Auch die folgenden Bücher Werners wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2012

Zaghafte Unsicherheit, blöde Befangenheit

Schüchternheit ist eine Zier, weiter kommt man ohne ihr: Florian Werner und Margarete Eisner über eine Charaktereigenschaft, die nicht immer als soziales Defizit begriffen wurde.

Mark Twain sprach es aus: "Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, das Grund dazu hat." Nicht ganz: Als das Gorillaweibchen Koko einmal beim Spielen mit seinen Puppen ertappt wurde, hörte es den Berichten seiner Betreuer zufolge sofort wieder damit auf und drehte sich weg. Erröten konnte zwar nicht bei Koko festgestellt werden, von einem Schamempfinden aber gingen die Forscher aus.

Damit ist das Themenfeld der anthropoiden Schüchternheit eröffnet, ihr psychosoziales, ihr neurologisches, ihr pharmakologisches Potential erkannt, was aktuell gleich zwei Autoren in die Deutungsgründe dieser Charaktereigenschaft führt: Florian Werner, der zuletzt mit "Dunkle Materie" eine schambesetzte Kulturgeschichte der Körperausscheidung verfasst hat, und Margarete Eisner mit einer Qualifikationsschrift im Fach Psychologie. Wo Eisner hauptsächlich den Forschungsstand von Tiefenpsychologie und Anthropologie auswertet, verbindet Werner die Ideengeschichte mit dem "Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft".

Alles deutet zu Beginn der Lektüre dann aber darauf hin, dass man diese "Eigenschaft" gar nicht genug unterschätzen kann - zumindest aus der Sicht der Betroffenen. Denn sie ist dem, der unter Schüchternheit leidet, oft eine lebenslange Last. Es ist nicht ohne Selbstentblößung, wenn Werner von seiner Telefonphobie berichtet, von seinen zahllosen Vermeidungsstrategien, die ihn vor der unmittelbaren Konfrontation mit Menschen behüten sollen, von ungeöffneten Briefen, von unrealisierten Romanzen, von vorauseilender Höflichkeit gegenüber Rüpeln, von seiner wohl pathologisch zu nennenden Angst, jemandem zu nah zu treten.

Woher Schüchternheit kommt, wie sie zu bewerten ist und wie man sie wieder loswird, darüber wird seit langem gerätselt. Die meisten Theorien deuten auf die frühkindliche Entwicklung hin, in deren Verlauf nach Freud die Ich-Funktion ausgebildet wird. Florian Werner und Margarete Eisner rekapitulieren, dass Kinder etwa im Alter von vier Jahren beginnen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, das heißt deren Urteile zu antizipieren. Parallel zu seinen kognitiven Fähigkeiten entwickelt sich dann eben auch das Potential zur Schüchternheit. "Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören", heißt es bei Hermann Hesse. So gesehen, wäre der Schüchterne der ewige Geburtsverweigerer, unfähig Fremdwahrnehmung und Ich-Nähe miteinander zu verbinden.

Florian Werner, der von der täglichen Begrüßung seines Spiegelbildes bis hin zu Konfrontationsexperimenten (eine wildfremde Person am Telefon in ein sinnloses Gespräch verwickeln) alles ausprobiert hat, bezweifelt die Effektivität solcher Ego-Polituren. Kann man sich bei Eisner an verschiedenen Pathologisierungsdiskursen von Freud bis Alfred Adler abarbeiten, schwenkt Werner rasch um zur Mentalitätsgeschichte des Phänomens. Das Wort "schüchtern" taucht im sechzehnten Jahrhundert erstmals auf und bezieht sich ursprünglich auf scheue Tiere. Im Wörterbuch der Grimms finden sich später folgende Synonyme: "zaghafte Unsicherheit, blöde Befangenheit". Die Auffassung von Schüchternheit unterliegt damit deutlich einer Historisierung.

Die Emotionsforscherin Ute Frevert etwa koppelt die Disposition zu bestimmten Gefühlslagen an die Entstehung des neuzeitlichen Subjekts. Nur wer "ich" sagt, kann auch das "Du" auf sich beziehen und steht nun vor Problemen, die der vormoderne Mensch in dieser Form noch nicht gekannt haben mag. Florian Werner weitet die These von der Historisierung der "Schüchternheit" oder "Blödigkeit" aus. Als soziales Phänomen hänge sie eng mit der modernen Aufstiegsmobilität zusammen. Als es dem Bürger möglich wird, in sozial höhere Klassen aufzusteigen, wächst die Gefahr, sich zu blamieren. Ihm fehlt die Nonchalance des Adels und so läuft er Gefahr, bei jeder Gelegenheit rot anzulaufen. Damit nimmt die Problematisierung der Schüchternheit ihren Lauf.

In der "Ilias" wird aidós, der griechische Ausdruck für Schamhaftigkeit oder Scheu, mit edlen Tugenden in Verbindung gebracht: Der Schüchterne übt sich in vornehmer Zurückhaltung, Selbstbeherrschung und Anstand. Wie konnte es da passieren, dass heute allein in den Vereinigten Staaten mehr als zwanzig Millionen Menschen angeblich auf Sozialangst diagnostiziert werden? In der Briefkultur des achtzehnten Jahrhunderts hatte die Schüchternheit noch einen überaus positiven Ruf. Im romantischen Geniekult galt sie sogar als Künstlercharakter per se. Der sozial scheue Dichter sublimiert seine gehemmte Sozialität in seinen Schriften. Danach ist Schluss mit schüchtern.

Die ersten deutschen Ratgeber erscheinen wohl nicht zufällig um 1910. Durchsetzungskraft und Schneid sind im Kapitalismus gefragte Eigenschaften - wer sich vornehm zurückhält, geht leer aus. Florian Werner macht auf einen "psychologischen Paradigmenwechsel" aufmerksam, der von den achtziger Jahren an maßgeblich von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung APA eingeleitet wurde. Kannte das dort herausgegebene Handbuch "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM) bis zur dritten Auflage von 1980 die Diagnose Sozialangst gar nicht, wird die "social anxiety disorder" bald zu einer der häufigsten Diagnosen der westlichen Welt. Florian Werner berichtet, dass mehr als die Hälfte der Autoren des amerikanischen Diagnoseschlüssels auf undurchsichtige Weise mit der Pharmaindustrie verwoben ist. Schüchternheit wurde und bleibt pathologisiert - Heilung versprechen Antidepressiva.

Lediglich auf dem erotischen Markt scheint Schüchternheit noch eine Rolle zu spielen. Rehblicke werden ausgetauscht auch über hundertdreißig Jahre, nachdem Tolstoi seine Anna Karenina zu begehrensdidaktisch günstigen Zeitpunkten schamvoll erröten ließ. Aber auch das sind flüchtige Momente, die nicht aufwiegen können, dass Schüchternheit heute als soziales Defizit gesehen wird. Die Qualitäten schamvoller Zurückhaltung werden heute meistens in nostalgischen Zusammenhängen erwähnt. Der Volksmund weiß es: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.

Oder etwa nicht? Florian Werner schließt seine kleine Studie mit einem nachdenkenswerten Lob der verfemten Gehemmtheit: "Die Schüchternheit verseltsamt gewissermaßen die Alltagswelt. Sie legt einen zartrosa Schleier über das Einerlei, so wie die Schamesröte das Antlitz des Schüchternen umhüllt. Sie macht deutlich, wie kostbar, kompliziert und vergänglich unsere sozialen Beziehungen sind."

KATHARINA TEUTSCH

Florian Werner: "Schüchtern". Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft.

Nagel & Kimche Verlag, München 2012. 176 S., geb., 17,90 [Euro].

Margarete Eisner: "Über Schüchternheit". Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte.

V&R unipress, Göttingen 2012. 140 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Soo schüchtern ist der Autor zum Glück nicht, meint Manfred Koch erleichtert. Anderenfalls nämlich wäre der Rezensent womöglich gar nicht in den Genuss des Essays von Florian Werner gekommen. Werner aber nimmt allen Mut zusammen, um die Schüchternheit genauer zu betrachten, die eigene und die allgemeine, und das sogar mit Humor. Er nimmt Koch mit unter Schlabberpullis, in denen der schüchterne Autor sich verstecken kann, und berichtet mit für den Rezensenten überraschender Leichtigkeit autobiografisch über ein Leiden, zu dem er auch gleich eine Kulturgeschichte liefert, Stichworte: Casting-Gesellschaft und Internet! Dass der Autor ein ganz Gewiefter ist, der mit seiner Schwäche bloß kokettiert, diesen Verdacht wehrt Koch entschieden ab.

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