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Thomas Manns Schwiegermutter liefert ein einzigartiges Zeugnis über die Zerstörung des jüdischen Großbürgertums im nationalsozialistischen München.Die einstmals gesellschaftlich, kulturell und auch materiell herausragende Münchener Familie Pringsheim war 1933 den nationalsozialistischen Repressionen ausgeliefert. In den 375 Briefen an ihre Tochter Katia, die bereits 1933 mit Thomas Mann Deutschland verlassen hatte, trotzte Hedwig Pringsheim dem sie umgebenden und sie selbst betreffenden Unrecht mit Verschlüsselungen sowie zahlreichen literarischen, musikalischen und historischen Anspielungen.…mehr

Produktbeschreibung
Thomas Manns Schwiegermutter liefert ein einzigartiges Zeugnis über die Zerstörung des jüdischen Großbürgertums im nationalsozialistischen München.Die einstmals gesellschaftlich, kulturell und auch materiell herausragende Münchener Familie Pringsheim war 1933 den nationalsozialistischen Repressionen ausgeliefert. In den 375 Briefen an ihre Tochter Katia, die bereits 1933 mit Thomas Mann Deutschland verlassen hatte, trotzte Hedwig Pringsheim dem sie umgebenden und sie selbst betreffenden Unrecht mit Verschlüsselungen sowie zahlreichen literarischen, musikalischen und historischen Anspielungen. Bei aller witzigen Offenheit sind ihre Briefe daher buchstäblich versiegelt. Der in seiner Art beispiellose mütterliche »Nachrichtendienst« (15.10.1934) der Hedwig Pringsheim erlaubt einzigartige Einblicke in das Münchener Leben während der ersten Jahre der NS-Diktatur.Der Verlust der Gegenbriefe Katia Manns lässt sich durch die Tagebücher Thomas Manns inhaltlich weitgehend kompensieren. Beider Dechiffrierung und ausführlichen Kommentierung dieses einzigartigen document humain halfen Informationen aus den Tagebüchern Hedwig Pringsheims ebenso wie neu aufgefundene Briefe von und an Thomas, Katia und Erika Mann sowie Klaus und Peter Pringsheim.
Autorenporträt
Hedwig Pringsheim (1855-1942) war die Tochter der bekannten Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, Ehefrau des Mathematikprofessors und Kunstmäzens Alfred Pringsheim und Mutter der seit 1905 mit Thomas Mann verheirateten Katja Mann (1883-1980).

Dirk Heißerer, geb. 1957, ist Literaturwissenschaftler in München. Von 1993 bis 2000 sowie 2006 war er Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität und an der Universität Leipzig zwischen 2007 und 2009. Seit 2003 ist er Herausgeber der »Thomas-Mann-Schriftenreihe« (TMSR). Im Jahr 2009 wurde er mit der Thomas-Mann-Medaille ausgezeichnet.Veröffentlichungen u. a.: »Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933-1941« (Hg., 2013); »Wo die Geister wandern. Literarische Spaziergänge durch Schwabing« (2008); »Im Zaubergarten. Thomas Mann in Bayern« (2005).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2013

Dein niedliches Verstehstemich

Heiter, verrätselt, anspielungsreich und manchmal böse: Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim war eine grandiose Briefautorin. Das zeigt die Korrespondenz mit ihrer Tochter Katia.

Sie war eine "berühmt schöne Frau", heißt es in den Memoiren einer Beobachterin über Hedwig Pringsheim, und habe dazu geneigt, ihren Mitmenschen mit freundlichstem Ton, aber spitzer Zunge "unangenehme Wahrheiten" zu sagen. Vor allem liebte sie es nicht, "älter zu werden, und die weibliche Jugend hübsch heranwachsen zu sehen. Alles fürchtete sich vor ihr, auch die eigene Tochter."

Hedwig Pringsheim, Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des "Kladderadatsch"-Redakteurs Ernst Dohm, war als junge Schauspielerin mit gutem Aussehen und überschaubarem Talent vom Erbmillionär Alfred Pringsheim, demnächst Professor für Mathematik in München, gleichsam von der Bühne weg geheiratet worden. Ihre Tochter Katia, jüngstes von fünf Kindern, heiratete 1905 Thomas Mann. Doch nicht nur vom Strahlen des Nobelpreisträgers dringt Licht zur Schwiegermutter, die in München ein großes Haus führte und mit Maximilian Harden korrespondierte. Aus ihr selbst heraus leuchtet es zu uns herüber. Dass sie eine große Briefautorin war, ahnten wir seit den Büchern des Ehepaars Jens ("Frau Thomas Mann" und "Katias Mutter"). Durch den vorliegenden Band der Briefe an ihre Tochter Katia aus den Jahren 1933 bis 1941 wissen wir es.

Dass diese Briefe, die sie selbst treffend als "Liebeskorrespondenz" bezeichnet, nun in einer zweibändigen, voluminösen, von Stiftungen geförderten Edition vorliegen, ist ein Glücksfall und eine große wissenschaftliche Tat. Und die Entscheidung des Thomas-Mann-Archivs, vor einigen Jahren eine dilettantisch anmutende Auswahlausgabe der Briefe zu unterbinden (F.A.Z. vom 26. September 2009), um auf eine Gesamtedition zu dringen, erweist sich als uneingeschränkt richtig.

Die politische Realität des "Dritten Reiches" dringt nur gelegentlich in die Briefe Hedwig Pringsheims, am ehesten noch, wenn es konkret um die Belange der Familie Thomas Manns, die seit 1933 im Exil lebte, geht, zum Beispiel die Beschlagnahmung ihres Hauses, der "Poschi". Man hat den Eindruck, nicht allein der Gedanke an einen Zensor hält die Schreiberin ab. Golo Mann schrieb einmal von der "zarten Bewunderung" seiner Großmutter für Hitler. Sie besucht etwa die Einweihung des Ehrenmals für die Gefallenen des "Hitlerputsches", berichtet spöttisch davon im Brief an die Tochter ("Daß die Toten beim letzten Appell laut und vernehmlich mit ,Hier!' antworteten, war ja recht unheimlich"), ist aber zugleich von Stimmung, Aufmarsch und Gesang eingenommen. An Hedwig Pringsheim und ihrem Mann zeigt sich beispielhaft die Tragik des assimilierten jüdischen Großbürgertums, das gut patriotisch in der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein glaubte und nicht wahrhaben wollte, dass diese Gesellschaft sie nun mit Macht und Gewalt herauszudrängen bestrebt war. Angeborener Optimismus, aber auch ihre Neigung zum Nichtsehenwollen verhinderten, dass Hedwig Pringsheim frühzeitig erkannte, was die deutschen Juden erwartete.

Von den Entrechtungen, Demütigungen, dem Abdrängen aus der Gesellschaft liest man auch in ihren Briefen, vorsichtig umschrieben und für Uneingeweihte kaum zu entschlüsseln - nicht einmal Katia verstand alles, wie ihre Mutter bemerkte: "Ganz deitlich werde ich mich, Schwierigkeiten halber, wol kaum ausgequetscht haben, aber im wesentlichen hast du doch eine ganz niedliche Verstehstemich entfaltet." Die enorme Leistung des Herausgeber Dirk Heißerers besteht darin, mit dem Kommentar dies alles lesbar und verständlich zu machen. Ein gewisser Hang zur Detailobsession ist da zu verschmerzen.

Man erfährt von den erzwungenen Umzügen in immer kleinere Wohnungen, vom Entzug der Reisepässe, von den "Judengesetzen", die sie betreffen, dem Entzug der Lehrerlaubnis für ihren Mann, von den Schwierigkeiten vieler Freunde und Verwandter, manche sind "schwer verreist", heißt: im Konzentrationslager Dachau. Doch Hedwig Pringsheim klammert sich an den Umstand, dass sie durch ihr Netzwerk immer noch privilegiert und vermeintlich vor dem Schlimmsten geschützt sind - "arische" Dienstmädchen dürfen sie mit einer Sondergenehmigung behalten. Was ihnen dennoch widerfährt, nimmt sie, nicht nur codiert, mit grimmigem Humor und tapfer vorausblickend, sogar noch den dreisten behördlich angeordneten Raub ihrer Kunstschätze und Schmuckstücke 1938: "Man hat uns freundlichst erleichtert: Besitz ist Last." Sie sei "von diesen Sicherungsmaßregeln hochbefriedigt". Den von ihrer Tochter aus der Schweiz, später aus Amerika immer wieder formulierten Vorschlag zur Emigration weist sie von sich: "Lieber in Deutschland ehrlich sterben, als in Kalifornien jämmerlich verderben." Zumal sie vom Emigrantenvolk nicht viel hält und in diesem Kontext sogar den Schwiegersohn leise kritisiert. Mit Thomas Manns "Korrodi-Brief" in der "Neuen Zürcher Zeitung" im Februar 1936 ist sie nicht einverstanden und schreibt verschlüsselt an Katia, er hätte sich nicht so entschieden an die Seite der Emigranten stellen sollen.

Der Ton der auch orthographisch originellen Briefe ist heiter, beschwingt, verrätselt und anspielungsreich, spitz und bisweilen auch bös - die Spitznamen im Hause Pringsheim sind es ohnehin, da hatte der um Katia werbende Thomas Mann als "leberleidender Rittmeister" noch eher Glück gehabt. Ein ständiger, aber langweiliger Teegast wird das "Zeitraubtier" genannt, eine Nachbarin heißt "das Geschmeiß", ein Enkel "Kakerlake", und eine typische Briefstelle Hedwig Prinsgheims lautet: "Gestern hatten wir zum Tee den Binz, der um's Gesäß immer umfangreicher wird und wieder viele Neuigkeiten wußte, die nicht stimmten." Es war der Konversationston der Pringsheims, den Thomas Mann literarisch aufnahm und in "Wälsungenblut" den Aarenhold-Zwillingen zuschrieb. Mit "scharfer Zunge" werde gesprochen, "verletzend und wahrscheinlich doch nur aus Freude am guten Wort, so dass es pedantisch gewesen wäre, ihnen gram zu sein". Was mancher wohl doch gewesen wäre, wenn er oder sie Bescheid gewusst hätte. "G.G." etwa umschreibt das Hausmädchen der Manns und steht für "Gänsegesicht". Dass die "unteren Schichten" öfters schlecht wegkommen, verweist auf Hedwig Pringsheims Sinn für Rangunterschiede, auf ihren Blick von oben auf die Welt. Im Kern ist sie aber nicht überheblich und dünkelhaft: Dass sie einnehmend und hilfsbereit ist, großherzig, gerade auch "unteren Schichten" gegenüber, mit Worten und Taten hilft, oft mit Geld, gehört auch zum komplexen Bild dieser großen Dame aus einer versunkenen Epoche.

Vor allem ist sie eine Beobachterin, neugierig und offen, auf ihre Art eine Schriftstellerin, Spezialgebiet: Briefe. Jene an ihre Tochter sind ihre schönsten, ergreifendsten: funkelnd vor Witz, plaudernd, verklatscht auch, heiter mit Sinn für Abgründe, großen politischen Fragen weniger zugeneigt als alltäglichen Dingen, die sie mit scharfer Beobachtungsgabe mitteilte. Zum Thema Tod etwa: "Im Gegensatz zu meinen Mädchen, die eine echte Münchner Vorliebe für Leichen haben, ist mir der Tote ein unheimlicher Gegenstand, und ich habe den hier üblichen Besuch der Leichenhäuser stets perhorrescirt." Nun sei gerade die Mutter ihrer Vermieterin gestorben, und die Tote habe in der Wohnung unter ihr die Nacht über gelegen, "und mir grauste etwas". Aber (das Dienstmädchen) Sophie ging gleich hinunter, denn sie sieht Leichen "gar so gern. Eben wird sie begraben ...; dass sie nicht in einem Sarge, sondern nach jüdischem Ritus in einer ordinären Kiste begraben wird, wird ihrer Auferstehung hoffentlich nicht im Wege stehen."

Kurz nach Kriegsausbruch, in letzter Sekunde, entkommen die greisen Pringsheims dem Holocaust, fliehen, dank höchster Protektion, im Oktober 1939 in die Schweiz. Nun ist es Hedwig Pringsheim aber doch ein Anliegen, die Einschätzung ihrer Tochter, die beiden Alten hätten besser in München bleiben sollen, da sie sich dort so offenkundig wohl gefühlt hätten, zu korrigieren. In ihrem ersten Brief, der nicht mehr den Blick des Zensors zu fürchten hat, soll die Tochter erfahren, wie es wirklich zuletzt um ihr Leben im braunen München stand: "Also erstens mußten wir aus unsrer Wonung, da das Haus an die Partei verkauft war, bis zum 15/11 von allen Mietern evakuirt werden mußte und Fay als J(ude) keine anständige Wonung mehr bekommen hätte und irgendwo ,untergebracht' worden wäre. Dann haben wir seit 2 Jaren kein Theater, kein Koncert, kein Kino, keine Ausstellung mehr besuchen dürfen, an gewissen Gedenktagen nach 12 Ur mittags nicht mehr auf die Straße gehen. Daß er sich Alfred Israel unterschreiben mußte, wurmte ihn auch, ebenso daß er seine Lebensmittelkarten bei der jüdischen Gemeinde abholen mußte und nur in bestimmten entlegenen Geschäften kaufen durfte (was Köchin Else natürlich nicht tat). Natürlich durften ihn die Kollegen, da sie Beamte, auch nicht besuchen; daß sie es dennoch taten, taten sie auf ihr Risiko. Genügt's? ich denke, ja." Noch auf der Bahnfahrt ins Exil sei Katias Vater als "letzte Schmach" bei einer Durchsuchung gedemütigt und brutal misshandelt worden. "Ich habe ihn nie so empört gesehen, wie nach dieser Erfarung. Vor solchen Dingen sind wir hier nun doch sicher."

Sicher, aber melancholisch steht es gleichwohl. Ihr Mann legt sich zum Sterben nieder, ist noch einmal mit Kaviar zum Aufstehen zu überreden, doch der Krieg, die fremde Umgebung, das hohe Alter zehren auch an Hedwig Pringsheim, selbst wenn sie sich bemüht, es in den Briefen mit Humor zu überdecken, etwa wenn sie sich über einen langweiligen Besucher beschwert, dieser habe sie "beinahe gewahnsinnigt". Schließlich stirbt Alfred Pringsheim mit 91 Jahren. Es folgen letzte Briefe, eine traurige Lektüre. Hedwig Pringsheim bemerkt den eigenen Verfall ("es ist alles ein bischen wirre in meinem Kopf") und den Verlust ihrer Kraft, vor allem ihrer Wortkraft: "Ich schließe für heute, denn dies ist kein Brief, dies ist nur ein Briefumschlag." Nach Amerika umsiedeln, worauf die Tochter drängt, will sie nicht: "Es ist ein fester Entschluss, den du, meine Lieblingstochter, ja auch billigen mußt. Ich würde auch - vorausgesetzt, daß ich überhaupt ankäme, was ja höchst zweifelhaft ist - nur lästig fallen, und das würde mir so schrecklich unangenehm sein."

Dass sie ihre Katia nicht wiedersehen wird ("Ade. Ade, mein Töchterchen"), weiß Hedwig Pringsheim. Sie ahnte es vielleicht schon, als sie im Juli 1938 in Konstanz, nur wenige Meter von der Tochter entfernt, am Grenzübertritt, nur für ein kurzes Treffen, gehindert wurde. Da hatten selbst sie Lebensmut und Witz, die Grundbässe ihres Lebens und ihrer Briefe, für einen Moment verlassen, "denn anders wie schwer kann man's denn wol kaum nehmen".

TILMANN LAHME

Hedwig Pringsheim: "Mein Nachrichtendienst".

Briefe an Katia Mann 1933-1941.

Hrsg. und kommentiert von Dirk Heißerer. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 1716 S., Abb., 89,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In zwei Bänden sind nun nicht nur die Tagebücher Hedwig Pringsheims aus den Jahren 1885 bis 1897 erschienen, sondern auch ihre zwischen 1933 und 1941 verfassten Briefe an Katia Mann von Dirk Heißerer unter dem Titel "Mein Nachrichtendienst" herausgegeben worden, berichtet Rezensent Stephan Speicher. Der Kritiker liest die Schriften zwar mit Interesse, muss aber durchaus gestehen, dass er sich streckenweise ein wenig gelangweilt hat: In den Tagebüchern erfährt er etwa, wie die "Grand Dame" der Prinzenregentenzeit und Schwiegermutter Thomas Manns, Gäste empfing, Theater- und Opernbesuche knapp bewertete oder auch, wann ihre Menstruation einsetzte - so bekommt Speicher zwar einen Eindruck von den Lebensformen der Oberschicht, allzu viel Persönliches liest er allerdings nicht. Auch die von Dirk Heißerer sorgfältig editierten und erläuterten, im Exil verfassten Briefe an ihre Tochter Katia verraten nicht wesentlich mehr, konstatiert der Kritiker, der hier zwar interessiert und erstaunt Hedwigs Ansichten über Hitler und Judentum liest, aber dennoch private Einblicke vermisst. Nichtsdestotrotz hat sich der Rezensent mit den Schriften der eigensinnigen und charmanten Dame durchaus amüsiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2013

Glück kann man
nicht verlangen
Eine Grande Dame der Prinzregentenzeit: Hedwig
Pringsheim, die Schwiegermutter Thomas Manns
VON STEPHAN SPEICHER
Eine Wette ist verloren. Der Verlierer, Moritz Guggenheim, Bankier, lädt zum Souper. „Morchen ließ deutschen Champagner geben – oh . . .“. Hedwig Pringsheim und ihr Mann sind Feineres gewohnt. Alfred Pringsheim ist Professor für Mathematik in München und als Sohn eines erfolgreichen Unternehmers ein außerordentlich reicher Mann, sein jährliches Einkommen wird auf mehrere hunderttausend Mark geschätzt. Seine Frau, Hedwig Pringsheim, geborene Dohm, war kurz Schauspielerin in Meiningen, bis sie, eine fabelhafte Schönheit, 1878, mit 22 Jahren heiratete. Alfred Pringsheim genießt als scharfer Wagnerianer der ersten Stunde und früher Förderer Bayreuths einigen Ruf. Vor allem aber kennt man ihn und seine Frau als Eltern der Tochter Katia und also Schwiegereltern Thomas Manns.
  Das große Haus, das die beiden führten, ihre materiellen Möglichkeiten, gesellschaftliche Gewandtheit, Witz, Bildung, Anziehungskraft, das alles machte sie zu Repräsentanten der Prinzregentenzeit. Einiges war bereits aus dem Buch „Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim“ von Inge und Walters Jens zu erfahren. Die Autoren hatten viel aus unveröffentlichtem Material zitiert, das weckte Interesse. Nun sind die Tagebücher der Hedwig Pringsheim für die Jahre 1885 bis 1897 erschienen (weitere sollen folgen) und gleichzeitig die Briefe an Katia Mann von 1933 bis 1941. Es sind 3200 Seiten, eine merkwürdige, interessante, aber über Strecken auch trockene Lektüre.
  Das Tagebuch verzeichnet die Ereignisse des Tages. Ob ein Bad genommen wurde oder die Menstruation einsetze („unwol“), wer zu Besuch kam und wo man zu Gast war, was es im Theater oder in der Oper gab, das ist knapp aufgezeichnet. Was außerhalb der persönlichen Sphäre sich ereignet, kommt selten zu Wort. Und weil alles nur angetippt wird – meist sind es nur vier, fünf Zeilen für den einzelnen Tag –, erfahren wir kaum, wie die Tagebuchschreiberin denkt. Sie notiert, was gefallen hat und was nicht, Gründe nennt sie selten.
  Hedwig Pringsheim war ein Stern der Münchener Gesellschaft, sie verstand sich auf die Kunst der Konversation wie wenige. Diese Rolle, die Aufmerksamkeit der Männer hat sie geliebt, selbst wenn sie die kleine Runde mehr schätzte als den großen Auftrieb. Vermutlich war sie eine hingebungsvolle Mutter. „Mit den Kindern getobt“ - das werden nicht viele Frauen ihres gesellschaftlichen Ranges getan haben. Mit den Kindern wird überhaupt viel unternommen. Man macht lange Urlaubreisen, wandert in den Bergen und das ziemlich anspruchsvoll, später kommen Radtouren durch Europa aufs Programm, sehr fortschrittlich. Die Notiz unter dem 2. 1. 1890 „Sehr viel mit Erik gearbeitet u. ihn erzogen“ klingt allerdings befremdlich, als ob Erziehung eine einmalige oder doch nur von Fall zu Fall notwendige Sache wäre.
  Die Notizen haben immer einen persönlichen Anlass, aber sie fügen sich nicht zu einer durchgehenden Selbstbeobachtung, auch nicht zu zeitdiagnostischen Versuchen. Von Politik ist kaum die Rede. Hedwig Pringsheim ist Bismarck-Bewunderin. Ihre persönlichen Bekannten neigen allerdings eher in die liberale Richtung wie Ludwig Bamberger oder Lujo Brentano; Lilly Braun, die Sozialdemokratin und Vorkämpferin der Frauenrechte, wird finanziell unterstützt.
  Auch wenn sich die Autorin in ihrem Tagebuch kaum öffnet, bekommt der Leser doch einen starken Eindruck von den Lebensformen der Oberschicht, wobei der Kommentar – und das kommentierte Personenregister – der Herausgeberin Cristina Herbst stark helfen. Von vielen alltäglichen Nöten befreit das Personal, haufrauliche Pflichten versieht Hedwig Pringsheim nicht. Sie schreibt Briefe, trifft Freunde, macht Besorgungen („Kommissionen“ – was es zu besorgen gibt, bleibt unklar, der Braten für den Mittagstisch wird es nicht sein), liest viel und geht ins Theater. Dessen Leistungen werden von der früheren Schauspielerin halb professionell gewürdigt. Theater ist nicht allein für die große dramatische Kunst zuständig, sondern genauso gut für die Unterhaltung: „reizend gespieltes, sehr mäßiges Lustspiel“ oder: „ein krasses u. etwas vulgäres Spektakelstück, doch recht amüsant“.
  Die Ehe scheint nicht schlecht, wohl auch, weil man sich gegenseitig nicht zu viel Gemeinsamkeit abverlangt. Alfred Pringsheim ist abends oft allein unterwegs, im Konzert, in wissenschaftlichen Vereinigungen, beim Kartenspiel oder im Künstlerverein Allotria. Seine Frau schreibt dann Briefe oder liest. Es sieht aus wie ein leichtes Leben und sicher war es sehr komfortabel. Protzig oder oberflächlich wirkt es aber nicht. Man kennt den Unterschied von Sekt und Champagner, aber mehr als Anlass zu einer süffisanten Bemerkung ist er dann doch nicht.
  Und auch wenn es nicht an Beispielen fad-förmlicher Gesellschaftlichkeit fehlt, fällt stärker doch auf, wie oft die Rede ist von guter Laune und Übermut, Theaterspiel, Mummenschanz und „höchster Fidelität“ – letztere bei der mathematischen Sektion auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte. Die Zwanglosigkeit bis zur Kinderei wird sich wohl dem Gefühl sozialer Sicherheit, barscher gesagt: stabiler Privilegierung verdanken. Wo heute jeder von jedem auf seine wissenschaftliche Exzellenz evaluiert werden kann, verbieten sich solche Zwanglosigkeiten.
  Der Erste Weltkrieg und seine Folgen, vor allem die Inflation, trafen auch die Familie Pringsheim. Aber sie war auch zum Ende der Weimarer Republik eine reiche Familie, mit einem prachtvollen Palais in der Arcisstraße und einer wertvollen Kunstsammlung. Der 30. Januar 1933 aber änderte alles. Alfred und Hedwig Pringsheim stammten aus jüdischen Familien, und ihr Schwiegersohn Thomas Mann war sofort in Opposition zu den neuen Machthabern gegangen. Am 11. Februar verließen die Manns Deutschland, um bis Kriegsende nicht mehr zurückzukehren. Mutter und Tochter hatten sich bis dahin fast täglich gesehen, nun muss der Briefwechsel die persönlichen Begegnungen ersetzen. Katia Manns Briefe sind verloren, die ihrer Mutter aber weitgehend erhalten. Unter dem verheißungsvollen Titel „Mein Nachrichtendienst“ hat Dirk Heißerer sie herausgegeben und mit größter Sorgfalt und Ausgiebigkeit erläutert.
  Es liegt nahe, hier eine Quelle von größter Anschaulichkeit zu vermuten. Intelligenz und Bildung der Briefstellerin, ihre soziale Stellung und der damit verbundene Überblick sollten ein farbiges, genaues Bild ergeben. Doch so ist es nicht. Wer auf Einblicke hofft, wie zum Beispiel Victor Klemperer sie ermöglicht, wird enttäuscht werden. Nicht einmal der gleich im Februar 1933 einsetzende Kampf um Thomas Manns Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ und die böse Entgegnung im „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ wird mit unbekannten Details geschildert, obwohl den Pringsheims doch wirklich nichts näher liegen konnte.
  Das liegt einmal an dem sehr privaten Charakter der Briefe. Die Mutter spricht zur Tochter, nicht zur Nachwelt. In raschem Wechsel ist vom Essen die Rede, von Einladungen, Krankheiten (Hedwig Pringsheim ist inzwischen 75 Jahre alt, ihr Mann 80), von Schwierigkeiten mit Dienstboten und natürlich von der ausgedehnten Familie. Selbst der unpünktliche Fußpfleger bekommt seinen Auftritt. Das hat einen plaudrigen Charme, zumal Hedwig Pringsheim mit viel Witz schreibt. Aber der Entwicklung eines Zeitpanoramas ist solche Sprunghaftigkeit nicht günstig.
  Und natürlich ist Rücksicht zu nehmen auf die Postzensur. Was nicht ohnedies Privatsprache unter Verwandten ist, wird deshalb verklausuliert, das macht die Lektüre mühsam, auch wenn der Kommentar die allermeisten Fragen beantwortet. Aber die alte Frau sieht die Gefahren nicht heraufziehen, nicht in ihrem wahren Ausmaß. Ein politischer Mensch war sie wohl nie gewesen. Dass das Land, das ihnen so lange Heimat war, sich so verändern würde, das konnte sie sich nicht vorstellen. Im Dezember 1934 liest Hedwig Pringsheim Ludwig Börne. Doch statt sich alarmieren zu lassen, schöpft sie Sicherheit: „Um kein Haar war es anders, die Zeiten ändern sich nicht, wenn auch die Zeit vergeht.“
  Manches ist gerade in seiner Instinktlosigkeit bemerkenswert. Golo Mann hat seiner Großmutter eine „zarte Bewunderung Hitlers“ attestiert, zumindest fällt auf, dass sie die Bauten der NSDAP am Königsplatz lobt: „Das wird wirklich sehr großartig, ein prachtvolles Städtebild“, und das ist wohl mehr als ein Zugeständnis an die Postzensur. Und noch erstaunlicher, ja eigentlich muss man sagen: noch verrückter sind die antijüdischen Vorbehalte – bei einer Frau, die selbst einer jüdischen Familie entstammt und einen Juden geheiratet hat! Ein jüdischer Freund Monika Manns gefällt ihr nicht: „ich bin halt ein unverbesserlicher Anti, kein bisschen Pro.“ Zu dem Zeitpunkt, November 1934, gab es ja schon genügend Anlass, ein möglicherweise bestehendes Vorurteil zu bedenken.
  Die Hartnäckigkeit, mit der sie bei einmal gefassten Meinungen blieb, war Thomas Mann schwer erträglich. Am 15. Juni 1934 notierte er während eines Besuchs der Schwiegereltern: „Die Renitenz und der sprungbereite zerstörende Negativismus von K.s Mutter im Gespräch sind äußerst widerwärtig.“ Doch damit tat er ihr Unrecht. Schon im Februar 1933 warnt sie ihre Tochter verschlüsselt wie eindringlich vor der Rückkehr nach Deutschland – so klug war sie jedenfalls. Doch für sich und ihren Mann schien das Exil keine Lösung. Zu alt, zu „lebensunmutig“ fühlten sie sich. Ihre Lage verschlechtert sich stetig.
  Das Palais in der Arcisstraße wird (wenn auch gegen Entschädigung) enteignet, es beginnt die behördliche Drangsalierung. Der NS-Staat will die wertvolle Pringsheimsche Kunstsammlung verwerten und deshalb keine Pässe für die Ausreise ausstellen. „Dann haben wir als J. (= Juden) kein Theater, kein Konzert, kein Kino, keine Ausstellung mehr besuchen dürfen.“ Doch gegenüber der Tochter wird nicht geklagt. Sie soll nicht belastet leben, wo ohnedies nicht zu helfen ist. Die Frau, deren Leben lange so glanzvoll und leicht zu verlaufen schien, zeigte große Disziplin, als es ernst wurde. „Es muss halt gehen; wie alles, was gehen muss, schließlich auch geht.“ Vom Leben lange verwöhnt, muss sie sich im Unglück spöttisch straff gehalten haben: „Also ich bin nicht glücklich. Aber das kann man ja auch wirklich now-a-days nicht verlangen.“
„Mit den Kindern getobt“ – das
werden nicht viele Frauen ihrer
Gesellschaftsschicht getan haben
Dass das Land, das ihnen Heimat
war, sich so verändern würde,
konnte sie sich nicht vorstellen
  
        
Hedwig Pringsheim:
Tagebücher. Band 1: 1885- 1891. Band 2: 1892-1897. Herausgegeben und kommentiert von Cristina Herbst. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 718 und 767 Seiten, je 49,90 Euro.
  
Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933- 1941. Herausgegeben und kommentiert von Dirk Heißerer und Christina Herbst. Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
Zwei Bände, zusammen 1714 Seiten, 89 Euro.
Hedwig Pringsheim um 1890 mit den Kindern, von oben nach unten: Heinz, Erik, Peter, Katia (man beachte die Halskrausen von Mutter und Tochter) und Klaus.
FOTO: WALLSTEIN VERLAG, ARCHIV NEUMANN
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