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Lebhafte Materie - Bennett, Jane
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In den letzten Jahren findet die Materialität in der politischen Theorie vermehrt Beachtung, verstanden wird sie dort aber als gesellschaftliche Strukturen, als die Verkörperungen gesellschaftlicher Werte in Gegenständen oder als materielle Zwänge, die auf den Menschen wirken. Lebhafte Materie schlägt einen anderen Weg ein: Bennett fordert ein transversales Denken, das die Trennung von handelndem Subjekt und behandeltem Objekt aufhebt, die Vitalität alles Materiellen und aller Materialitäten anerkennt und so einen Beitrag zu einer ökologisch verträglichen Lebensweise leistet, die weit über den…mehr

Produktbeschreibung
In den letzten Jahren findet die Materialität in der politischen Theorie vermehrt Beachtung, verstanden wird sie dort aber als gesellschaftliche Strukturen, als die Verkörperungen gesellschaftlicher Werte in Gegenständen oder als materielle Zwänge, die auf den Menschen wirken. Lebhafte Materie schlägt einen anderen Weg ein: Bennett fordert ein transversales Denken, das die Trennung von handelndem Subjekt und behandeltem Objekt aufhebt, die Vitalität alles Materiellen und aller Materialitäten anerkennt und so einen Beitrag zu einer ökologisch verträglichen Lebensweise leistet, die weit über den so oft geforderten Schutz einer vom Menschen getrennten Umwelt hinausgeht. Ihren Ansatz entwickelt Jane Bennett anhand alltäglicher Phänomene - einer toten Ratte im Gully, einer Tüte Chips - und historischer Begebenheiten. Sie lädt dazu ein, den Menschen in seiner Umwelt neu zu denken, denn erst wenn wir verstehen, dass nicht nur wir auf unsere Umwelt einwirken, sondern auch unsere Umwelt auf uns, dass wir in einem komplexen und vernetzten Gefüge leben, in dem vielerlei Akteure aktiv sind, erst dann wird unser Handeln wirksam werden. Lebhafte Materie ist eine Einladung, Ökologie neu zu denken - ohne schlechtes Gewissen, ohne Schuldzuweisungen, im Einklang mit der Vitalität unserer Umgebung.
Autorenporträt
Jane Bennett, 1957 geboren, hält die Andrew W. Mellon-Professur in Geisteswissenschaften an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA. Ihre Forschung bewegt sich zwischen politischer Theorie, ökologischer Philosophie und zeitgenössischer Gesellschaftstheorie. Sie ist die Herausgeberin der Zeitschrift Political Theory und hatte Fellowships an den Universitäten in Nottingham, London, Oxford und zuletzt an der Bauhaus Universität in Weimar. Max Henninger, 1978 in München geboren, lebt, nach Aufenthalten in den USA und Großbritannien, seit 2006 in Berlin und arbeitet dort als Konferenzdolmetscher und Übersetzer aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Seine Sammlung politischer Essays Armut Arbeit Entwicklung erschien 2017 im Wiener Mandelbaum Verlag. Bei Matthes & Seitz Berlin übersetzte er Feminismus für die 99 % von Cinzia Arruzza, Tithi Batthacharya und Nancy Fraser sowie Afrotopia von Felwine Sarr.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2020

Auf dem Weg zu einem größeren Wir
Bloß keine Dualismen: Jane Bennett möchte dem Materialismus Leben einhauchen

Neuer Materialismus - unter diesem Titel versammeln sich in der Philosophie und den Sozialwissenschaften der vergangenen anderthalb Jahrzehnte eine Reihe von Theoretikerinnen und Theoretikern. Neben Bruno Latour, Donna Haraway oder Karen Barad ist die Amerikanerin Jane Bennett, Professorin an der Johns Hopkins Universität, eine der wichtigsten Vertreterinnen dieser Richtung.

Bennett, die Umweltwissenschaften und Philosophie studierte, ist gleichsam die Romantikerin unter den Materialisten. Mit ihrem 2001 erschienenen Buch "The Enchantment of Modern Life" schrieb sie gegen Max Webers These der Entzauberung der Moderne ein Plädoyer für die Bedeutung affektiver Bindungen zwischen Mensch und Welt auch unter modernen Verhältnissen. Ihr im Jahr 2010 publiziertes, international breit diskutiertes Buch "Lebhafte Materie" liegt nun in deutscher Übersetzung vor.

Bennett verfolgt ein doppeltes Ziel: Es geht ihr um die Entwicklung einer materialistischen Ontologie, welche die Form eines "vitalen Materialismus" annimmt. Zugleich formuliert sie ein politisches Anliegen: Durch eine Rehabilitierung der organischen und anorganischen Welt will sie dem ökologischen Projekt neue Stoßkraft verleihen. Aus den Sozialwissenschaften ist eine vergleichbare Argumentation von Bruno Latour vertraut, der in dem an Querverweisen und Exkursen reichen Buch auch einer der wichtigsten Gewährsmänner ist. Stärker jedoch als aktuelle Theorien rollt Bennett die Philosophiegeschichte zwischen Spinoza, Bergson, Adorno und Guattari auf, scheut sich zugleich nicht, auf literarische Quellen von Thoreau bis Kafka oder auf den Biologen Hans Driesch zurückzugreifen, um ihrem vitalen Materialismus Farbe zu verleihen.

Dieser vitale Materialismus gewinnt sein Profil aus einer Frontstellung gegen unterschiedliche Dualismen. Er richtet sich gegen die Spaltung zwischen aktiver menschlicher Subjektivität und passiver Materialität. Er wendet sich jedoch ebenso gegen den Dualismus von organischem Leben und anorganischer Materie. Bennett versteht Materialität als grundsätzlich lebendig. Sie kombiniert in ihrer Darstellung theoretische Argumente, theoriehistorische Exkurse und anschauliche Alltagsbeispiele vom elektrischen Stromnetz über den Abfall bis zur Wirkung von Nahrungsmitteln im menschlichen Körper.

Aber was kann diese behauptete Lebendigkeit des Materiellen bedeuten? Für Bennett sind drei Elemente zentral: Dem Materiellen kommt generell eine Handlungsfähigkeit und damit Wirkmächtigkeit zu. Handeln bedeutet nicht, Absichten zu haben, sondern Wirkungen zu erzielen. Damit sind auch Aminosäuren oder Metalle Handlungsträger. Zweitens sind die Dinge nicht atomistisch als isolierte Einheiten zu verstehen, sondern sie bilden Gefüge, welche anorganische, organische und menschlich-subjektive Bestandteile zugleich umfassen. Sie alle sind materielle Elemente, die miteinander gekoppelt sind. Drittens sind die so verstandenen materiellen Gefüge nicht statisch, sondern enthalten gleichsam eine natürliche Dynamik, eine ständige, aktive Transformationsfähigkeit.

Man würde mit Bennett nicht recht froh, erwartete man von ihr eine ausgefeilte Begründung lebendiger Materialität und deren analytische Zergliederung. Am Ende bezeichnet die Autorin ihren vitalen Materialismus halbironisch als ein "Glaubensbekenntnis", aber besser passt wohl das von ihr selbst verwendete Etikett eines "Vokabulars", um ihre Theorie angemessen zu würdigen.

Es war Richard Rorty, der der Philosophie die Aufgabe zuschrieb, neue Vokabulare zu formulieren, die das menschliche Selbstverständnis transformieren. Genau dies möchte auch Bennett. Sie will eine Denkweise jenseits des Subjekt-Objekt-Dualismus ermöglichen: Auch Menschen sind materielle Wesen, die mit anderen Materialitäten ein dynamisches Netzwerk, ein wesentlich größeres "Wir" bilden. Im Kapitel, in dem Bennett die Wirkung der Nahrungsmittel auf Körper und Stimmung und deren Einbettung in einen Lebensstil erläutert, gelingt diese Blickwendung sehr plastisch.

Am interessantesten wird das Buch in den letzten Kapiteln, in denen Bennett auf die politischen Konsequenzen eines vitalen Materialismus für die Ökologiedebatte eingeht. Während der gebräuchliche Begriff des Umweltschutzes einen Dualismus zwischen der Kultur des Menschen und der Natur suggeriert, geht ihr Entwurf von einer Verwandtschaft menschlicher und nichtmenschlicher Materialitäten sowie von einer inneren Dynamik derselben aus. Pfleglich zu behandeln ist dann nicht die Umwelt, sondern dieses gesamte Gefüge. Bennett interpretiert die Theorien der politischen Öffentlichkeit von John Dewey und Jacques Rancière so, dass diese Öffentlichkeit erweitert werden kann und auch Dinge - das Ozonloch, die Tiere oder das Klima - an ihr partizipieren.

In einer überraschenden Volte am Schluss legt Bennett nahe, eine Prise des viel gescholtenen Anthropomorphismus sei gar nicht so schlecht: Wenn man Dinge, Tiere, Pflanzen wie Menschen behandelt, erkennt man ihre Lebendigkeit und Genossenschaft an. Dies jedoch müsse nicht bedeuten, dass die anderen Materialitäten dem Menschen gegenüber als gleichwertig zu betrachten sind. Ein Eigeninteresse der Gattung Mensch ist für Bennett völlig legitim, solange diese sich als abhängig von einem Gefüge der Welt erkennt, die zu großen Teilen nicht-menschlich ist.

Nach der Lektüre ist der Leser sowohl von der Begeisterung für das neue Vokabular angesteckt als auch skeptisch angesichts der ungelösten ontologischen und politisch-ethischen Fragen. Dass allerdings in einer Zeit, in der ein Virus die Welt im Griff hat und Klimakapriolen politisches Dauerthema sind, ein verändertes Verständnis der nichtmenschlichen Welt jenseits der klassischen Vorstellung von Naturbeherrschung notwendig ist, darauf wird man sich einigen können. Bennett liefert dafür einen bedenkenswerten Impuls.

ANDREAS RECKWITZ

Jane Bennett: "Lebhafte Materie". Eine politische Ökologie der Dinge.

Aus dem Englischen von Max Henninger.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 271 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Soziologe Andreas Reckwitz findet bei der Materialistin Jane Bennett anregende Impulse für die Idee von einer nicht beherrschbaren nichtmenschlichen Welt. In Corona-Zeiten umso bedenkenswerter, findet er. Bennetts im US-Original 2010 veröffentlichtes Buch setzt sich laut Reckwitz ein doppeltes Ziel: die Entwicklung einer materialistischen Ontologie sowie die Rehabilitierung der anorganischen und organischen Welt im Sinne des ökologischen Projekts. Mit Bruno Latour, der halben Philophiegeschichte und literarischen Quellen im Gepäck, so Reckwitz, verleiht die Autorin ihrem "vitalen Materialismus" Profil und bringt ihn gegen allerhand Dualismen in Stellung, indem sie Materialität als lebendig begreift. Dass Bennett mit Beispielen von Metallen oder Säuren als Handlungsträgern nicht geizt, ändert aber nichts daran, dass für Reckwitz wesentliche ontologische und politisch-ethische Fragen des Konzepts unbeantwortet bleiben.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Um die Empfinfungs- und Handlungsmöglichkeiten von nichtmenschlichen Wesen geht es [...] in Jane Bennetts 'Lebhafte Materie'. Im Original bereits 2010 erschienen, ist das Buch längst ein Klassiker der politischen Ökologie.« - Cord Riechelmann, Philosophie Magazin Cord Riechelmann Philosophie Magazin 20201001