16,99 €
inkl. MwSt.

Sofort lieferbar
payback
8 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Wissen Sie, warum die Straßenbahnen in Krakau Helmuty heißen? Warum die Pampers Schlüsselpositionen in den öffentlich-rechtlichen Medien bekleiden und Dresiarzy, Trainingsanzugträger, als Protagonisten der polnischen New Economy gelten? Wissen Sie noch, was das Wunder an der Weichsel war? Was sich in Katýn und Jedwabne abspielte? Was es mit den Kresy, dem Handkuß und der Westerplatte auf sich hat? Warum der polnische Jazz so intellektuell, der Berlin-Warszawa-Express so beliebt und der Club der polnischen Versager so erfolgreich ist?

Produktbeschreibung
Wissen Sie, warum die Straßenbahnen in Krakau Helmuty heißen? Warum die Pampers Schlüsselpositionen in den öffentlich-rechtlichen Medien bekleiden und Dresiarzy, Trainingsanzugträger, als Protagonisten der polnischen New Economy gelten? Wissen Sie noch, was das Wunder an der Weichsel war? Was sich in Katýn und Jedwabne abspielte? Was es mit den Kresy, dem Handkuß und der Westerplatte auf sich hat? Warum der polnische Jazz so intellektuell, der Berlin-Warszawa-Express so beliebt und der Club der polnischen Versager so erfolgreich ist?
Autorenporträt
Peter, StefanieStefanie Peter, Jg. 1966, studierte Ethnologie, Afrikanistik und Kulturwissenschaften in Hamburg, Krakau und Frankfurt/Oder. Journalistin (u.a. für die FAZ). Bis 2006 Künstlerische Leiterin von "Büro Kopernikus. Deutsch-polnische Kulturprojekte
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2008

Erpicht auf Männer mit Autos

Auf höchst reizvolle Weise lernt der Leser dieser Buchmontage Polen kennen. Stefanie Peter führt Kulturwissenschaft auf die Höhe ihrer Möglichkeiten.

Das erhebliche Lesevergnügen, das Stephanie Peters "Alphabet der polnischen Wunder" bereiten kann, ist nicht leicht zu erklären und noch schwerer zu verteidigen. Denn von einem Wörterbuch kann kaum die Rede sein, wo die Stichworte Wurstmenschen, Ente, Schöne Frauen oder Nieprzysiadalnosc heißen. In diesem Wörterbuch wird niemand nachschlagen. Auch ein bloßes Blättern würde man aber bald einstellen, weil die Augen im schnellen Wechsel zwischen Fernsichten auf die polnische Nationalgeschichte und den detaillierten Erklärungen unbekannter Namen und Begriffe wie Hans Kloss oder Lumpex ermüdeten. Allenfalls würde solch ein Blätterer etwas bei den tatsächlich sehr gelungenen Zeichnungen von Maciej Sienczyk verweilen, die im Stile von Rosa Loy und Neo Rauch Versatzstücke von sozialistisch-realistisch naiver Bildlichkeit zu beklemmend humoristischen Rätseln montieren.

Nur, welchen Zweck kann es haben, das in der Kunst vielleicht ganz ersprießliche Prinzip der Montage auf Sachtexte zu übertragen? Ist es nicht, als hätte da jemand einen Sammelband zu Polen in unterschiedlich große Stücke zerrissen und einen Teil dieser Stücke in beliebiger Reihenfolge aneinandergeklebt? Doch eben das hat, liest man das Wörterbuch gemächlich von Abtreibung bis Zwillinge, eine eigene Wirkung, die der Sammelband nur schwerlich hätte.

Politik des dicken Strichs?

Natürlich gibt es auch schlechtere Beiträger. Martin Pollack zum Beispiel. Gleich unter dem ersten Stichwort "1968" berichtet er von der "beispiellosen" antisemitischen Kampagne, die, ja, man versteht es gar nicht genau, Studentenproteste als jüdisch gesteuert diskreditieren sollte und mit der zugleich - aber wie? - der Innenminister den Parteivorsitzenden zu diskreditieren beabsichtigte. Da heißt es dann einerseits, dass die Bevölkerung proisraelisch gesinnt war und die Partei mit ihrem Schmutzfeldzug den "letzten Rest an Glaubwürdigkeit" verlor. Andererseits soll die Kampagne auf "fruchtbaren Boden" gefallen und der Antisemitismus auch im kommunistischen Polen keine neue Erscheinung gewesen sein. Offenbar will Pollack gegen den Antisemitismus, aber nicht gegen die Polen schreiben. Ein solcher Eifer nach korrekter Gesinnung drückt sich auch aus, wenn er, ohne jede Erwägung von Gegenargumenten, die Politik des dicken Strichs ein zweifelloses Versäumnis nennt. "Der sorglose Umgang mit der Vergangenheit führte zu einer Vergiftung des Klimas und einem zunehmenden Verfall der politischen Kultur. Und ein Ende ist nicht abzusehen." Zeigt das nicht genau den deutschen Paternalismus, dem sonst in dem Buch viel Kritik gilt? Vielleicht ist es deshalb nicht nur dem beispiellos sorglosen Formulieren zuzuschreiben, wenn Pollack Polens Nationalcharakter durch ein adliges Wertesystem geprägt sieht, in dem "sogenannte bürgerliche Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Arbeitseifer, Ordnungsliebe nicht viel galten". Polnische Wirtschaft hatte Seume das vor zweihundert Jahren genannt.

Aber wie viel beredte Details bei anderen Autoren! Cord Riechelmann erzählt vom polnischen Wappenadler, der seit je nach links, also nach Westen blickt. Oder von den polnischen Saatkrähen, die im Winter entlang der Bahnstrecke St. Petersburg-Paris nach Berlin fliegen (und dann über der Berlinale kreisen), aber wegen der Erwärmung immer öfter in Polen bleiben. Oder den Störchen, die bedroht sein könnten, wenn die Kleinbauern fehlen, die Wiesen storchgerecht kurz zu halten. Von den Kleinbauern selbst handelt Helmut Höge, von Arbeitslosen, die aufs Land gehen und Subsistenzwirtschaft betreiben, von Milchziegen, die akademisch betreut in der Nähe von Breslau Bedürftigen zur Verfügung gestellt worden seien, von Städtern, die viel Land kaufen und es ohne Vertrag verpachten, um nämlich selbst die EU-Prämien zu kassieren.

Aber auch davon, dass erst Andrzej Wajdas Film "Der Kanal" den Warschauer Aufstand, den immer noch viele Deutsche mit dem Gettoaufstand verwechseln, dem Tabu der moskautreuen Geschichtsschreibung entzogen hat und dass der Aufstand vielleicht so zwecklos gar nicht war, weil es ohne ihn keine Solidarnosc und keinen runden Tisch gegeben hätte. Und wenn Diedrich Diedrichsen den Clou des polnischen Cool Jazz darin sieht, "daß Distanz-Gestik und Sonnenbrillen-Snobismus des amerikanischen Originals immer in Spannung zu sehr direkten und ungeschützt emotionalen Spielweisen gesetzt wurden", wird in feiner technischer Analyse musikalische Form als gesellschaftlicher Ausdruck gelesen.

Auch die polnischen Beiträger verallgemeinern. Aber da sie das, wie unwillkürlich immer, mit Blick auf den deutschen Leser tun, bleibt es bei Topoi wie dem Improvisationstalent oder dem Leid der polnischen Teilungen, vielleicht der Lust an Verschwörungstheorien. Die tragende Spannung ist vielmehr die zwischen den deutschen Verallgemeinerungen und den polnischen Erinnerungen, an Comics, Fernsehserien, sozialistische Produkte, Festivals. Und ganz besonders den polnischen Aversionen. Nach der Wende habe es den Sozialtypus der Blachara (von blacha, Blech) gegeben, eine "Art Mädchen, die zur Kultur der dresiarze gehört und ausschließlich auf Männer mit Autos erpicht ist - je teurer, desto besser". Dresziarz wiederum kommt von dres, Sportanzug, und meint die konsumorientierten Kleinhändler der Nachwendezeit. "Der dresiarz muß sich nicht unbedingt sportlich kleiden (obwohl er meist ins Fitneßstudio geht) - das dresiarstwo ist eher ein Geisteszustand."

Einen Provinzler bezeichnet man übrigens als Burak, rote Rübe, und ein Handy hieß entsprechend eine Weile Burakofon, Rübofon. Ein weiteres beliebtes Hassobjekt sind die Mohery, die Mohair-Barette, ältere Damen, die rabiat antikommunistische Ansichten in paradoxer Weise mit einer Sehnsucht nach vergangenen Zeiten vereinen, Zeiten, in denen Mohair noch eine Rarität war.

Polnische Vorurteile

Nieprzysiadalnosc heißt übrigens Ungeselligkeit und ist Stichwort wegen Marcin Swietlicki, der sich manchmal nicht gern zu anderen an den Tisch setzt und darüber ein mit Rockmusik selbstvertontes Gedicht geschrieben hat. Es bezeichnet die Generation, die nach der Wende ins literarische Leben Polens trat und nichts mehr wissen wollte von den gesellschaftlichen Verpflichtungen des Schriftstellers, sich aufs Private konzentrierte. Auch nichts mehr übrig hat diese Generation für den Widerstand. Die Solidarnosc-Helden heißen ihnen Styropor, nach dem Styropor, auf dem sie während der Streiks in den Werken geschlafen haben. Es gibt sogar einen bekannten Song "Schüttel ab das Styropor": "Die Mädchen, die ich aus dem Kessel kannte, sind dem Heldentum entwachsen." Wie problematisch eine solche Haltung ist, deutet einzig ein Beitrag zur Schwulenszene an, der beargwöhnt, dass "die Kultivierung marginalisierter Andersartigkeit einen bequemeren Weg der Verteidigung der eigenen Identität darstellt als der konsequent politische Kampf um Rechte".

Tatsächlich könnte man fragen, ob nicht Nieprzysiadalnosc und Dresiarstwo untergründig zusammenhängen, als Weisen eines Individualismus, der leer bleibt, weil ihm jede gemeinsame Sache - und sei es die der Freiheitsrechte - suspekt geworden ist. Im Übrigen hat die Abgrenzung von Neureichen, Provinzlern und alten Damen, die die Zeit nicht mehr verstehen, etwas durchaus Unsympathisches. Nur gereicht das dem Buch zum Vorteil, man wächst in die polnischen Vorurteilsstrukturen hinein. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie vielfältig Polen ist.

Das klingt banal. Auch ein Sachbuch, ein Reiseführer stellen ihr Land in vielen Aspekten vor. Nur bleiben es dann Aspekte, während der Leser im Durchlaufen der bunten Mischung von Heterogenem tatsächlich eine Erfahrung macht. Es ist eben ein ästhetisches Formgesetz, das hier waltet, und auch was Kunst sagt, klingt, begrifflich zusammengefasst, oft banal. Die Erfahrung aber, die der Leser mit der Vielfalt macht, ist eine kathartische. Bei der nächsten Gelegenheit wird er der Herausgeberin folgen: "Allzu viele Teilnehmer am deutsch-polnischen Verständigungsdiskurs haben die Weisheit mit Löffeln gefressen."

GUSTAV FALKE

Stefanie Peter: "Alphabet der polnischen Wunder". Ein Wörterbuch. Illustriert von Maciej Sienczyk. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 328 S., Abb., geb., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gustav Falke ist begeistert von diesem Buch, auch wenn er einräumt, dass es sich eher um einen Sammelband mit ungleich langen Beiträgen handelt als um ein Wörterbuch. Dabei hat er nicht nur begriffen, wie vielfältig Polen ist, er konnte auch ein wenig in echt "polnische Vorurteilsstrukturen" hineinwachsen! Doch die Beiträge sind von unterschiedlicher Qualität. Ganz schlecht weg kommt namentlich Martin Pollack mit seinen Texten über die antisemitische Säuberungswelle von 1968 und über den Schlusstrich. Dagegen mochte er Cord Riechelmanns Artikel über den polnischen Wappenadler sehr oder über die die Bahnstrecke Petersburg-Paris entlang ziehenden Saatkrähen. Lobend erwähnt werden auch Texte über den polnischen Cool Jazz, über Trainingsanzugsträger (Dresiarzy) und Mohair-Hüte tragende alte Damen sowie die Nieprzysiadalnosc, die Abkehr polnischer Schriftsteller vom Gesellschaftlichen.

© Perlentaucher Medien GmbH