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Elias' Studien über die Deutschen sind Beiträge zu einer »Biographie Deutschlands«, jeweils konzentriert auf die Wilhelminische Gesellschaft, die Weimarer Republik, den Hitlerstaat und die Bundesrepublik. Charakteristisch für den Autor ist auch hier die Zusammenschau von Vorgängen der Staatsbildung und der Bildung sozialer Persönlichkeitsstrukturen der Individuen. Der Blick für die Besonderheiten deutscher Entwicklungen wird geschärft durch Vergleiche mit anderen Ländern. Elias beobachtet die Gegebenheiten im Kontext sowohl langfristiger Prozesse als auch der Machtverhältnisse verschiedener…mehr

Produktbeschreibung
Elias' Studien über die Deutschen sind Beiträge zu einer »Biographie Deutschlands«, jeweils konzentriert auf die Wilhelminische Gesellschaft, die Weimarer Republik, den Hitlerstaat und die Bundesrepublik. Charakteristisch für den Autor ist auch hier die Zusammenschau von Vorgängen der Staatsbildung und der Bildung sozialer Persönlichkeitsstrukturen der Individuen. Der Blick für die Besonderheiten deutscher Entwicklungen wird geschärft durch Vergleiche mit anderen Ländern. Elias beobachtet die Gegebenheiten im Kontext sowohl langfristiger Prozesse als auch der Machtverhältnisse verschiedener Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Ein gemeinsames Grundmotiv aller Studien findet sich in der Frage nach den spezifisch deutschen Traditionen, die den Ausbruch der Barbarei in der Nation von Goethe, Kant und Schiller möglich gemacht haben (und wieder möglich machen könnten). Elias spricht explizit davon, daß ihm sein Lebensthema, die Erforschung von Zivilisationsprozessen, durch diese Erfahrung aufgegeben wurde: »Hinter den hier veröffentlichten Untersuchungen steht - halb verborgen - der Augenzeuge, der nahezu neunzig Jahre lang den Gang der Ereignisse miterlebt hat.«
Autorenporträt
Elias, NorbertNorbert Elias (1897-1990) wurde am 22. Juni 1897 in Breslau geboren, wo er auch seine Kindheit verbrachte und nach dem 1. Weltkrieg Medizin und Philosophie studierte. Er promovierte bei Richard Hönigswald, wechselte bald zur Soziologie und wurde »inoffizieller Assistent« bei Karl Mannheim. 1933 floh er aus Deutschland über Paris nach England. Von 1954 bis 1962 war er Dozent für Soziologie an der Universität von Leicester, ab 1965 nahm er verschiedene Gastprofessuren unter anderem in Deutschland wahr; größere Anerkennung setzte hier aber erst mit der breiten Rezeption von Über den Prozeß der Zivilisation ein. 1977 erhielt er den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Ab 1984 ließ er sich dauerhaft in Amsterdam nieder, wo er am 1. August 1990 starb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2004

Land (schon wieder) unter oder Wohin treibt die Zeitdiagnostik?
Von Ruckbüchern und anderen Möglichkeiten, über Deutschland nachzudenken: Ein Rückblick auf zwei "Soziologien der Bundesrepublik" / Von Jürgen Kaube

Jeden Monat erscheint ein neues Buch, in dem Deutschland Reformen verordnet werden. Gefragt wird, ob Deutschland oder jedenfalls der Kapitalismus in diesem Land noch zu retten ist, wie ein Jenseits der blockierten Republik aussehen könnte oder wie sich der Wiederaufstieg des einstigen "Superstars" gestalten ließe. Für diesen Ton in der Zeitdiagnostik gibt es eine Reihe von Gründen. Sie reichen von der hiesigen Bildungssituation über die demographischen Aussichten und die entnervenden Trägheiten des Gesetzgebungsprozesses bis hin zum Dickicht bestehender Rechtsregeln, den Mangel an politischer Opposition und zur fiskalischen Lage.

Allerdings sind die Listen dessen, worüber man sich beschweren kann, in Deutschland seit jeher lang. Vielleicht auch darum, weil das Land seit einiger Zeit schon in der Frage, was an ihm denn spezifisch gut ist, sich ganz auf Wirtschaftsdaten, ein Gefühl proportionaler Entlohnung für gezeigten Fleiß und einen bestimmten Zustand des Straßenbildes konzentriert hat - alles abweichungsempfindliche Sachverhalte. Zugleich tragen Übertreibungen und ein Hang intellektueller Zeitdiagnostik hierzulande, Deutschland auch in der Misere für exzeptionell und gewissermaßen auch negativ großartig zu halten, vielleicht selber zu jener Art von Zukunftsangst bei, die sowohl der Konsumquote wie der Bereitschaft, Kinder zu haben, der sozialen Kraft zu Experimenten wie der Fähigkeit zu individuellem Entscheiden abträglich ist. Mitunter wird der Reformbedarf so umfassend dargestellt, daß unterhalb einer vollständigen Transformation des Landes keine Rettung vor dem Ruin des Landes möglich scheint. Manche schreiben, als würden sie es sofort gegen Schweden oder Kanada, hertauschen. Glaubt man den Statistiken zum "brain-drain", der Abwanderung deutscher Wissenschaftler gen Westen, so tauschen es tatsächlich manche her - und die Zeitdiagnostiker selber vielleicht nur darum nicht, weil sie als solche stärker an die deutsche Sprache und den deutschen Sachbuchmarkt gebunden sind.

Doch abgesehen davon, wieviel Dramatik einer Diagnose guttut, wirft das Genre der Zeitdiagnostik noch eine andere Frage auf, die nach ihrer Machart. Versteht es sich doch nicht von selbst, daß die Analyse eines Landes als eines in sich zusammenhängenden Ganzen überhaupt möglich ist. Die meisten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen sind ihrem Selbstverständnis nach nur lose an nationalstaatliche Gebilde gebunden. In der Regel beziehen sie sich auf die gesamte OECD-Welt und versuchen, diese als "moderne Gesellschaft" von einem Schlüsselbegriff her zu beschreiben. Es handelt sich dann beispielsweise um eine kapitalistische oder eine Industriegesellschaft, eine Informations- oder um eine Wissensgesellschaft, eine Risiko- oder eine Erlebnisgesellschaft. Entweder also wird ein bestimmtes Gebiet des sozialen Lebens wie die Wirtschaft oder die Wissenschaft als prägend auch für die meisten anderen Gebiete unseres Lebens behauptet; oder ein alle gesellschaftlichen Felder durchziehendes Merkmal wie "Technisierung" oder "Individualisierung" wird hervorgehoben. Der Begriff der Gesellschaft zeigt dabei die universelle Verbreitung des entsprechenden Merkmals an. Es wäre eigenartig, von einer deutschen Risiko-, einer deutschen Industriegesellschaft zu sprechen.

Schon Zeitdiagnosen dieser Machart setzen sich dem Vorwurf aus, den engen Kontakt zu wissenschaftlichen Befunden durch stark stilisierte Trendaussagen und das Aufblasen vereinzelter Tatsachen zu Epochenzäsuren zu ersetzen. Wenn man beispielsweise aus dem Bild der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die Innovationen im Haftungsrecht, den Wohlfahrtsstaat und seine Infrastrukturen, die Epidemiologie und die Entwicklung der Finanzmärkte herausläßt, ist es einfacher, um 1970 herum eine Risikogesellschaft entstehen zu sehen. Und wenn man den Eindruck vermitteln kann, daß im neunzehnten Jahrhundert der Staat noch steuern konnte und durch strikte Befehlsketten, die über Beamte als Rädchen schnurrten, mit der Rationalität einer Maschine funktionierte, dann fällt es leicht, eine Epochenzäsur des politischen Handelns ins späte zwanzigste zu verlegen.

Um so mehr machen sich Zeitdiagnosen angreifbar, die zur Reform ganzer Länder aufrufen. Lassen sie nicht in ähnlicher Weise alle Ähnlichkeiten des Landes, das sie beschreiben, mit seinen Nachbarn unter den Tisch fallen? Und verwenden sie nicht dieselbe Technik, wenn sie die Schulen aus Finnland, die Arbeitsmärkte aus den Vereinigten Staaten, die Bevölkerungspolitik aus Frankreich, den Sozialstaat aus Holland und die Einwanderungsgesetze aus Neuseeland haben wollen? Begriffe wie "benchmarking" oder "best practice", aus denen manche die Lizenz zu diesem vermeintlichen Lernen von den besten Vorbildern ziehen, unterschätzen vermutlich, wie eng beispielsweise die Art der französischen Schulen, von denen man nur den ganzen Tag, aber nicht den Paukunterricht haben will, mit der dortigen Nachwuchspolitik und diese wiederum mit dem politischen Zentralismus zusammenhängt. Überdies werden Reformvorschläge, die dazu auffordern, dann eben das Land "durchgreifend" zu ändern, vorgetragen, als befinde man sich in bezug auf Deutschland politisch in einer revolutionären oder Nachkriegssituation, die zu Durchgriffsphantasien beim Ändern alles Ineffizienten und Widersinnigen berechtigt. So plausibel die Rede davon ist, daß Reformen schwierig sind, weil die Wähler - sofern sie nicht der "Generation Reform" oder ähnlichen Ruckkohorten angehören - zuerst an ihre eigenen Interessen denken, so sehr läuft sie darauf hinaus, daß die Demokratie das größte Reformhindernis ist; ein Befund nebenbei, dem in Gestalt der Umwegsreform durch Europarecht und EU-Kommissionspolitik längst auch eine institutionelle Form gegeben worden ist.

All diese Schwierigkeiten einer intellektuell einleuchtenden Zeitdiagnose für Nationalstaaten lassen sich bündeln in der Frage, ob es so etwas geben kann wie eine "Soziologie Deutschlands". Historisch ist die Frage beantwortet. Vor knapp fünfzig Jahren erschienen gleich zwei lehrreiche Beispiele für diese Gattung: Ralf Dahrendorfs "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" und die im selben Jahr 1965 zuerst erschienene Aufsatzsammlung Helmut Schelskys "Auf der Suche nach Wirklichkeit", die den Anspruch, zu einer "Soziologie der Bundesrepublik" beizutragen, sogar in ihrem Untertitel führt.

Aufschlußreich sind beide Zeitdiagnosen durch die Art und Weise, in der sie sich zwischen Aufklärung und Appell entscheiden. Schelsky wichtigster Befund steckt in seiner These vom Realitätsverlust, den die moderne Gesellschaft bei ihren Bewohnern hervorbringe. "Die höchst realen und unaufhebbaren Superstrukturen unserer Gesellschaft, insbesondere die großen bürokratischen Massenorganisationen der Daseinsfürsorge, fixieren und zementieren das Sozialbewußtsein ihrer Entstehungsepoche, abgelöst von ihrem eigenen Funktionswandel und den Strukturveränderungen der Gesamtgesellschaft. Wir erleben die Vorgänge einer modernen Mythenentstehung am eigenen Leib, aber wir sind auch die Neuprimitiven, die in dieser mythisch verstellten Welt als ihrer Wirklichkeit leben." Das sollte heißen: Die Gebilde des Wohlfahrtsstaates, aber auch andere Organisationen wie die Universitäten, die Parteien, die Gewerkschaften oder die Massenmedien sind ihrer Entstehung nach auf Ideen und Probleme - wie Gerechtigkeit, Bildung, Armut, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder die Aufklärung - bezogen, die mehr und mehr den Charakter von Ideologien angenommen haben. Denn die "bürgerlich-proletarische Klassengesellschaft", die sie voraussetzen, existiert nicht mehr. Statt dessen zeige sich gerade in Deutschland als vorherrschender Befund eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft".

Nur ein gruppenspezifisches Interesse wirke dahin, den bezeichneten Realitätsverlust aufrechtzuerhalten, das der Ideen- und Ideologieproduzenten. Intellektuelle nämlich, womit Schelsky Publizisten so gut meinte wie Schriftsteller und Sozialwissenschaftler, übten in der modernen Gesellschaft die Funktion aus, die Kluft zwischen dem privaten Leben der Menschen und ihrem Verflochtensein in für sie unüberschaubare Zusammenhänge zu überbrücken. Diese Rolle jedoch entfalle, wenn das Bedürfnis, sich selbst als Teil einer Klasse, eines Berufsstandes oder eines "Projektes" zu begreifen, vohnehin erschwinde und die Kluft zwischen privatem Dasein und unverstandenem Ganzen hingenommen und bejaht werde.

In welchem Zusammenhang aber standen solche allgemeinen Reflexionen für Schelsky mit einer "Soziologie der Bundesrepublik"? Für ihn waren es der Zweite Weltkrieg, die Erfahrung des monströsen "Projektes" des Nationalsozialismus und die der Kriegsfolgen, die gerade in Deutschland eine fast beispiellos Hinwendung der einzelnen zum Privaten, Intimen und Überschaubaren, zu Familie und Beruf als den letzten "Stabilitätsresten" einer zerfallenden Epoche herbeigeführt hatten. Durch teils politisch, teils ökonomisch erzwungene Steigerung der sozialen Mobilität sei es nicht nur zu jenem nivellierenden Vorgang des Bedeutungsverlustes von sozialer Schichtung überhaupt gekommen. Auch andere eingeführte Orientierungsgrößen für die Beschreibung einer Gesellschaft wie Stadt und Land, Arbeit und Freizeit, Jugend und Alter hätten unterdessen an "Treffsicherheit" verloren.

Staat, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft als Großkomplexe mit Tendenz zur Ausbildung pathetischer Selbstbeschreibung verschwinden demgegenüber nicht, werden aber ganz von ihrer instrumentellen Seite aufgefaßt. Jede Teilnahme am öffentlichen Leben ist grundiert von Desinteresse gegenüber seinen mehr als funktionalen Gesichtspunkten. Das Bedürfnis nach Ideologie schrumpft, an seine Stelle trete eine "bejahte Desorientierung des sozialen Selbstbewußtseins". Entsprechend würden die Intellektuellen funktionslos.

Doch diese bejahte Desorientierung, in der die meisten Verzicht darauf leisten, das eigene Leben übergeordneten Programmen von Institutionen zu widmen, schließt für Schelsky nicht aus, daß die Leitbilder, die das private Dasein bestimmen, ihrerseits auf Wirklichkeiten aus einem überholten Gesellschaftszustand fixiert sind. Der Bürger hält das Bürgertum hoch, der Arbeiter fühlt sich auch als Facharbeiter, der durch Recht und Gewerkschaft und Umverteilung geschützt ist, noch als Exemplar derjenigen, die auf Gerechtigkeit für die Ausgebeuteten pochen sollten, das Bild der Familie hält sich als Norm gegenüber abweichenden Realitäten, für das der Universität, die nicht bildet, und das einer Avantgarde, die längst subventioniert wird, aber sich gleichwohl subversiv fühlt, gilt ähnliches

Damit wird deutlich, wie umfassend und nicht nur auf Politik konzentriert Schelsky seine Soziologie der Bundesrepublik verstanden wissen wollte. Die Kritik des Wohlfahrtsstaates, die heute das Minimalprogramm der Zeitdiagnostik oder jedenfalls der Ruckbücher zu sein scheint, führt dessen Wachstum heute zumeist auf Politikfehler, auf Verantwortungslosigkeit oder mindestens Mangel an Einsicht des politischen Personals und der Wähler zurück. Schelsky hingegen vermutete die Ursache für das Wachsen des Fürsorgeapparats in einer doppelten Dynamik. Zum einen derjenigen von Organisationen, die auf den Wegfall ihrer Entstehungsgrundlagen mit Propaganda reagieren. Eine Kulturwelt, der das Bürgertum abhanden gekommen ist, inflationiert den Bildungsbegriff, bis er zuletzt auch das Auflegen von Schallplatten umfaßt; ein Sozialstaat, dem weitgehend die Armut und die Verelendung der mit Sozialdemokratie drohenden Arbeiter abhanden gekommen sind, denkt sich ständig neue Ungerechtigkeiten aus, um Anlässe zur Aktivität zu finden; eine Medienwelt, der identifizierbare Trägerschichten des politischen Entscheidens fehlen, die sich dieses Entscheiden als Resultat eines Austauschs von Argumenten vorstellen, pflegt als "Berufsideologie" (Schelsky) den Dienst an der "öffentlichen Meinung".

Dieser Dynamik der Übertreibung, die eben nicht nur den Wohlfahrtssektor, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche kennzeichnet, antwortet auf seiten der sich von Großideologien abwendenden Menschen, so Schelsky, ein "kleingruppenhafter Egoismus" immer neuer Anspruchsbildung. Zugleich klammert sich auch das Leben im privaten Raum an die Ideale vergangener Zeiten, die solche Ansprüche um so mehr nähren, um so weniger sie, die Ideale, erfüllbar sind. Wenn etwa die Bauern darauf bestehen, Repräsentanten einer traditionalen Lebensweise und Naturverbundenheit zu sein, läßt sich selbst der Anschein davon nur mittels subventionierter Kulissen aufrechterhalten. "Die Folge dieser Irrealität des sozialen Selbstbewußtseins im privaten Lebensbereich bestehen in einer tiefen und konstitutionellen Vergeblichkeit der unter diesen Leitbildern unternommenen Lebensanstrengungen". Verhaltensunsicherheit geht mit steigenden Ansprüchen an andere einher. Und beides bringt den Staat als Adresse solcher Ansprüche und die Massenmedien sowie die Wissenschaft als therapeutische Produzenten von vermeintlichem Rat oder ersatzweiser Unterhaltung gesteigert ins Spiel.

Daß der Satz "Traditionsverlust ist Realitätsverlust", in dem all diese Analysen münden, ein zentraler Satz gerade innerhalb einer "Soziologie der Bundesrepublik" ist, hat Schelsky nicht eigens hervorgehoben. Aber es grundiert seine Beschreibungen, daß die Traditionsverluste, die der Aufstieg der modernen Gesellschaft mit sich bringt, hierzulande durch den Nationalsozialismus um ein Vielfaches gesteigert wurden.

Während für Schelsky die Bundesrepublik insofern ein besonders auffälliges Beispiel für Merkmale der modernen Gesellschaft überhaupt abgab, war der Ausgangspunkt für Ralf Dahrendorfs Deutschland-Studie genau der umgekehrte. Ihm schien eine Soziologie dieses Landes genau in dem Maße möglich, in dem es sich bei ihm um einen Sonderfall handelte. Dahrendorf lieferte 1965 die analytischen Instrumente, die statistischen Befunde und die normativen Kategorien einer Soziologie des deutschen Sonderweges, der für ihn freilich nicht wie für schlichtere Zeitgenossen mit dem Entstehen und der Stabilisierung der Bundesrepublik abgeschlossen war. Damit nahm er, damals sechsunddreißig Jahre alt, sowohl in seinen Befunden wie in seiner moralischen Einstellung zu seinem Gegenstand die wichtigsten Melodien dieses zeitdiagnostischen Genres, von Jürgen Habermas bis hin zu Paul Nolte, schon vorweg. Denn mit den Ruckbüchern teilt "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" zwar nicht deren naiven Appellstil, aber die grundsätzliche Einstellung, daß die Bundesrepublik ein äußerst modernisierungsbedürftiges Land sei.

Für Dahrendorf lag dieser Modernisierungsbedarf allerdings weniger in einer auf dem Gesetzesweg oder sonstwie sozialtechnologisch herbeizuführenden Veränderung einzelner staatlicher Fürsorgesysteme, in mehr Marktwirtschaft oder besseren Anreizen für eine Mutterschaft von Berufstätigen. Der Bundesrepublik, so Dahrendorf, mangele es grundsätzlich an Liberalität. "Die deutsche Frage ist die Frage nach dem Hemmnis der liberalen Demokratie in Deutschland." Damit war nicht in erster Linie gemeint, mit einem Land, in dem nur so wenige FDP wählen, sei etwas nicht in Ordnung. Vielmehr werde die Rolle des aktiven Staatsbürgers hierzulande nicht gepflegt. Der Umgang mit Einwanderern und Frauen zeige das ebenso wie die Delegation von öffentlicher Entscheidungsfähigkeit an Beamte, die alle Juristen seien. Die Bildungschancen seien nach wie vor hoch ungleich. Sekuritätsbedürfnisse dominierten Risikobereitschaft, man halte sich im Zweifel an überlieferte Bindungen und den Staat, reguliere alles rechtlich, wähle aus Tradition, fürchte also mit einem Wort den Wandel, anstatt ihn als den Generatoren von Freiheit zu begrüßen. "Wo immer widersprüchliche Interessen in der deutschen Gesellschaft aufeinanderprallen, besteht die Tendenz, autoritäre und inhaltliche statt versuchsweiser und formaler Lösungen zu suchen". Man sei grundsätzlich, mache alles zu Rechtsfragen oder delegiere Probleme an Experten, scheue Konflikte und sehne sich ständig nach Synthesen.

Dahrendorf trug diese Befunde, die sich ganz ähnlich auch in Norbert Elias' "Studien über die Deutschen" finden, freilich nicht als volkspsychologische vor, sondern als Soziologie: als Soziologie des Wahlverhaltens und des Streikverhaltens, der Stellung der Staatsanwaltschaft im deutschen Rechtsverfahren und der Zusammensetzung der politischen Eliten. Die Präferenz für Familien- gegenüber Schulerziehung sei ebenso deutsch wie der Vorzug der privaten vor den öffentlichen Tugenden, der Einsamkeit vor der Geselligkeit. Zusammenfassend urteilte Dahrendorf über die Deutschen, sie seien "unmoderne Menschen in einer modernen Welt".

Man könnte diesen Schluß mitsamt der Folgerung, dies beruhe in Wechselwirkung zwischen Sozialcharakter und Gesellschaft darauf, daß Deutschland ein unmodernes Land in einer modernen, nämlich liberalen Welt sei, über fast alle Zeitdiagnosen des Jahres 2004 schreiben und sich darüber wundern, wie lange sich manche Zeitdiagnosen doch zu halten vermögen. Und man könnte sich fragen, ob jener Satz von den unmodernen Deutschen nicht zum Verwechseln der Feststellung Schelskys ähnelt, wonach der ideologische Charakter des sozialen Selbstbewußtseins auch in Deutschland auf dem Hochhalten abgelebter Ideale beruhe.

Doch das Gegenteil trifft zu. Dahrendorfs Buch wollte schon damals als eines gelesen werden, das sich den Thesen Schelskys diametral entgegenstellt. Keine Beschreibung der Bundesrepublik wird von ihm heftiger, ja man kann sagen gereizter zurückgewiesen als die von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Eben sie beruht für Dahrendorf nicht nur auf einem "für den Soziologen nahezu unglaublichen Irrtum der Information", sondern ist für ihn die deutsche Ideologie par excellence. Weder hätten sich die wirtschaftlichen Positionen der Bürger relativ angeglichen, noch ihr Konsumstil oder ihre Chancen auf Bildung. Dies dennoch zu behaupten und wie Schelsky zu sagen "trotz aller Aufstiegerfolge, trotz aller Sicherheitsleistungen vermag der Einzelne kein Gefühl einer sozialen Ordnung oder Ortung seiner Person mehr in sich zu entwickeln. Aus dieser Auswegslosigkeit ihrer Grundantriebe ergibt sich nicht nur die ständige Unrast und Unsicherheit, sondern auch die stetig wachsende Unzufriedenheit der Menschen unserer Gesellschaft", dies zu behaupten entspreche genau der in der deutschen Gesellschaft strukturell verankerten Neigung, Kulturpessimismus mit der Leugnung und Minderschätzung von sozialen Konflikten zwischen Klassen und anderen Interessengegensätzen zu verbinden.

Schelsky dürfte im Aufruf "Mehr Konflikt wagen!" und dazu, den sozialen Wandel als solchen zu begrüßen, wohl seinerseits eine Ideologie erblickt haben. Doch dieser Streit und die wechselseitige Vermutung, die jeweilige Beschreibung Deutschlands diene ideologischen Zwecken, sind auch diesseits der Frage, wer denn nun im Recht war - eine Frage, die Dahrendorf nachgerade für deutsch halten müßte - für das Genre der Zeitdiagnostik interessant. Im Hinblick auf das mögliche Reflexionsniveau einer "Soziologie der Bundesrepublik" ist es hilfreich, die eigentümliche Alternative festzuhalten, die sich hier zeigte. Denn Deutschland erscheint in dieser Kontroverse als entweder mißlicher Sonderfall oder als das besonders deutliche Beispiel dafür, was eine moderne Gesellschaft überhaupt kennzeichnet. Für den einen Soziologen, Dahrendorf, war Deutschland darum der Gegenstand einer Erzählung - ein sozialhistorisches Individuum; für den anderen, Schelsky, ein Lieferant typischer Empirie, die sich auch, nur weniger leicht, aus der Wirklichkeit anderer Regionen und Länder hätte gewinnen lassen. Dem entsprechen zwei ganz unterschiedliche Aufgaben, die sich Zeitdiagnostik stellen mag: Die, zu veränderten Gesinnungen beizutragen, um Veränderungen anzustoßen; und die andere, Gründe dafür anzugeben, daß eine Gesellschaft, die sich ständig in Reformen befindet, regelmäßig an deren Ergebnissen nicht froh wird.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Stefan Breuer erhebt Einwände gegen Norbert Elias' "Studien über die Deutschen". So anregend er das Werk findet - ein work in progress, das, notabene, kein waschechter Elias ist, sondern von dem Herausgeber Michael Schröter stark bearbeitet wurde -, so eindimensional findet er doch die Lehre vom Zivilisationsprozess. Mit geradezu fatalistischer Konsequenz, meint Breuer, treibt Elias' Deutung der deutschen Geschichte diese in die Katastrophe, indem sie sie als alternativlose Gewaltgeschichte beschreibt. Anders als in den westlichen Nachbarländern hat - das ist die Prämisse - der deutsche Adel beim Zivilisationsprozess versagt. Es ist ihm nicht gelungen, die staatliche Gewalt zu monopolisieren. So blieb es bei der deutschen Vielstaaterei. Als dann die preußische Aristokratie doch endlich die gewaltmonopolisierende Aufgabe erledigte, importierte sie ins Bürgertum ihren von "Wildheit und Barbarei" geprägten Kriegerkodex, anstatt dass ihre Werte mit den bourgeoisen zivilisatorisch verschmolzen wären. Insofern kann man, wie Breuer feststellt, von einem "Zivilisationsbruch" des Dritten Reiches nicht sprechen, vielmehr liegt ein historisch weit zurückverfolgbares Scheitern des Zivilisationsprozesses vor. Aber, wendet der Rezensent ein, geht diese Rechnung denn auf? Der Adlige als der Wilde, der Vorzivilisatorische, das Bürgertum als sublimierende Kraft? Und gibt es nicht womöglich auch noch andere Entstehungsmöglichkeiten für staatliche Gewalt? Durch die "Monomanie" seiner Deutung beraubt Norbert Elias sich der Möglichkeiten differenzierterer soziologischer Wertungen, findet der Rezensent.

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