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Sie war intelligent, durchsetzungsfähig und konnte Menschen begeistern. Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935) aber ging in die Geschichte ein als die Frau, die die Schriften ihres Bruders verfälschte und sein Denken den Nationalsozialisten andiente. Ulrich Sieg hat eine Vielzahl unbekannter Dokumente entdeckt. Sie zeigen eine Frau, die ihren Ehrgeiz nur in der Rolle der Schwester ausleben konnte. Höchst erfolgreich publizierte sie den Nachlass ihres Bruders. Das Nietzsche-Archiv entwickelte sich zu einem Treffpunkt der Gelehrten, freilich kam auch Hitler zu Besuch. Eine dramatische…mehr

Produktbeschreibung
Sie war intelligent, durchsetzungsfähig und konnte Menschen begeistern. Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935) aber ging in die Geschichte ein als die Frau, die die Schriften ihres Bruders verfälschte und sein Denken den Nationalsozialisten andiente.
Ulrich Sieg hat eine Vielzahl unbekannter Dokumente entdeckt. Sie zeigen eine Frau, die ihren Ehrgeiz nur in der Rolle der Schwester ausleben konnte. Höchst erfolgreich publizierte sie den Nachlass ihres Bruders. Das Nietzsche-Archiv entwickelte sich zu einem Treffpunkt der Gelehrten, freilich kam auch Hitler zu Besuch. Eine dramatische Geschichte der Ideen, der Politik - und eines höchst ungewöhnlichen Geschwisterpaars.
Autorenporträt
Ulrich Sieg, geboren 1960 in Lübeck, ist Historiker und Publizist. Er hat an der Philipps-Universität Marburg eine außerordentliche Professur inne. Schwerpunkt seiner Forschungs- wie seiner publizistischen Tätigkeit sind die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die Politische Ideengeschichte seit 1800, die Geschichte des deutschen Judentums im Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie die Geschichte des Antisemitismus. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe (Berlin 2001), Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus (Hanser, München/Wien 2007) sowie Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (2013) und Die Macht des Wissens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt (2019).. Seine Forschungs- und Vortragstätigkeit führt ihn regelmäßig ins Ausland. www.staff.uni-marburg.de/~sieg
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2019

Die Übermenschin
„Die Macht des Willens“: Ulrich Sieg analysiert das niederschmetternd erfolgreiche Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche
Man liest die Hauptthese der neuen Studie „Die Macht des Willens“ des Marburger Historikers Ulrich Sieg zunächst einmal mit Skepsis. Er möchte nämlich die 1846 in Röcken geborene und 1935 in Weimar verstorbene Elisabeth Förster-Nietzsche als „Zentralfigur der Ideengeschichte“ ausweisen, zu der sie auf „höchst eigentümliche Art“ geworden sei. Und Unbehagen mag einen beschleichen, wenn für Sieg die gerne als „Schwester“ titulierte Förster-Nietzsche nicht etwa deshalb zu dieser „Zentralfigur“ wurde, weil sie bereits zu Lebzeiten eine vielfach überführte Fälscherin von Schriften und Briefen ihres Bruders war. Und Ulrich Sieg rekurriert für seine These auch nicht auf die vor allem dank Förster-Nietzsches Nachlasspolitik fatale Rezeption des Bruders im „Dritten Reich“ oder ihre enge Bekanntschaft mit Hitler und anderen Größen des Nationalsozialismus. Wie also kommt er zu seiner Einschätzung?
Ulrich Sieg hat erstmals systematisch den wohl größten Einzelnachlass in deutschen Archiven durchkämmt. Er stimmt Förster-Nietzsches Schriften, Briefe und Tagebuchäußerungen mit den Strategien ab, die sie anwandte, um Friedrich Nietzsche zu einem Meisterdenker und Propheten zu machen und spürt den widersprüchlichen Reaktionen auf ihre Aktivitäten nach. Dass Förster-Nietzsche ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Bruder hatte, der Nachlass zu dieser Beziehung von ihr selbst vorgenommene Manipulationen aufweist, welche die Schlüssellochperspektive als die einzig mögliche erscheinen lassen, notiert Sieg provokativ nüchtern. Wichtig ist ihm, wie Förster-Nietzsche die gemachten Erfahrungen verarbeitete, welche Welt sie sich dabei erschuf. Letzteres wird sich als entscheidend für die Einschätzung Förster-Nietzsches erweisen.
Bereits ihre Heirat mit dem von Nietzsche wegen seines Antisemitismus abgelehnten Verehrers Bernhard Förster wird rasch nach dessen Tod 1889 zu einer Geschichte, in der Höheres die entscheidende Rolle spielt. Dieses Höhere lässt sich am besten mit einem milden Auserwähltheitsglauben beschreiben. In einem von Elisabeth anonym publizierten Buch finden sich zahllose Erfindungen über die Zeit des Ehepaars in Paraguay und das nicht erst mit dem Tod Försters gescheiterte Projekt der Kolonie „Nueva Germania“. Aber alles klingt plausibel, ganz auf die Bedürfnisse des modernen Bürgertums zugeschnitten, das die Moderne skeptisch betrachtet, wie es deren Vorteile zu nutzen weiß. Förster-Nietzsche „plaudert“ sich, so Sieg, durch die Geschichten. Aber sie tut es mit klaren Akzentsetzungen, weiß genau, was sie erzählt, was nicht. Die vermeintliche Harmlosigkeit folgt dabei keinem durchtriebenen Programm, und ihre an den Schriften Friedrichs orientierte, mit einem erstaunlichem Gespür für die geistige Situation der Zeit geschriebene Prosa verschränkt geschickt innere Aufrichtigkeit, Stimmigkeit und Ressentiment.
Talent macht zumeist übermütig, doch Förster-Nietzsche ist aus anderem Holz geschnitzt. Die Pflege des zusammengebrochenen Bruders ist verbunden mit Herrschaftswissen dank des direkten Zugangs zu seinen Manuskripten und Briefen. Bereits der erste, 1895 erschienene Band ihrer Biografie setzt die entscheidenden Akzente, mischt private Einblicke mit dem Abdruck unbekannter Dokumente, präsentiert Nietzsche als reine Seele und Weltgeist. Auf so einen hat man gewartet und nicht minder auf die authentische Stimme, welche die von vielen geahnte Größe Nietzsches endlich bestätigt. Das Buch wird ein Erfolg, es stößt die Tore für die Marke „Friedrich Nietzsche“ weit auf.
Förster-Nietzsche erweist sich in all den folgenden Deutungskämpfen, den Auseinandersetzungen mit der Mutter, dem Antichambrieren bei falschen und echten Freunden, dem Durchsetzen ihrer Interessen, der Etablierung von Editionen und schließlich dem Bau der Villa Silberblick, die das Nietzsche-Archiv im Musenwitwensitz Weimar beherbergen wird, wie die Dirigentin eines Riesenorchesters: ohne Ahnung von der Partitur, doch mit sicherem Schlag und mit der Gewissheit, dass ihre Botschaft obsiegen wird.
Sieg lässt die Prominenten und Unbekannten aufmarschieren, die mal die Erfolgsgeschichte beschleunigen, dann wieder in die Räder greifen wollen. Der notorische Harry Graf Kessler, ebenso wie die Philosophen Bruno Bauch und Hans Vaihinger, den Anthroposophen Rudolf Steiner und viele weitere, die Förster-Nietzsches Bahnen kreuzen und dennoch nur mal als halb bewusste, mal gänzlich naive Handwerker am Mythenschrein namens Nietzsche mitarbeiten. Es ist ganz erstaunlich, wie es dazu kommt, dass Förster-Nietzsche sich bei all den Balgereien hält. So schroff die Angriffe sind, so viel Neid ihr entgegenschlägt oder sie für dumm und schädlich erklärt wird – sie hält Kurs.
Sie lässt neue Bücher über den Bruder erscheinen, die weitere Gemeindemitglieder werben. Der Nietzsche-Strom reißt nicht ab, zumal Förster-Nietzsche sowohl als Marketingkennerin wie auch als Editorin reüssiert. Denn es finden sich immer wieder trunkene Jünger und Anbeterinnen, die sich in die Bresche werfen, wenn die Philologen ob der zahllosen Eigentümlichkeiten der Konstrukteurin des „Willens zur Macht“ mal wieder mäkeln mit ihrem zur „geistigen Dürftigkeit neigenden Standpunkt“.
Förster-Nietzsche schreibt unentwegt weiter an dem 1895 einmal festgelegten Bild des Bruders, das wie ein Magnet alle und alles anzieht, was sich selbst als Deutsch versteht. Es gehört zu den großen Verdiensten von Ulrich Siegs Buch, dass er all die vorgetragenen Gesänge und Hymnen auf Reinheit und Geist, Wille und Macht nicht denunziert, sondern auf ihren epistemologischen Gehalt abklopft. Dadurch erst wird das Amalgam und seine Zusammensetzung kenntlich: die Mischung aus Moderne-Rhetorik und reaktionärer Grundstimmung, rassistisch konnotierten Argumenten, die zugleich eine immense Kenntnis der Geistesgeschichte verraten. So braut sich nach 1900 eine Lust am Arcanum zusammen, die ebenso fröhlich Andersdenkende ausgrenzt wie sie um das Besondere ihres Tuns und Trachtens weiß. Mittendrin, mal lobend, mal tadelnd, immer genau abwägend: Elisabeth Förster-Nietzsche. Ob Kaiserreich, Weimarer Republik oder Drittes Reich, sie hält Hof und wacht in Weimar über die richtige Auslegung. Ihr Gespür für zweckgebundene Allianzen verliert sie ebenso wenig, wie das rechte Maß gegenüber den ideologischen Großwetterlagen. An der Trauerfeier nach ihrem Tod im November 1935 nimmt auch der „Führer“ teil, wenn auch nur kurz.
Es ist keine Frage, dass Förster-Nietzsche auf höchst eigentümliche Art zu einer Zentralfigur der deutschen Ideengeschichte wurde. Ulrich Sieg hat zur Stützung seiner These Bekanntes und Neues gemischt und sprachlich souverän dargestellt. Letztlich ist sein Buch aber ein Beitrag zur Frage nach dem Deutschsein. Zusammen mit der Biografie über den Theologen Paul de Lagarde und seiner Studie zur Philosophie im Wilhelminismus hat Sieg ein einzigartiges Triptychon aus Antwortversuchen geschaffen. Wenn ein Wunsch zu äußern wäre: angesichts des auch international deplorablen Mangels an guten Nietzsche-Biografien wäre Ulrich Sieg der erste Kandidat für eine neue Darstellung. Titelvorschlag: Der Bruder.
THOMAS MEYER
Ulrich Sieg: Die Macht des Willens. Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt. Hanser Verlag, München 2019. 430 Seiten, 26 Euro.
Für das Kolonie-Projekt „Nueva
Germania“ ging sie mit Bernhard
Förster zeitweilig nach Paraguay
Auf höchst eigentümliche Art
wurde sie zu einer „Zentralfigur
der deutschen Ideengeschichte“
Wächterin und Fälscherin der Schriften Friedrich Nietzsches: Elisabeth Förster-Nietzsche.
Foto: Süddeutsche Zeitung
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2019

Also sprach die Kolonistin

Geländegängig und mit ausgeprägtem Willen zu skrupelloser Editionspolitik: Ulrich Sieg will Elisabeth Förster-Nietzsche entskandalisieren.

Nach Kerstin Deckers Biographie über Elisabeth Förster-Nietzsche aus dem Jahr 2017 ist nun eine zweite, von dem Historiker Ulrich Sieg verfasste mit anderer Schwerpunktsetzung erschienen. Ging es Decker um die Rekonstruktion eines Bewusstseinsraums und die Arbeit am Nachlass, zeichnet Sieg eine stärker zeithistorische Ansicht seiner Figur. Die vielfach zur "Unperson" erklärte Nachlassverwalterin Nietzsches soll entskandalisiert und aus den familiären, ideologiegeschichtlichen und insbesondere archivpolitischen Zusammenhängen heraus verständlich werden, in denen sie tätig war. Dabei liegt auch das Augenmerk dieser Biographie auf der strategischen Energie und "Geländegängigkeit" der "Schwester".

Grundlage von Siegs Darstellung sind die Briefe, Tagebücher und Schriften, aus denen sich das Leben Elisabeth Förster-Nietzsches, ihre Werkpolitik, ihre politischen Einstellungen und Manöver lückenlos erschließen lassen. Unerschöpfliches Material der Biographie sind damit Texte, die in jedem Satz Interessenspolitik betreiben und die triumphale Ich-Imago ihrer Autorin in den Vordergrund spielen. Jede neue Lebensstation produziert neue euphemistische Selbstdarstellungen, neue Übertreibungen und Verzerrungen, die eine als unbefriedigend empfundene Realität strategisch verzeichnen und zugleich als Äußerungen eines unerbittlichen "Zielwillens" auftreten.

Diese Tendenz zeigt sich exemplarisch zunächst in den Briefen, die sie in den Jahren aus Paraguay schrieb, wohin sie ihrem Ehemann, dem Antisemiten Bernhard Förster, 1886 gefolgt war, um mit ihm gemeinsam auf preiswertem Boden die "rein germanische" Kolonie Nueva Germania zu gründen. Von hier aus schreibt sie und publiziert sie, um die Lage der in Finanznöte gestürzten Siedlung zu beschönigen, mögliche Geldgeber zu Spenden zu animieren und weitere Auswanderer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Südamerika zu locken.

Seit dieser Zeit changieren ihre Darstellungen zwischen Legende und Triumph. Schönfärberische Fiktion und Selbstfeier ihres Wirkens sind die rhetorischen Mittel, mit denen sie sich der Wirklichkeit bemächtigt, um sie ihren Interessen gemäß umzugestalten. Diesen Weltaneignungsgestus macht Sieg auch für die Folgezeit sichtbar. Das koloniale Projekt, das mit dem Bankrott und Selbstmord Bernhard Försters im Jahr 1889 jäh zu Ende kommt, findet in der Gründung des Nietzsche-Archivs seine unmittelbare Fortsetzung. Das neue Territorium, dessen sie sich bemächtigt, ist auch schon zu dessen Lebzeiten der Nachlass ihres Bruders, der nun zum Gegenstand der Legendenbildung wie der Herrschaftsausübung wird. Bis zum Ende bleibt sie "Kolonistin", wie der Nationalsozialist und Rektor der Jenaer Universität Meyer-Erlach in einem Huldigungsschreiben feststellt.

Hier wird nun weiter sichtbar, wo diese Legendenbildung ansetzt, welche editorischen Konsequenzen sich aus ihr ergeben, aber auch wie flexibel Förster-Nietzsche auf die wachsende Nachfrage nach Nietzsches Schriften und die weltanschaulichen Orientierungsbedürfnisse seiner Leser reagierte. Rastlos und skrupellos in ihrer Editionspolitik, modelliert sie einen Nietzsche für die wilhelminische Öffentlichkeit. Früh versteht sie, dass Nietzsche-Ausgaben immer auch politische Interventionen sind, die es ihr ermöglichen, die eigenen hegemonialen Interessen zur Geltung zu bringen.

Der aphoristische Charakter von Nietzsches Aufzeichnungen kommt einer solchen modularen, interessensgelenkten Editionspolitik entgegen, die auch die nachhelfende Fälschung für legitim erachtet. Als die Nachfrage nach einem Hauptwerk Nietzsches größer wird und der Ruf des Bruders es zu erfordern scheint, dass er vom Aphoristiker zum Systematiker umgeschaffen wird, präsentiert sie ihn mit der Herausgabe von "Der Wille zur Macht" als Schöpfer eines geschlossenen Gedankensystems. Dreißig Jahre nach Nietzsches Tod, als die Urheberrechte vor dem Erlöschen stehen, sorgt sie dafür, dass ihre Edition nun als originäre Leistung des Archivs anerkannt wird, um auch weiterhin und nun auf der Basis ihrer eigenen "kühnen Veränderungen" profitieren zu können. Die Archivleiterin ist zugleich eine äußerst erfindungsreiche Finanzchefin und Fundraiserin.

Die zeithistorischen Voraussetzungen ihres Handelns werden von Sieg klug und gut dosiert entfaltet. Dies gilt besonders für die Darstellung der politischen, philosophischen und ideologischen Gemengelagen, in denen das Archiv und seine Leiterin während des ersten Weltkrieges, in der Weimarer Zeit bis zur Machtübernahme 1933 manövrieren. Umfassend beschreibt Sieg die Strategien und Taktiken Förster-Nietzsches in einem von "philosophischen Großmächten" und divergierenden politischen Kräften beherrschten Feld, die Nietzsche jeweils für sich zu vereinnahmen suchten. Diese werden nicht anekdotisch-biographisch, sondern in Form der "intellectual history" vorgestellt und tragen so zu einer Neuverortung des Archivs in der wilhelminischen wie in der Weimarer Diskurslandschaft bei.

Genau wird beispielsweise die Verbindung des Nietzsche-Archivs zu den Universitäten dokumentiert, die sich der Philosophie Nietzsches zu öffnen beginnen und von denen sich Förster-Nietzsche die akademische Nobilitierung der Philosophie ihres Bruders erhofft. Hier sind die Kant-Forscher Hermann Vaihinger und Rudolf Bauch ihre Ansprechpartner, deren Ansichten doch während des Ersten Weltkrieges deutlich auseinandertreten.

Während Vaihinger Nietzsche auch im Ersten Weltkrieg als Europäer gelten ließ und gegen dessen nationalistische Vereinnahmung protestierte, betrachtete Rudolf Bauch Nietzsche als genuin Deutschen und kam den Überzeugungen der Archivleiterin auch dadurch entgegen, dass er in einem 1916 in den Kant-Studien erschienenen Essay "Vom Begriff der Nation" den Ausschluss der Juden aus der deutschen Kulturnation forderte.

Voraussetzungen dieser Kontakte war die wechselseitige Nutznießung, das gilt auch für Oswald Spengler, Nikolaus Sombart und Alfred Bäumler. Andererseits war es ein Anliegen der Villa Silberblick, auch mit jüdischen Nietzscheanern im Gespräch zu bleiben, immer unter der Voraussetzung, dass sie der Bedeutung der Archivleiterin wortreich Ausdruck verliehen. Förster-Nietzsche ging stets vom "vorübergehenden Charakter" ihrer Kooperationen aus. Ihre letzten Kooperationspartner waren die Nationalsozialisten, auf die sich die Verehrerin Mussolinis nach anfänglichen Vorbehalten einließ. Mental ist sie jedoch ein Produkt des Wilhelminismus. Das macht Sieg unmissverständlich klar.

JULIANE VOGEL.

Ulrich Sieg: "Die Macht des Willens". Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Welt.

Carl Hanser Verlag, München 2019. 432 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Jens Hacke liest Ulrich Siegs Biografie über Nietzsche-Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche mit Interesse. Marketing-Strategien und Manipulation des Nietzsche-Bildes durch die Schwester kann ihm der Ideenhistoriker anschaulich vor Augen führen, wenngleich Sieg es nicht dabei belasse, Elisabeth lediglich als "Hexe der Philosophiegeschichte" zu brandmarken. Vielmehr wusste Nietzsche-Förster, wie sie ihren Bruder der "deutschtümelnden Rechten" mundgerecht servierte. Dass der Autor viel Personal aufbietet, Bekanntes mit zahlreichen Dokumenten neu ergründet und die Bedeutung der Kulturgeschichte in der Nietzsche-Rezeption verdeutlicht, findet Hacke löblich. Dass das Buch zudem "aufregend" und gut geschrieben ist, lässt ihn eine klare Lektüre-Empfehlung aussprechen.

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"Es ist keine Frage, dass Förster-Nietzsche auf höchst eigentümliche Art zu einer Zentralfigur der deutschen Ideengeschichte wurde. Ulrich Sieg hat zur Stützung seiner These Bekanntes und Neues gemischt und sprachlich souverän dargestellt." Thomas Meyer, Süddeutsche Zeitung, 06.02.19

"Die zeithistorischen Voraussetzungen ihres Handelns (von Elisabeth Förster-Nietzsche) werden von Sieg klug und gut dosiert entfaltet. Dies gilt besonders für die Darstellung der politischen, philosophischen und ideologischen Gemengelagen, in denen das Archiv und seine Leiterin während des ersten Weltkrieges, in der Weimarer Zeit bis zur Machtübernahme 1933 manövrieren. Umfassend beschreibt Sieg die Strategien und Taktiken Förster-Nietzsches in einem von "philosophischen Großmächten" und divergierenden politischen Kräften beherrschten Feld, die Nietzsche jeweils für sich zu vereinnahmen suchten." Juliane Vogel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.19

"Ulrich Sieg entkräftet die Vorurteile und Vorwürfe gegen Elisabeth Förster-Nietzsche nicht, aber er gibt differenzierte Erklärungen für ihr Verhalten. Zudem zeigt er, dass sie (...) eine der bemerkenswerten weiblichen Karrieren ihrer Zeit gemacht hat und eine Schlüsselfigur des deutschen, ja angesichts der Verbreitung von Nietzsches Schriften des europäischen Geisteslebens war." Alfred Pfabigan, Die Presse; 16.03.19

"Ulrich Sieg macht mit seiner Biographie Elisabeth nicht liebenswerter, aber verstehbarer." Helmut Petzold, BR 2 Diwan, 27.01.19…mehr