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Kaum eine theoretische Strömung hat das abendländische Denken im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts so sehr beeinflusst wie der französische Poststrukturalismus. Erstmals wird hier der Versuch einer umfassenden Rekonstruktion seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland unternommen.Das französische Denken über Sprache, Kultur und Geschichte, wie es seit den sechziger Jahren von Denkern wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Roland Barthes und anderen entwickelt wurde, hat in Deutschland, den USA und darüber hinaus breite Wirkung entfaltet. Die "French Theory" hat Eingang gefunden in Universität…mehr

Produktbeschreibung
Kaum eine theoretische Strömung hat das abendländische Denken im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts so sehr beeinflusst wie der französische Poststrukturalismus. Erstmals wird hier der Versuch einer umfassenden Rekonstruktion seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland unternommen.Das französische Denken über Sprache, Kultur und Geschichte, wie es seit den sechziger Jahren von Denkern wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Roland Barthes und anderen entwickelt wurde, hat in Deutschland, den USA und darüber hinaus breite Wirkung entfaltet. Die "French Theory" hat Eingang gefunden in Universität und Feuilleton, Literatur und Theorie. Der Blick auf die steile internationale Karriere des Poststrukturalismus, seinen Niederschlag in den Diskursen zwischen Akademie und Zeitung, Buchmarkt und öffentlicher Debatte, wirft nicht nur Schlaglichter auf die Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern versteht sich als Vorgeschichte des Denkens unserer Gegenwart.
Autorenporträt
Klaus Birnstiel ist Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel/Schweiz. Er studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war Wissenschaftliche Hilfskraft im Sonderforschungsbereich "Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit". Er promovierte sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2017

Von Einsichten
zu Pointen
Die Welt als Text: Klaus Birnstiel lässt das
wilde, poststrukturalistische Denken Revue passieren
VON CARLOS SPOERHASE
Im Herbst 1966 betrachtet der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan frühmorgens aus einem Hotelzimmer in Baltimore den starken Berufsverkehr und eine große Neon-Anzeige, die minutenweise das Fortschreiten der Tageszeit kundgibt. Seine Beobachtungen, die Lacan noch am selben Tag einem akademischen Publikum an der Johns Hopkins University mitteilen wird, enthalten in nuce die gesamte Programmatik des Poststrukturalismus. Baltimore erschließe sich, so Lacan, gar nicht den motorisierten Berufspendlern, sondern allein dem distanzierten französischen Betrachter: „Das beste Bild, um das Unbewusste zu charakterisieren, ist Baltimore in den frühen Morgenstunden.“
In dieser rätselhaften Behauptung ist der gesamte Poststrukturalismus enthalten: Die Subjekte sind nicht Herren ihrer Handlungen und Äußerungen. Deren Spezifik kann vielmehr nur von einem anderen Subjekt entschlüsselt werden, das über ein überlegenes Analysevokabular verfügt. Die Welt weist eine Symptomstruktur auf; die sichtbaren Phänomene erlauben, Rückschlüsse auf ein ebenso unsichtbares wie instabiles Grundgerüst des Geschehens zu ziehen.
Die Konferenz, die Lacan 1966 in Baltimore besuchte, erweist sich rückblickend als Ausgangspunkt einer äußerst erfolgreichen Theorieströmung. Deren Geschichte fasst Klaus Birnstiel, der an der Universität Basel Germanistik lehrt, am Leitfaden ihrer wichtigsten Werke zusammen. Weshalb er seine Studie „Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus“ nennt, ist unklar. Tatsächlich ist die 450 Textseiten umfassende Studie, wie der Umschlagtext hervorhebt, eine „umfassende Rekonstruktion“ des Poststrukturalismus. Sie enthält textnah argumentierende Überblickskapitel zu den Hauptwerken von Saussure, Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Lacan, Derrida, Deleuze, Lyotard und Baudrillard. In der Summe lesen sich diese Kapitel wie ein Handbuch des Poststrukturalismus, das – etwas genreuntypisch – von einer einzigen Person geschrieben worden ist.
Nicht so die darauf folgenden Kapitel, die der Rezeption des poststrukturalistischen Denkens in den Vereinigten Staaten und in Deutschland gelten. In seiner Darstellung des Schicksals der „French Theory“ in den USA fokussiert Birnstiel die Rezeption französischer Theorie durch Paul de Man und Sylvère Lotringer. Interessant ist seine Rekonstruktion vor allem dort, wo er die Gründung von geisteswissenschaftlichen Zeitschriften wie Critical Inquiry, Diacritics, Glyph, Substance, October oder Semiotext(e) als zentrale Momente der akademischen Durchsetzungsgeschichte des Poststrukturalismus skizziert.
In seiner Darstellung der Rezeption von poststrukturalistischem französischen Denken in Deutschland nimmt Birnstiel frühe Vermittlerfiguren wie Manfred Frank und Peter Szondi in den Blick, konzentriert sich aber vor allem auf die kreative Aneignung dieses Denkens durch Friedrich Kittler und Peter Sloterdijk. Birnstiel beobachtet einerseits, wie der Poststrukturalismus durch Zeitschriften wie das Kursbuch und Tumult eine breitere Leserschaft findet; andererseits interessiert er sich dafür, wie sich der Poststrukturalismus in dem engen Kreis der universitären Geisteswissenschaften zu etablieren vermag.
Als äußerst einflussreich erweist sich in diesem Feld der Germanist Kittler, der 1980 mit einem Sammelband die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ ausgerufen hatte. Birnstiel stellt dar, wie Kittler sich durch den Rückgriff auf Psychoanalyse, Ethnologie und Linguistik um die radikale Neuausrichtung der Geisteswissenschaften bemühte. Kittler bestand dabei darauf, dass „die poststrukturalistischen Programme“ französischer Provenienz nicht verfasst worden seien, „um referierbar zu werden“.
Genau diese Referierbarkeit wurde seit den 1990er-Jahren aber hergestellt. Der Poststrukturalismus fand Eingang in den akademischen Unterricht, wurde Gegenstand von Referaten, Proseminararbeiten und Prüfungsgesprächen. Er wurde Stoff von Überblicksdarstellungen, Einführungswerken und Handbüchern. Als übergreifende inhaltliche Signatur des Poststrukturalismus identifiziert Birnstiel den Antihumanismus und die Antihermeneutik. Daher rührte auch die Provokation dieses Denkens.
Wer bestritt, dass es ein verlässliches Konzept des Menschen und des Menschlichen überhaupt geben könne oder dass man Texte in einem herkömmlichen Sinne überhaupt verstehen könne, musste grundlegende moralische und methodische Annahmen der „Humanities“ angreifen. Die rhetorische Signatur wird von Birnstiel als eine „Umstellung von Argumentation auf Evidenz“ und als „die Verdichtung von Einsichten zu Pointen“ verstanden. Der Rekurs auf rhetorische Register unter anderem Nietzsches und Heideggers lasse den Poststrukturalismus zu einer leicht wiedererkennbaren Schreibweise werden. Darüber hinaus sieht Birnstiel den Poststrukturalismus noch von einem fundamentalen kritischen Pathos getrieben. Die politisch-moralische Leerstelle, die sich unter postmarxistischen Vorzeichen aufgetan habe, sei durch poststrukturalistische Kategorien gefüllt worden. Begriffe wie das „Andere“ oder das „Verdrängte“ sollten geisteswissenschaftliche Arbeiten als genuin politische Kritik nobilitieren.
Die ideengeschichtlichen Strandgänge Birnstiels, die das Verhältnis von Poststrukturalismus und Postmoderne leider kaum berühren, sollen allerdings nicht bloß theoriehistorische Spurensuche sein. Vielmehr möchten sie klären, was von dem zurückgebliebenen Strandgut für das Verständnis unserer Epoche nützlich ist. Das macht das letzte Kapitel deutlich: ein souveräner, 40 Seiten starker Essay, der einen weitgehend fußnotenfreien Kassensturz des Poststrukturalismus vornimmt und nach dem kritischen Potenzial dieser Theorieströmung für unsere Gegenwart fragt.
Birnstiel nennt mehrere Probleme, die sich einer aktuellen Aneignung des französischen Theorie-Ensembles entgegenstellen. Mit seiner „asketischen Feier des permanenten Entzugs“ habe der Poststrukturalismus auf eine Theorie der politischen Handlungsmacht von Subjekten verzichtet. Auch habe er aufgrund seiner Betonung des Sprachlichen die Materialität der Welt und vor allem die Körperlichkeit des Menschen nicht in den Blick bekommen. Schließlich habe der Fokus auf die diskursiven Dimensionen des Politischen zu einer Konzentration auf eine sprachorientierte Mikropolitik geführt, die makropolitische Problemstellungen ignoriere.
Birnstiels Position ist überzeugend. Ein politisch motivierter Poststrukturalismus darf nicht den Fehler begehen, aus den Aporien der Sprache eine Apathie des politischen Handelns abzuleiten oder eine philologische Arroganz, für die jede „Lektüre“ eines literarischen Textes schon ein eminent „politischer“ Akt ist.
Für den Poststrukturalismus war die menschliche Welt sprachlich verfasst. Die Tatsache, dass er die Sprache ins Zentrum seiner Programme rückte und dabei vor allem den mehrdeutigen und komplexen Charakter von sprachlicher Bedeutung betonte, machte ihn zu einem interessanten Bündnispartner der Literaturwissenschaft. Vor allem in den Literaturwissenschaften feierte er deshalb weltweit Erfolge, und Literatur wurde zum privilegierten Gegenstand poststrukturalistischer „Theorie“. Da aus deren Perspektive die gesamte Welt sprachlich strukturiert war, sahen sich Literaturwissenschaftler häufig aufgerufen, ihr philologisches und poetologisches Instrumentarium auf die gesamte Welt zu applizieren. Wer die Welt als einen „Text“ verstand, glaubte, sich die Welt allein mit textwissenschaftlichen Begriffen erschließen zu können. Das glaubt heute fast niemand mehr.
Neben der spekulativen Verve bleiben die provozierenden literarischen und publizistischen Modelle: eine Theorie-Prosa, die sich nicht an herkömmlichen akademischen Darstellungsformen und Stillagen orientiert; riskante Experimente mit der Buchform der Philosophie. Kurz: die Ausweitung des rhetorischen und materiellen Raums philosophischer Ausdrucksformen.
Zweischneidiger ist das Erbe eines akademischen Antiakademismus, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Im Gegensatz zu dem universitätsfernen Antiakademismus Jean-Paul Sartres artikulierten Poststrukturalisten ihren antiakademischen Habitus häufig ausgehend von professoralen Positionen innerhalb renommierter Universitäten. Ob dieser Habitus noch sinnvoll ist, sobald die Geisteswissenschaften sich massiven Angriffen ausgesetzt sehen?
Lacan formulierte seine wilden Thesen über das Unbewusste am Humanities Center der Johns Hopkins University. Obwohl das Humanities Center in den letzten Jahrzehnten ein wichtiges Zentrum poststrukturalistischer Theoriebildung gewesen ist, möchte die Universitätsleitung es nun in der bestehenden Form abwickeln. Fünfzig Jahre nach der Tagung, die am Anfang der „French Theory“ stand, scheint das beste Bild, um den Poststrukturalismus zu charakterisieren, das akademische Tagesgeschehen in Baltimore zu sein.
Nicht jede Lektüre eines
literarischen Textes ist schon
ein genuin politischer Akt
Klaus Birnstiel: Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016. 491 S., 69 Euro.
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