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Wie funktioniert eine Masse?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mit Hilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen. Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine…mehr

Produktbeschreibung
Wie funktioniert eine Masse?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mit Hilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen. Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine imaginäre Größe, ihren Äußerungen und Schicksalen eine Öffentlichkeit zu geben.

Gunter Gebauer und Sven Rücker entwerfen eine neue Theorie der Massen, indem sie Romane und Erzählungen, Filme und Musik auswerten.

Autorenporträt
Gebauer, Gunter§Gunter Gebauer, 1944 in Timmendorfer Strand geboren, ist einer der profiliertesten Philosophen Deutschlands, im TV und in den Tageszeitungen wird er regelmäßig zu den wichtigen Themen befragt. Seit 1978 hält er den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin inne, 1993 wurde er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt bei Pantheon »Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs" (2016).

Rücker, Sven§Sven Rücker, 1975 in Bad Segeberg geboren, lebt als Autor, Essayist und Dozent für Philosophie in Berlin. Nach einem Studium in Freiburg und an der Freien Universität Berlin promovierte er 2009 in Philosophie. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Ernst-Reuter-Preis für die beste Dissertation in den Geisteswissenschaften der FU ausgezeichnet. Seit 2010 lehrt er Philosophie an der FU. Zu seinen philosophischen Arbeiten zählt insbesondere »Das Gesetz der Überschreitung. Eine philosophische Geschichte der Grenzen« (2013). Für den Deutschlandfunk hat er eine Reihe mehrstündiger Radioessays verfasst. Sein Theaterstück »Die Terroristen« (2008) ist in Luxemburg und Wien aufgeführt worden.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Steffen Martus findet in Gunter Gebauers und Sven Rückers Versuch einer Haltungsbestimmung zum Thema Masse keinen roten Faden. So wichtig das Thema und der Wunsch der Autoren, Masse in ihrer Ambivalenz wahrzunehmen, ihm auch erscheinen, so wenig gelingt es Martus zufolge dem Band, die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung in den Griff zu bekommen. Der Rezensent vermisst im Band einfach ein schlüssiges Konzept. Stattdessen böten die Autoren immer neue Definitionsanläufe. Herauskommt ein zwischen unterschiedlichen Beispielen von Massenphänomenen (Occupy, Fußball etc.) und Darstellungsformen, von der Listung empirischer Befunde bis zur Anekdote, mäandernder Text, der dem Rezensenten nur verdeutlicht, wie wünschenswert eine gute Massensoziologie doch wäre.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2019

Ziemlich viele Mengen
Gunter Gebauer und Sven Rücker umkreisen die Masse

Im Herbst 2015 überschlugen sich die Meldungen. Die Nachrichten berichteten von "Flüchtlingsströmen", die an die Grenzen Europas brandeten und ganze Landstriche überfluteten. Vermutlich wird keine der unzähligen Entscheidungen Angela Merkels so gut im historischen Gedächtnis bleiben wie der Beschluss zur Grenzöffnung. Was den einen - ganz unabhängig von humanistischen Erwägungen - als politisch kluge und strategisch notwendige Entlastungsmaßnahme erschien, hielten die anderen für einen katastrophalen "Dammbruch", der vor allem eines bedeutete: Kontrollverlust.

Offenbar verfügt die Politik und vor allem die politische Kommunikationsabteilung über keine gut erprobten Rezepte für den Umgang mit "Menschenmassen". Es scheint, als sei dieser Modus der sozialen Verdichtung im Zeitalter der Individuen außer Mode geraten. Und weil die "starke Hand" noch immer als Maßstab einer handlungsfähigen Regierung gilt, wirken Nachgiebigkeit, Moderation, geschickte Ab- und Umlenkung wie Zeichen der Schwäche. Entgegen aller neoliberalen Rhetorik der Ermöglichung und Stimulation zur Eigenaktivität zeigt sich politische Macht insbesondere in den Medien dann, wenn sie Mobilität kanalisiert, begrenzt und einschränkt. Letztlich behauptet sie sich in der Fähigkeit, Bewegung ganz zu verhindern - für "sichere Grenzen" zu sorgen, (potentielle) Straftäter festzusetzen, "Ankerzentren" einzurichten.

Einige Jahre vor der Flüchtlingskrise wurde im Kleinen durchgespielt, welche ungewollten Effekte solche restriktive Mechanismen haben, wenn sie auf die Bewegung von Massen angewendet werden: Bei der Panik, die 2010 auf der Love Parade in Duisburg einundzwanzig Menschen das Leben gekostet hat, bestand das Problem nicht darin, dass den anschwellenden "Besucherströmen" zu wenige Barrieren im Weg standen. Es waren zu viele. Wie also müsste eine Politik aussehen, die mit massenhaftem Handeln zurechtkommt? Welche politische Bedeutung haben Massen in der Gegenwart? Ist das Handeln einer Masse politisch immer schon verdächtig, weil es von Irrationalität beherrscht wird und Ordnung gefährdet? Oder können Massen auch neue Ordnungen stiften?

Gunter Gebauer und Sven Rücker fordern in ihrem Buch eine veränderte Haltung zur Masse als einem sozialen "Aggregatzustand", der sich aus der Idealwelt des mündigen Bürgers nicht heraushalten lässt. Es geht dabei nicht mehr, wie etwa in Gustav le Bons Klassiker über die "Psychologie der Massen" (1895), um eine gesichtslose, leicht verführbare Menge, die - in Erregung versetzt - als wütender Mob zu enthemmter Gewalt neigt. Massen, so Gebauer und Rücker, sollten vielmehr generell in ihrer ganzen "Ambivalenz" wahrgenommen werden. Sie verfügen über "eine helle und eine dunkle Seite". Vor allem sollten die "neuen Massen" berücksichtigt werden, in denen sich Individuen nicht im Kollektiv auflösen, sondern sich in der Masse und durch die Masse ausleben. Davon wiederum wollen Gebauer und Rücker die ebenso neuen, aber "populistischen Massen" abgegrenzt wissen, in denen eine "homogene Masse" im Namen des "Volks" zu sprechen behauptet.

Nun gibt es einen guten Grund, warum sich Gesellschaftstheorien seit langer Zeit mit dem Begriff der Masse schwertun. Denn wann hat man einfach nur viele Leute, eine sehr große Gruppe oder ein Publikum vor sich - und wann eine Masse? Sind Beobachter oder Teilnehmer die entscheidenden Instanzen? Gründen Massen auf körperlicher Kopräsenz, obwohl es Massenmedien gibt, die eine Masse von Abwesenden virtuell verbinden? Ist das Bild der "alten Masse", das mit dem Eindruck weitgehender oder totaler Kollektivierung arbeitet, ein kulturkritisches Konstrukt? Sollte man daher eher von alten und neuen Theorien der Masse als von neuen und alten Massen sprechen?

Gebauer und Rücker thematisieren diese begrifflichen Herausforderungen, finden aber zu keinem schlüssigen Konzept, sondern nehmen immer neue Definitionsanläufe. Die Darstellung ist insgesamt leider sehr unkonzentriert, pendelt vom Theoriereferat zu anekdotischer Evidenz, von der Verhandlung von Massenkonzeptionen zu empirischen Aussagen und wieder zurück. Auch die Fülle an heterogenen Beispielen wirkt verwirrend: Der alttestamentarische Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, Studentenproteste an der Berliner FU, die Leipziger Montagsdemonstrationen wie deren SED-"Gegenmasse", die Bankenkrise, das Verhalten von Fußballfans oder von Occupy-Demonstranten und der Arabische Frühling - alles hat irgendwie mit der Masse zu tun.

Insofern machen Gebauer und Rücker plausibel, wie wünschenswert eine gute Massensoziologie und -philosophie ist, vermitteln aber intellektuell eher jene "Massenerfahrung", von der Elias Canetti berichtet hat: das "Zusammengerührt-Werden im Teig".

STEFFEN MARTUS

Gunter Gebauer, Sven Rücker: "Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen".

Deutsche Verlagsanstalt, München 2019. 352 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Die Forscher lösen den Begriff der Masse aus dem Korsett der alten Ideologien und rehabilitieren ihn damit als Erklärungsmodell für sehr aktuelle Phänomene gesellschaftlichen Wandels.« Deutschlandfunk Kultur "Lesart"