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12 Kundenbewertungen

»Eine begnadete Schriftstellerin. Eindrücklich, dunkel und poetisch.« Patti Smith
Dunkelheit und Licht, Grausamkeit und Liebe. Eine große Familiensaga in einem von Extremen geprägten Land. Mariana Enriquez führt uns durch die verschlungene Geschichte Argentiniens, hin zu den Abgründen der Macht. Eine einzigartige Vater-Sohn-Geschichte, in der doch die Frauen alle Fäden in der Hand halten.
Ein Vater und sein Sohn fahren quer durch Argentinien, als wären sie auf der Flucht. Wohin wollen sie? Vor wem fliehen sie? Es sind die Jahre der Militärjunta: Menschen verschwinden spurlos, überall
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Produktbeschreibung
»Eine begnadete Schriftstellerin. Eindrücklich, dunkel und poetisch.« Patti Smith

Dunkelheit und Licht, Grausamkeit und Liebe. Eine große Familiensaga in einem von Extremen geprägten Land. Mariana Enriquez führt uns durch die verschlungene Geschichte Argentiniens, hin zu den Abgründen der Macht. Eine einzigartige Vater-Sohn-Geschichte, in der doch die Frauen alle Fäden in der Hand halten.

Ein Vater und sein Sohn fahren quer durch Argentinien, als wären sie auf der Flucht. Wohin wollen sie? Vor wem fliehen sie? Es sind die Jahre der Militärjunta: Menschen verschwinden spurlos, überall lauert Gefahr. Juan versucht, seinen Sohn Gaspar vor dem Schicksal zu schützen, das ihm zugedacht ist, seit seine Mutter unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Bei einem Unfall, der vielleicht keiner war. Wie sein Vater soll Gaspar einem Geheimbund, genannt der Orden, als Medium dienen, der mit grausamen Ritualen dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Spur kommen will. Doch derPreis ist hoch und der körperliche und geistige Verfall schnell und unerbittlich, wie Juan weiß. Unser Teil der Nacht ist eine Reise durch 40 Jahre argentinische Geschichte, auf den Spuren der Verführungen und Verbrechen der Macht. Eine große Geschichte, die Enriquez so poetisch, lakonisch und episch erzählt, dass sie noch lange nachhallt.

»Mariana Enriquez erzählt mit der Wucht eines Güterzugs.« Dave Eggers
Autorenporträt
Mariana Enriquez, geboren 1973 in Buenos Aires, machte ihren Abschluss in Journalismus und sozialer Kommunikation. 2021 stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize. Ihre Werke gewannen zahlreichen Preise und sind in viele Sprachen übersetzt. Für "Unser Teil der Nacht" erhielt sie 2019 den Premio Herralde, den wichtigsten Preis für spanischsprachige Literatur.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Martin Ebel wünscht sich schon lange eine Renaissance der lateinamerikanische Literatur beziehungsweise ein Wiedererwachen des Interesses an ihr. Dass Mariana Enriquez mit ihrem Roman "Unser Teil der Nacht" einen veritablen Horror-Kracher vorlegt, kann ihn nur halb glücklich machen: Ebel ist nicht unbedingt ein Freund von Genre-Literatur und All-Age-Lektüre. Dies vorweggeschickt, muss der Rezensent aber zugeben, dass Enriquez ihn mit ihrem Roman ziemlich gepackt hat. Ungeheuer raffiniert verwebt sie Ebel zufolge die fantastische Geschichte eines alten englischen Geheimbundes, der für seine sadistischen Rituale permanent auf frisches Menschenfleisch angewiesen ist, mit der wahren Geschichte der argentinischen Militärdiktatur. Trotz mancher Länge findet er die Wucht der Geschichte überwältigend, und auch die Übersetzung lobt er trotz mancher Zeitgeistigkeit als "funkelnd". Dankbar ist Ebel zudem für die Entscheidung der Autorin, ihn nicht mit einer rationalen Erklärung des Horros zu enttäuschen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2022

Der Horror und sie

Eine Reihe lateinamerikanischer Autorinnen belebt ein Genre neu - mit dem Grauen und den Gespenstern des Alltags, in dem sie leben.

Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen." Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.

Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: "lateinamerikanischer Gothic", "anomaler Realismus" , "feministischer Horror". Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen.

Die Argentinierin Mariana Enríquez ist die international prominenteste Vertreterin dieser Bewegung. Bekannt wurde sie durch die Erzählbände "Los peligros de fumar en la cama" ("Die Gefahren, im Bett zu rauchen", 2009), der auf der Shortlist des International Booker Prize stand, und "Was wir im Feuer verloren", ein Bestseller, der 2017 auch auf Deutsch bei Ullstein erschienen ist.

Diese Erzählungen sind minutiös konstruierte Maschinerien, die durch etablierte Horrormotive - Sekten, Spukhäuser, gespenstische Gestalten - die Fans des Genres begeistert haben. Unter der erzählerischen Oberfläche aber handeln die Geschichten der Autorin von sehr realen Miseren: Depression, Armut, ökologischen Katastrophen oder Gewalt.

Ihr bislang wichtigstes Werk ist vor wenigen Wochen auch auf Deutsch erschienen: "Unser Teil der Nacht". Der Roman erzählt von der komplizierten Beziehung eines todkranken, von Visionen geplagten Mannes zu seinem kleinen Sohn. Beide werden gezwungen, als Medien für eine Geheimgesellschaft zu dienen, die auf der Suche nach ewigem Leben Menschen quält und barbarische Rituale veranstaltet. Und weil sich Mariana Enríquez in ihrem achthundertseitigen Buch furchtlos mit Gewalt auseinandersetzt, verschiedene Zeitebenen verknüpft und mit literarischen Formen spielt, wurde der Roman mit Roberto Bolaños "2666" verglichen, inzwischen ein Klassiker der neueren lateinamerikanischen Literatur.

"Unser Teil der Nacht" hat den berühmten Herralde-Preis in Spanien erhalten und ist auch als Horrorroman äußerst spannend. Seine Wucht und Brisanz aber haben vor allem mit dem geschichtlichen Hintergrund zu tun: mit den letzten Jahren der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien herrschte, und der sozialen Ungewissheit, die mit der Rückkehr der Demokratie einherging. Die permanente Angst der Protagonisten vor Verfolgung und Gewalt wird hier zum Symbol der Angst von Millionen. Die Erbarmungslosigkeit der Sekte wird zur Metapher der Verbrechen der Diktatur, der Folterung und Ermordung von Tausenden von Menschen, der Entführung von Kindern und des Verschwindens von mehr als 30 000 Personen.

Die Art, in der sich in Enríquez' Büchern geisterhafte Elemente mit der Anspielung auf authentische Übel vermischen, ist repräsentativ für die Arbeit einer Reihe anderer Autorinnen, die ebenfalls durch den Filter der Horrorliteratur auf die Realität Lateinamerikas blicken. Was ihre Geschichten so furchteinflößend macht, ist der oft bloß angedeutete Bezug auf reale Missstände, auf die ungeheure Ungleichheit Lateinamerikas und die Gleichgültigkeit - oder Brutalität - seiner Institutionen.

Leider sind die Bücher der ecuadorianischen Autorin María Fernanda Ampuero bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. In ihrem phänomenalen Erzählband "Sacrificios humanos" ("Menschenopfer") schildert sie in einer der Erzählungen die allmähliche "Besetzung" eines gutbürgerlichen Viertels durch ärmere Menschen. Der Hass eines lange ansässigen Nachbarn, der Tod eines Kindes und ein verhängnisvoller Fluch bilden die Basis für eine subtile Fabel sozialen Terrors. Mariana Enríquez wiederum schreibt in ihrer Erzählung "Tief unten im schwarzen Wasser" (aus dem Band "Was wir im Feuer verloren") von Polizisten, die zwei junge Männer dazu zwingen, durch einen kloakenähnlichen Fluss - "tot, bedeckt mit Öl und Plastikteilen und voller Chemieabfälle" - zu schwimmen. Einer der Jungen stirbt. Der andere, man erahnt es, erlebt eine ungeheuerliche Verwandlung. Bis auf die Verwandlung beruht die Geschichte auf einem wahren Fall.

Auch häusliche und sexuelle Gewalt sind wiederkehrende Motive in dieser neuen weiblichen lateinamerikanischen Horrorliteratur. Mónica Ojeda, eine ebenfalls noch nicht ins Deutsche übersetzte Schriftstellerin aus Ecuador, erzählt in ihrem Roman "Nefando" (2016) von einer Wohnung, in der bestialische Leute leben, und von den Schandtaten, die sich im "Deep Web" verstecken. Eine ihrer Erzählungen, "Canino", handelt von einer seltsamen Familie. Der Vater nimmt langsam die Eigenschaften eines Hundes an. Die Realität dahinter sind sexuelle Perversität und Kindesmissbrauch. Auch die gefeierte bolivianische Autorin Giovanna Rivero, die in ihren realistischen Kurzgeschichten auf Stilmittel des Horrorgenres zurückgreift, schreibt in "La mansedumbre" ("Die Sanftmut") von Vergewaltigungen in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien - und auch diese Geschichte stützt sich auf reale Ereignisse.

Real wie das Drama der "Desaparecidos" - so nennt man jene Menschen, die durch Diktaturen, Mafiakriege, Menschenhandel und andere Ausprägungen der Gewalt in Lateinamerika unter ungeklärten Umständen verschwunden sind und immer noch verschwinden. Diese "Desaparecidos" tauchen wie Gespenster auch im neuen lateinamerikanischen Horror auf. Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin, deren Romane und Erzählungen auf Deutsch erschienen sind, erzählt in ihrer verstörenden Kurzgeschichte "Bajo tierra" ("Unter Tage") von einem Dorf von Minenarbeitern, deren Kinder anfangen, ein Loch in die Erde zu graben. Eines Nachts verschwinden sie für immer; ihre Eltern verfallen nach und nach dem Wahnsinn.

Mariana Enríquez wiederum schreibt in "Adelas Haus" von einem unheimlichen, verlassenen Gebäude in Buenos Aires, das ein neugieriges Mädchen betritt - seine Familie wird es nie wiedersehen. "In dieser Erzählung gibt es zwar eine übernatürliche Wendung", sagt Enríquez, "aber in Argentinien gibt es heute noch viele Spukhäuser: solche, wo hinter unschuldigen Fassaden bei ohrenbetäubender Musik Leute ermordet wurden."

Die Gefahren, die es in Lateinamerika - und nicht nur dort - mit sich bringen kann, eine Frau zu sein: Auch damit beschäftigen sich all diese Horrorautorinnen immer wieder in ihren Büchern. Wir treffen auf Frauen, die, weil sie es satthaben, von anderen Frauen zu erfahren, deren Gesichter und Körper ihre Partner mit Säure zerstörten, nun beschließen, sich selbst abzufackeln, "damit die Männer niemanden mehr zum Verbrennen haben".

Und immer wieder sind da missbrauchte Frauen, die, weil sie anderen missbrauchten Frauen bei Abtreibungen helfen, schrecklich bestraft werden. Oder Frauen, die, als unregistrierte Migrantinnen, Jobs annehmen müssen, die ihnen ihre Seelen, Körper und ihren Verstand rauben. All diese Geschichten sind der reinste Horror - und dabei doch nur die literarische Zuspitzung von Dingen, die jeden Tag in der lateinamerikanischen Wirklichkeit geschehen.

"Alle Frauen, die ich kenne", hat María Fernanda Ampuero einmal gesagt, "haben eine Geschichte von Gewalt: körperliche und verbale, dazu niedrigere Löhne, Gefahr auf der Straße, Vergewaltigung . . . Und viele von ihnen denken sogar: 'Vielleicht habe ich es selbst provoziert.' Als ich das gemerkt habe, auch an mir selbst, war ich erschrocken. Und ich wusste, dass ich genau so darüber schreiben will."

So wie all diese Autorinnen Motive teilen, so haben sie auch literarische Einflüsse gemeinsam: die britische Gothic-Literatur, also Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts wie Mary Shelleys "Frankenstein" oder Bram Stokers "Dracula", dann die großen Horrorklassiker der Vereinigten Staaten: Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft, Shirley Jackson und Stephen King. Aber genauso ist auch die Tradition der phantastischen Literatur Lateinamerikas spürbar, wie sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend in Argentinien geprägt worden ist, von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo oder Julio Cortázar. Auch diese Autoren verband eine große Faszination für Science-Fiction und Horror, auch sie experimentierten damit.

Doch die Schriftstellerinnen von heute setzen sich bewusst von ihren Vorfahren ab, und zwar in entscheidenden Punkten. Einmal ist da ihr Interesse an einheimischen Heiligenkulten und den indigenen Mythologien Lateinamerikas, die Autoren der Region früher oft gering geschätzt haben. In den Erzählungen von Enríquez, Ojeda und Rivero spielen sie jetzt eine große Rolle. Und während die Gothic-Autoren oder auch Lovecraft in der Regel Horror als etwas schilderten, das aus übernatürlichen Quellen stammt, von bösartigen kosmischen Wesen, Geistern, Monstern, deuten die neuen Vertreterinnen des Genres das Unheimliche als eine Facette des ganz alltäglichen Grauens.

Und während die Angstszenarien klassischer Horrorliteratur in der Regel zuerst darauf abzielen, das Publikum zu schocken, zu erstaunen und zu unterhalten - was dem Genre, wie aller Genreliteratur, ja immer noch oft genug als banal vorgeworfen wird -, wollen diese lateinamerikanischen Autorinnen von heute Unterhaltung mit Sozialkritik verknüpfen. Das verbindet sie übrigens mit den Filmen prominenter afroamerikanischer Regisseure wie Jordan Peele ("Get Out") oder Regisseurinnen wie Nia DaCosta ("The Marvels"), die ihren Horrorszenarien geschickt einen gesellschaftskritischen Subtext geben.

Die Geschichte Lateinamerikas, sagt Mariana Enríquez im Gespräch, "ist ja eine einzige Horrorgeschichte. Alle Autorinnen meiner Generation wurden in eine Diktatur hineingeboren oder sind inmitten von Bürgerkriegen aufgewachsen. Die Zeichen der Gewalt müssen in der Literatur auftauchen." Das könnte erklären, warum das Horrorgenre in den vergangenen Jahren in Lateinamerika bei denen, die schreiben, und jenen, die lesen, so populär geworden ist. Und dass gerade so auffällig viele Autorinnen sich so unerschrocken der Wiederbelebung des Genres widmen, ist dabei überhaupt nicht verwunderlich.

"Frau zu sein", hat María Fernanda Ampuero gesagt, "heißt oft, in einem Horrorfilm mitzuspielen." Jetzt schreiben die Frauen selbst Geschichten des Horrors. Sie stellen sich ihren Dämonen.

HERNÁN D. CARO

Mariana Enríquez: "Was wir im Feuer verloren". Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt. Ullstein, 240 Seiten, 9,99 Euro. Und: "Unser Teil der Nacht". Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann. Tropen, 832 Seiten, 28 Euro.

Samanta Schweblin: "Sieben leere Häuser". Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp, 150 Seiten, 20 Euro.

María Fernanda Ampuero: "Sacrificios humanos". Páginas de espuma, 130 Seiten, 22 Euro.

Mónica Ojeda: "Nefando". Candaya, 208 Seiten, 15 Euro. Und: "Las voladoras". Páginas de espuma, 128 Seiten, 14 Euro.

Giovanna Rivero: "Tierra fresca de su tumba". Candaya, 176 Seiten, 15 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.10.2022

Karussell der Gräuel
Mariana Enriquez macht argentinische Vergangenheit zum Genrestoff: Aber ist Horror der richtige Rahmen für Zeitgeschichte?
Heute scheint Lateinamerika weiter weg zu sein, aber es gab eine Zeit, in der sich europäische Leser mit Begeisterung auf die Romane von Julio Cortázar, Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa stürzten (oder, etwas schlichter, auf die Bücher von Isabel Allende). Die Kombination aus blutiger Zeitgeschichte und „magischer Wirklichkeit“ wirkte damals befreiend auf ein Publikum, das ermüdet war von einer steril gewordenen Avantgarde, die sich „experimentell“ um sich selbst und die „Unmöglichkeit zu erzählen“ drehte.
Der „Boom“ der lateinamerikanischen Literatur ist eine Weile her, und ohne den Chilenen Roberto Bolaño hätte man den Kontinent womöglich aus den Augen verloren. Natürlich wird immer mal wieder eine „neue Generation“ ausgerufen, werden Nachfolger präsentiert – was man erst mal mit Skepsis entgegennimmt. Mariana Enriquez beispielsweise, Argentinierin des Jahrgangs 1973, ausgebildete Journalistin (wie viele ihrer großen Vorgänger auch), stand 2021 mit der englischen Übersetzung ihres Erzählbandes „Los peligros de fumar en la cama“ auf der Shortlist des internationalen Booker-Preises. Das Original erschien schon 2009.
Enriquez’ Roman „Nuestra parte de la noche“ von 2019 fand schneller zu einer internationalen Leserschaft: „Unser Teil der Nacht“, so die deutsche Übersetzung (der Titel zitiert eine Zeile von Emily Dickinson), ist ein „Opus magnum“ in mehrfacher Hinsicht, und wer sich auf einen Rausch à la „Hundert Jahre Einsamkeit“ freut, wird befriedigt und enttäuscht werden zugleich. Lateinamerikanische Literatur 2.0, wenn man so will, ist zwar politisch und magisch, aber, jedenfalls im Fall von Mariana Enriquez, geprägt von zwei Phänomenen, die den Buchmarkt gründlich umgewälzt haben: dem Boom der Genreliteratur und dem der „All Age“-Lektüren von „Harry Potter“ bis „Herr der Ringe“.
Das Genre ist hier der Horror (mit seinem Subgenre „Folk Horror“). Wie Mariana Enriquez die englische Gothic Novel nach Argentinien verpflanzt und in die Gewaltgeschichte ihres Landes einpasst, ist das Wagnis ihres Romans. In England nimmt die Handlung ihren Ursprung: Dort bildet sich im 19. Jahrhundert ein „Orden“, eine Sekte, die auf der Suche nach dem ewigen Leben esoterische Rituale vollzieht, was das jeweilige Medium das Leben kostet. Die Autorin hat sich dazu von einer realen Geheimgesellschaft, dem „Golden Dawn“, anregen lassen.
Bei Mariana Enriquez wandern die beiden Sektengründer nach Argentinien aus, werden Plantagenbesitzer und reich – Protagonisten der blutigen Ausbeutung des Landes und seiner Bewohner. Von ihrem Stammsitz im Norden aus üben die Familien Bradford-Reyes und Mathers Gewalt über die Umgebung aus, in enger Verbindung mit Politikern und Militär. Einen Höhepunkt erreicht diese Allianz in den Jahren der Diktatur, von 1976 bis 1983: Deren Verbrechen „waren äußerst nützlich für den Orden, sie sorgten für Körper, für Alibis und für Ströme von Schmerz und Angst“. Realiter sind dem Staatsterrorismus der Generäle und ihrer Todesschwadronen in jenen Jahren Zigtausende Menschen zum Opfer gefallen, darunter bis zu 30 000 „Desaparecidos“, Menschen, die spurlos verschwanden. Bis heute tauchen immer wieder Massengräber auf und rücken jene Jahre neu ins Bewusstsein.
Eines der sechs Kapitel schildert die Entdeckung eines solchen Grabes im Jahr 1993. „Der Schacht von Zañartú“ ist vorgeblich eine Reportage einer Olga Gallardo. Die Leichen stammen von einem Massaker an einer Widerstandsgruppe, aber nicht nur. Offenbar hat der Orden eigene Opfer unauffällig verschwinden lassen. Denn – davon weiß die Reporterin nichts, wohl aber wissen es längst die Leser – die Ordensführerin Mercedes Bradford hält in einem Tunnel unter ihrem Stammsitz Menschen, die sie auf ihre „Mediumstauglichkeit“ testet und an denen sie ihren Sadismus auslebt. Geliefert bekommt sie dieses „Menschenfleisch“ von der Diktatur. Was sie mit ihren Opfern anstellt, das wiederzugeben, sträubt sich die Tastatur des Rezensenten. Mariana Enriquez’ Horror hat nichts Gemütliches; ihre Adaption des Gothic blendet über zu den Gräueln des „Schmutzigen Krieges“ des Militärs gegen das eigene Volk. Die Grausamkeiten des fiktiven Ordens stehen im Roman symbolisch für die des militärisch-oligarchischen Komplexes, auf der Handlungsebene funktionieren sie symbiotisch.
In der Verbindung des Folk Horror mit Zeitgeschichte zeigt Mariana Enriquez beachtliche Raffinesse. Die Reporterin Olga Gollardo stößt bei ihren Recherchen auf eine Überlebende des Massakers, die ihre Tochter verloren hat. Diese soll in einem Spukhaus verschwunden sein. Olga scheitert auf immer absurdere Weise daran, dieses Haus zu finden und zu betreten, sie entgeht nur knapp dem Unfalltod, bricht die Reportage ab und verliert den Verstand. Adela, das verschwundene Mädchen mit dem fehlenden Arm, ist der Link zum Erzählkosmos um den menschenfressenden Orden und das zentrale Vater-Sohn-Paar Juan und Gaspar Peterson.
Denn „Unser Teil der Nacht“ ist nicht nur die Auseinandersetzung mit Argentiniens Gewaltgeschichte, es ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte, außerdem ein Roadmovie, eine Szenerie des „Swinging London“ der 1960er, die Erzählung einer wie von Stephen King inspirierten Teenager-Freundschaft, ein Erziehungsroman und eine „Quest“: die Suche des jungen Gaspar nach seiner Bestimmung.
Die Autorin arbeitet mit Perspektivenwechseln und Zeitsprüngen, ein solcherart konzipiertes Werk kann schlechterdings nicht perfekt funktionieren, es gibt Längen und Unwuchten, aber der Gesamteindruck bleibt überwältigend – nicht zuletzt durch die sinnliche Prosa, die auch vor Schmerzpunkten nicht zurückweicht. Die Übersetzerinnen haben das Funkeln dieses Textes im Deutschen erhalten. Nur manchmal huldigen sie dem Zeitgeist, wenn plötzlich von „Studierenden“ die Rede ist – zum Glück machen sie aus Arbeitern keine „Arbeitenden“.
Juan Peterson ist das wirkungsvollste Medium des Ordens. Er vermag die „Dunkelheit“ zu beschwören, eine anonyme Macht, die Menschen verschlingt, aber auch Auskunft über die „Transposition des Bewusstseins“ zu geben vermag – jene Form der Unsterblichkeit, auf die die Ordensoberen so scharf sind. Juan leidet unter seiner Gabe, auch weil er weiß, dass sie ihn zu einem frühen Tod verurteilt. Davor will er alles tun, um den kleinen Gaspar dem Orden zu entziehen, der natürlich darauf spekuliert, dass der Sohn die Gabe des Vaters geerbt hat.
Hat er auch. Bis der Junge entdeckt, was sich hinter seinen Visionen und Anfällen verbirgt, bis er das sonderbare Verhalten seines Vaters begreift, den er fürchtet, hasst und liebt, vergehen viele hundert Seiten. Mit seinen Freunden Pablo, Vicky und Adela (mit dem einen Arm) erlebt er eine vom Einbruch des Unheimlichen immer mehr beschwerte Jugend in Buenos Aires, bis das Quartett in das „Spukhaus“ eindringt, das viel größer ist, als es aussieht, und in dem in Regalen Knochen, Zähne, Wimpern aufgereiht liegen. Auch in solchen Details schimmern reale Gräuel totalitärer Regime durch.
Das Haus „frisst“ Adela, die Behörden versuchen vergeblich, die Erlebnisse der Kinder mit der Realität in Einklang zu bringen. Wie überhaupt alle Rationalisierungen scheitern – wenn etwa Gaspar seine Gabe als Migräne, Epilepsie, Depression oder Trauma-Flashback zu deuten versucht. Die Enttäuschung, die Witold Gombrowicz einst den Lesern seines Gothic-Versuchs „Die Besessenen“ bereitet hat, in dem sich aller Schrecken vernünftig aufklärt, erspart uns Mariana Enriquez. Und schließlich jagt die Autorin die Spannungskurve noch einmal so hoch, dass auch hartgesottene Genre-Fans zufrieden sein dürften.
Inzwischen dreht sich heute das „ewige argentinische Karussell“ weiter, bleiben die Reichen reich und einflussreich und die Armen machtlos, lösen sich auch lange nach dem Ende der Diktatur Wirtschaftskrisen, Abwertungen, Inflation und Staatsbankrott ab. Einmal flieht Gaspar mit Studentenfreunden vor der Polizei in die Universität und blockiert die Tür zu dem Raum, in dem sie sich verstecken, mit seiner Gabe. Mariana Enriquez hat die Gabe, Türen zu einer dunklen Welt zu öffnen, die den Schrecken der Realität spiegelt, steigert und transponiert. Aus Genre-Elementen macht sie Literatur, die Ansprüche stellt und erfüllt. Denn wenn Autoren heute weltweit gesellschaftliche Brüche mit Krimi-Plots einfangen – warum nicht im Medium des Horrors?
MARTIN EBEL
Bis heute tauchen
immer wieder
Massengräber auf
Mariana Enriquez:
Unser Teil der Nacht. Roman.
Aus dem Spanischen
von Silke Kleemann
und Inka Marter.
Tropen, Stuttgart 2022. 822 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Mariana Enríquez hat die Gabe, Türen zu einer dunklen Welt zu öffnen, die den Schrecken der Realität spiegelt, steigert und transponiert. Aus Genre-Elementen macht sie Literatur, die Ansprüche stellt und erfüllt.« Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2022 Martin Ebel Süddeutsche Zeitung 20221025
Der Horror und sie

Eine Reihe lateinamerikanischer Autorinnen belebt ein Genre neu - mit dem Grauen und den Gespenstern des Alltags, in dem sie leben.

Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen." Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.

Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: "lateinamerikanischer Gothic", "anomaler Realismus" , "feministischer Horror". Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen.

Die Argentinierin Mariana Enríquez ist die international prominenteste Vertreterin dieser Bewegung. Bekannt wurde sie durch die Erzählbände "Los peligros de fumar en la cama" ("Die Gefahren, im Bett zu rauchen", 2009), der auf der Shortlist des International Booker Prize stand, und "Was wir im Feuer verloren", ein Bestseller, der 2017 auch auf Deutsch bei Ullstein erschienen ist.

Diese Erzählungen sind minutiös konstruierte Maschinerien, die durch etablierte Horrormotive - Sekten, Spukhäuser, gespenstische Gestalten - die Fans des Genres begeistert haben. Unter der erzählerischen Oberfläche aber handeln die Geschichten der Autorin von sehr realen Miseren: Depression, Armut, ökologischen Katastrophen oder Gewalt.

Ihr bislang wichtigstes Werk ist vor wenigen Wochen auch auf Deutsch erschienen: "Unser Teil der Nacht". Der Roman erzählt von der komplizierten Beziehung eines todkranken, von Visionen geplagten Mannes zu seinem kleinen Sohn. Beide werden gezwungen, als Medien für eine Geheimgesellschaft zu dienen, die auf der Suche nach ewigem Leben Menschen quält und barbarische Rituale veranstaltet. Und weil sich Mariana Enríquez in ihrem achthundertseitigen Buch furchtlos mit Gewalt auseinandersetzt, verschiedene Zeitebenen verknüpft und mit literarischen Formen spielt, wurde der Roman mit Roberto Bolaños "2666" verglichen, inzwischen ein Klassiker der neueren lateinamerikanischen Literatur.

"Unser Teil der Nacht" hat den berühmten Herralde-Preis in Spanien erhalten und ist auch als Horrorroman äußerst spannend. Seine Wucht und Brisanz aber haben vor allem mit dem geschichtlichen Hintergrund zu tun: mit den letzten Jahren der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien herrschte, und der sozialen Ungewissheit, die mit der Rückkehr der Demokratie einherging. Die permanente Angst der Protagonisten vor Verfolgung und Gewalt wird hier zum Symbol der Angst von Millionen. Die Erbarmungslosigkeit der Sekte wird zur Metapher der Verbrechen der Diktatur, der Folterung und Ermordung von Tausenden von Menschen, der Entführung von Kindern und des Verschwindens von mehr als 30 000 Personen.

Die Art, in der sich in Enríquez' Büchern geisterhafte Elemente mit der Anspielung auf authentische Übel vermischen, ist repräsentativ für die Arbeit einer Reihe anderer Autorinnen, die ebenfalls durch den Filter der Horrorliteratur auf die Realität Lateinamerikas blicken. Was ihre Geschichten so furchteinflößend macht, ist der oft bloß angedeutete Bezug auf reale Missstände, auf die ungeheure Ungleichheit Lateinamerikas und die Gleichgültigkeit - oder Brutalität - seiner Institutionen.

Leider sind die Bücher der ecuadorianischen Autorin María Fernanda Ampuero bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. In ihrem phänomenalen Erzählband "Sacrificios humanos" ("Menschenopfer") schildert sie in einer der Erzählungen die allmähliche "Besetzung" eines gutbürgerlichen Viertels durch ärmere Menschen. Der Hass eines lange ansässigen Nachbarn, der Tod eines Kindes und ein verhängnisvoller Fluch bilden die Basis für eine subtile Fabel sozialen Terrors. Mariana Enríquez wiederum schreibt in ihrer Erzählung "Tief unten im schwarzen Wasser" (aus dem Band "Was wir im Feuer verloren") von Polizisten, die zwei junge Männer dazu zwingen, durch einen kloakenähnlichen Fluss - "tot, bedeckt mit Öl und Plastikteilen und voller Chemieabfälle" - zu schwimmen. Einer der Jungen stirbt. Der andere, man erahnt es, erlebt eine ungeheuerliche Verwandlung. Bis auf die Verwandlung beruht die Geschichte auf einem wahren Fall.

Auch häusliche und sexuelle Gewalt sind wiederkehrende Motive in dieser neuen weiblichen lateinamerikanischen Horrorliteratur. Mónica Ojeda, eine ebenfalls noch nicht ins Deutsche übersetzte Schriftstellerin aus Ecuador, erzählt in ihrem Roman "Nefando" (2016) von einer Wohnung, in der bestialische Leute leben, und von den Schandtaten, die sich im "Deep Web" verstecken. Eine ihrer Erzählungen, "Canino", handelt von einer seltsamen Familie. Der Vater nimmt langsam die Eigenschaften eines Hundes an. Die Realität dahinter sind sexuelle Perversität und Kindesmissbrauch. Auch die gefeierte bolivianische Autorin Giovanna Rivero, die in ihren realistischen Kurzgeschichten auf Stilmittel des Horrorgenres zurückgreift, schreibt in "La mansedumbre" ("Die Sanftmut") von Vergewaltigungen in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien - und auch diese Geschichte stützt sich auf reale Ereignisse.

Real wie das Drama der "Desaparecidos" - so nennt man jene Menschen, die durch Diktaturen, Mafiakriege, Menschenhandel und andere Ausprägungen der Gewalt in Lateinamerika unter ungeklärten Umständen verschwunden sind und immer noch verschwinden. Diese "Desaparecidos" tauchen wie Gespenster auch im neuen lateinamerikanischen Horror auf. Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin, deren Romane und Erzählungen auf Deutsch erschienen sind, erzählt in ihrer verstörenden Kurzgeschichte "Bajo tierra" ("Unter Tage") von einem Dorf von Minenarbeitern, deren Kinder anfangen, ein Loch in die Erde zu graben. Eines Nachts verschwinden sie für immer; ihre Eltern verfallen nach und nach dem Wahnsinn.

Mariana Enríquez wiederum schreibt in "Adelas Haus" von einem unheimlichen, verlassenen Gebäude in Buenos Aires, das ein neugieriges Mädchen betritt - seine Familie wird es nie wiedersehen. "In dieser Erzählung gibt es zwar eine übernatürliche Wendung", sagt Enríquez, "aber in Argentinien gibt es heute noch viele Spukhäuser: solche, wo hinter unschuldigen Fassaden bei ohrenbetäubender Musik Leute ermordet wurden."

Die Gefahren, die es in Lateinamerika - und nicht nur dort - mit sich bringen kann, eine Frau zu sein: Auch damit beschäftigen sich all diese Horrorautorinnen immer wieder in ihren Büchern. Wir treffen auf Frauen, die, weil sie es satthaben, von anderen Frauen zu erfahren, deren Gesichter und Körper ihre Partner mit Säure zerstörten, nun beschließen, sich selbst abzufackeln, "damit die Männer niemanden mehr zum Verbrennen haben".

Und immer wieder sind da missbrauchte Frauen, die, weil sie anderen missbrauchten Frauen bei Abtreibungen helfen, schrecklich bestraft werden. Oder Frauen, die, als unregistrierte Migrantinnen, Jobs annehmen müssen, die ihnen ihre Seelen, Körper und ihren Verstand rauben. All diese Geschichten sind der reinste Horror - und dabei doch nur die literarische Zuspitzung von Dingen, die jeden Tag in der lateinamerikanischen Wirklichkeit geschehen.

"Alle Frauen, die ich kenne", hat María Fernanda Ampuero einmal gesagt, "haben eine Geschichte von Gewalt: körperliche und verbale, dazu niedrigere Löhne, Gefahr auf der Straße, Vergewaltigung . . . Und viele von ihnen denken sogar: 'Vielleicht habe ich es selbst provoziert.' Als ich das gemerkt habe, auch an mir selbst, war ich erschrocken. Und ich wusste, dass ich genau so darüber schreiben will."

So wie all diese Autorinnen Motive teilen, so haben sie auch literarische Einflüsse gemeinsam: die britische Gothic-Literatur, also Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts wie Mary Shelleys "Frankenstein" oder Bram Stokers "Dracula", dann die großen Horrorklassiker der Vereinigten Staaten: Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft, Shirley Jackson und Stephen King. Aber genauso ist auch die Tradition der phantastischen Literatur Lateinamerikas spürbar, wie sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend in Argentinien geprägt worden ist, von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo oder Julio Cortázar. Auch diese Autoren verband eine große Faszination für Science-Fiction und Horror, auch sie experimentierten damit.

Doch die Schriftstellerinnen von heute setzen sich bewusst von ihren Vorfahren ab, und zwar in entscheidenden Punkten. Einmal ist da ihr Interesse an einheimischen Heiligenkulten und den indigenen Mythologien Lateinamerikas, die Autoren der Region früher oft gering geschätzt haben. In den Erzählungen von Enríquez, Ojeda und Rivero spielen sie jetzt eine große Rolle. Und während die Gothic-Autoren oder auch Lovecraft in der Regel Horror als etwas schilderten, das aus übernatürlichen Quellen stammt, von bösartigen kosmischen Wesen, Geistern, Monstern, deuten die neuen Vertreterinnen des Genres das Unheimliche als eine Facette des ganz alltäglichen Grauens.

Und während die Angstszenarien klassischer Horrorliteratur in der Regel zuerst darauf abzielen, das Publikum zu schocken, zu erstaunen und zu unterhalten - was dem Genre, wie aller Genreliteratur, ja immer noch oft genug als banal vorgeworfen wird -, wollen diese lateinamerikanischen Autorinnen von heute Unterhaltung mit Sozialkritik verknüpfen. Das verbindet sie übrigens mit den Filmen prominenter afroamerikanischer Regisseure wie Jordan Peele ("Get Out") oder Regisseurinnen wie Nia DaCosta ("The Marvels"), die ihren Horrorszenarien geschickt einen gesellschaftskritischen Subtext geben.

Die Geschichte Lateinamerikas, sagt Mariana Enríquez im Gespräch, "ist ja eine einzige Horrorgeschichte. Alle Autorinnen meiner Generation wurden in eine Diktatur hineingeboren oder sind inmitten von Bürgerkriegen aufgewachsen. Die Zeichen der Gewalt müssen in der Literatur auftauchen." Das könnte erklären, warum das Horrorgenre in den vergangenen Jahren in Lateinamerika bei denen, die schreiben, und jenen, die lesen, so populär geworden ist. Und dass gerade so auffällig viele Autorinnen sich so unerschrocken der Wiederbelebung des Genres widmen, ist dabei überhaupt nicht verwunderlich.

"Frau zu sein", hat María Fernanda Ampuero gesagt, "heißt oft, in einem Horrorfilm mitzuspielen." Jetzt schreiben die Frauen selbst Geschichten des Horrors. Sie stellen sich ihren Dämonen.

HERNÁN D. CARO

Mariana Enríquez: "Was wir im Feuer verloren". Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt. Ullstein, 240 Seiten, 9,99 Euro. Und: "Unser Teil der Nacht". Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann. Tropen, 832 Seiten, 28 Euro.

Samanta Schweblin: "Sieben leere Häuser". Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp, 150 Seiten, 20 Euro.

María Fernanda Ampuero: "Sacrificios humanos". Páginas de espuma, 130 Seiten, 22 Euro.

Mónica Ojeda: "Nefando". Candaya, 208 Seiten, 15 Euro. Und: "Las voladoras". Páginas de espuma, 128 Seiten, 14 Euro.

Giovanna Rivero: "Tierra fresca de su tumba". Candaya, 176 Seiten, 15 Euro.

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