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Aus der Höhe des Bündner Bergdorfs abgestürzt in die Stadt im Tal, wo eine fremde Sprache gesprochen wird und Sitten herrschen, denen der Bub vom Land hilflos begegnet, beginnt für ihn eine Zeit des Leidens. Als er endlich auf die Füße kommt, gelingen ihm Entdeckungen und er startet zu neuen berauschenden Flügen - ins Reich der Literatur, ins Reich der Musik. Eines Tages, viele Jahre später, im Gepäck das Material für ein Filmprojekt, findet er sich im Flughafen der Großstadt ein, um über die Alpen zu fliegen, in den Süden, ins Offene, in die Wärme - oder ist es Flucht? Viel Zeit vergeht an…mehr

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Produktbeschreibung
Aus der Höhe des Bündner Bergdorfs abgestürzt in die Stadt im Tal, wo eine fremde Sprache gesprochen wird und Sitten herrschen, denen der Bub vom Land hilflos begegnet, beginnt für ihn eine Zeit des Leidens. Als er endlich auf die Füße kommt, gelingen ihm Entdeckungen und er startet zu neuen berauschenden Flügen - ins Reich der Literatur, ins Reich der Musik. Eines Tages, viele Jahre später, im Gepäck das Material für ein Filmprojekt, findet er sich im Flughafen der Großstadt ein, um über die Alpen zu fliegen, in den Süden, ins Offene, in die Wärme - oder ist es Flucht? Viel Zeit vergeht an jenem Tag, bis die Kontrollen durchlaufen sind und das Flugzeug zum Einsteigen bereitsteht. Seine Gedanken schweifen zurück zu den Anfängen der Fliegerei: der »kleinen« rund um den Wohnzimmertisch und der »großen« vor hundert Jahren, als ein Traum wahr und in den Luftschlachten und Bombardements des Ersten Weltkriegs gleich darauf zum Albtraum wurde. Wie wird der Flug, der vor ihm liegt, verlaufen? Sturz ist ein musikalisch angelegtes und erfinderisch instrumentiertes, vielteiliges Epos mit einer Fülle unterschiedlicher Stoffe, in vielerlei Rhythmen, Tempi und Tonarten: Kindheit und Jugend eines Alpenbewohners in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie noch niemand sie zum Fliegengebracht hat.
Autorenporträt
Hänny, Reto§Reto Hänny, geboren 1947 in Tschappina, einem kleinen Bergdorf in Graubünden. Nach ausgedehnten Reisen und verschiedenen Tätigkeiten u.a. als Ziegenhirte, Schullehrer und Bühnenarbeiter am Theater in Chur, debütierte er 1979 mit Ruch. Ein Bericht und erregte mit Zürich, Anfang September, einem Bericht über die Zürcher Jugendunruhen 1980, erstmals großes Aufsehen. Neben seiner intensiven Auseinandersetzung mit Neuer Musik und Bildender Kunst entsteht ein überschaubares, aber umso dichteres literarisches Werk. Hänny, der zahlreiche literarische Auszeichnungen erhielt, u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis und zuletzt den Zolliker Kunstpreis, lebt als freier Schriftsteller in Zollikon/Zürich und Graubünden.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Martin Ebel hat sich mit Reto Hänny in Zürich getroffen, um mit dem Schweizer Autor über den "Karriereknick" nach dem Bachmann-Preis, Skandale der Achtziger und natürlich den neuen Roman zu plaudern. "Sturz" ist die inzwischen dritte Bearbeitung seines "Flug"-Stoffes, drei mal so lang und viel reicher an biografischen Details, klärt der Rezensent auf und warnt vor: Hännys "Satzmonster" können sich über zehn Seiten ziehen und die Erinnerungen an seine Kindheit sind mitunter "grausam". Keine leichte Lektüre also, fährt Ebel fort, verliert sich aber dennoch gern in den freischweifenden Romanräumen dieses "Sprachberauschten". Und wenn der Rezensent dort noch auf James Joyce, Jonathan Swift oder Gustave Flaubert trifft, freut er sich umso mehr.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2020

Die längsten Sätze der Schweiz
Gerade ist Reto Hännys komplizierter, maßloser, aufregender Roman „Sturz“ erschienen. Ein Treffen mit dem Autor
Wer vor ein paar Jahren eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich besuchte, konnte auf einen Wärter mit einem bekannten Gesicht treffen: den Schriftsteller Reto Hänny, der sich dort ein paar Franken verdiente und es ansonsten genoss, großen Kunstwerken nahe zu sein. Reto Hänny war eine Zürcher Prominenz wider Willen. 1980, im Umfeld der Opernhauskrawalle, war er von der Polizei niedergeknüppelt worden, noch in der Gefängniszelle entstand „Zürich, Anfang September“, ein mittlerweile ikonischer Text über diese Zeit.
1994 gewann Hänny in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis, von dem er heute sagt: „Das war der totale Karriereknick!“ Vom Preis selbst war er bereits überrumpelt, mehr noch von dem, was darauf folgte: eine Kampagne in der Boulevardpresse wegen „Gewaltpornografie“. Das lief und funktionierte damals noch ganz ohne Hashtag. Auf der Straße, in der Tram im Supermarkt wurde er angepöbelt, natürlich von Leuten, die den komplizierten Text gar nicht gelesen hatten: „Da hockt der Schweinehund!“
„Ich dachte, ich schreibe nie mehr was“, erzählt Hänny bei einem Cappuccino im Zürcher Kunsthaus-Café. Der 72-Jährige mit charakteristischem Haarkranz – dünn, aber lang – erzählt ohne Punkt und Komma. Manchmal glaubt man sich in seinem neuen Roman, in dem man ebenfalls lange auf einen Punkt warten muss, manchmal zehn Seiten und mehr.
Gerade ist der Roman erschienen, „Sturz“ heißt er, ein fast 600-seitiges Opus, das sein Berliner Verlag als „Schweizer Ulysses“ ankündigt. Das ist wie alle derartigen Etiketten natürlich Blödsinn, aber als Referenz doch plausibel: Mit James Joyces Dublin-Epos hat der kleine Reto einst seine Lese- und Rechtschreibschwäche überwunden: „Das war die Idee meines Lehrers, des rätoromanischen Dichters Cla Biert. Ich durfte das berüchtigte Buch in der Bibliothek nicht ausleihen, sondern nur jeden Tag eine Stunde im Hinterzimmer darin lesen.“ Mit „Blooms Schatten“ hat Hänny dem Autor seiner Rettung noch einmal gehuldigt: Das Buch schreibt den „Ulysses“ noch einmal, auf hundert Seiten und in einem einzigen Satz.
Auch „Sturz“ ist ein Rewriting, der Untertitel lautet passenderweise: „Das dritte Buch vom Flug“. Der erste „Flug“ war 1985 erschienen, die zweite, überarbeitete Fassung 2007 in der Bibliothek Suhrkamp. Siegfried Unseld hat ihn sehr gefördert, aber dass er ihm eine Pauschale gezahlt und eine Villa geschenkt habe: Das war bloß ein (von neidischen Kollegen gestreutes?) Gerücht.
Der dritte Flug, also „Sturz“, ist fast dreimal so lang wie seine Vorgänger, aber in der Struktur und im Charakter ähnelt er ihnen. Es geht wieder um den Traum vom Fliegen, illustriert am Luftfahrtpionier Louis Blériot und an einem kleinen Bündner Bauernbuben, der mit einem Spielzeugpropeller im Wohnzimmer herumkreist und die versammelte Familie so nervt, dass der Großonkel ihm das Spielzeug zerbricht.
Ein Trauma, würde ein Psychoanalytiker folgern; in jedem Fall ein Schlüsselmoment der in Literatur verwandelten Biografie. Sicher, „Sturz“ besteht aus biografischem Material, Kindheit, Schulzeit, schwieriger Jugendzeit in der verhockten Provinzstadt „Ruch“ (Chur), musikalischen Erweckungserlebnissen mit Bartók und Free Jazz. Aber es ist eben Material, jetzt, beim dritten Anlauf, mehr denn je. Er sei viel freier, seit etliche Vorbilder der Figuren tot seien, sagt Hänny.
Aber auch stärker gefordert: Das Material öffnet sich beim Überschreiben, gibt mehr und mehr Details preis, die ihre Versprachlichung verlangen. Es ist, als ob der Autor immer stärkere Lupen benutzt, um noch mehr aus dem Stoff herauszuholen. Es sind besondere, fantastische Lupen, denn das erinnerte Detail setzt Assoziationen frei, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, schwingt sich auf in entfernte Regionen, will einfach nicht zum Punkt kommen. Reto Hännys Sätze waren schon immer lang. Jetzt ufern sie noch mehr aus. Dass sie über mehrere Seiten gehen, ist der Normalfall. Es sind Sätze, die fliegen, aber niemals landen mögen. Eingeklammerte Einschübe, Parenthesen weiten sie aus, manchmal holt er zwischen Artikel und Substantiv noch einmal tief Atem, und allein dieser Zwischenraum würde die Textchefs jedes journalistischen Mediums zum Rotstift greifen lassen.
Keinen Rotstift, aber einen Bleistift hat der Kritiker gelegentlich benutzt, um sich die Bezüge in den Satzmonstern klarzumachen. Und dabei an seinen Lateinunterricht denken müssen, wo es hieß: Suche das Prädikat, dann das Subjekt! Solch eine Literatur ist das also. Sie hat nichts mit gut konsumierbaren Plots zu tun, die auf die Bestsellerlisten wandern. Auch nicht mit der „gendergerechten Bachelor-Literatur“, die „auf Teufel komm raus gefördert“ werde, wie es im Buch, in einem polemischen Anhang, heißt. Dort bekommen auch die Kritiker („Aasgeier“) ihr Fett weg, so wie die „Patrioten“ („der Teil der Bevölkerung, der sich mit dem Volk gleichsetzt“).
Reto Hänny ist mitnichten altersweise oder altersmild geworden, und „Sturz“ ist politischer als die Vorgängerversionen. Auch härter. Seine Kindheit, das wird jetzt noch klarer, „war keine Landidylle“. Es gibt harte, ja grausame Passagen im Roman, etwa eine Fortspinnung des satirischen Vorschlags von Jonathan Swift, die Kinder der Armen als Einjährige an Adlige zu verkaufen, als kulinarische Delikatesse.
Literatur entsteht aus Literatur, davon ist Reto Hänny überzeugt, und neben seinem Lebensstoff, der durch die mehrfache Bearbeitung längst literarisches Material geworden ist, finden sich in „Sturz“ offene oder versteckte Zitate und Passagen von etlichen Autoren, auch wieder von Joyce, dessen „Ulysses“ hier ein weiteres Mal nacherzählt wird (nicht auf 100 Seiten, aber immerhin auf 14).
„Ich habe erfunden, ich habe mich erinnert, und ich habe kombiniert“: In diesem Satz von Flaubert findet Reto Hänny sein poetisches Konzept gut ausgedrückt. Dass er einige Leser überfordert, ist ihm klar, aber: „Ich überfordere mich ja selbst.“ Mühsame Arbeit sei das, an den Sätzen zu schrauben, bis sie richtig klängen. Tatsächlich liest er sie sich laut vor, und er besteht darauf, dass die seitenlangen Getüme bei Lesungen verständlicher rüberkommen als bei stiller Lektüre.
Reto Hänny schreibt so, wie er schreiben muss. Aber das Ergebnis lässt sich auf vielfältige Weise lesen, jedenfalls „nicht als Botschaft eines Autor-Gottes“. Es ist vielmehr ein Raum, der eine Vielzahl von Schreibweisen vereinigt und in dem sich der Besucher nach Belieben bewegen kann. Die Leser Reto Hännys sind frei. Sie können das Buch nach Ende und Absturz – „und wir bereits zerschellt“ – wieder von vorn anfangen – „durchaus möglich“ beginnt es. Sie können aussteigen und wieder einsteigen. Natürlich gibt es einfachere Lektüren. Aber wer sich für Literatur am Extrem ihrer Möglichkeiten interessiert, der kommt um Reto Hänny, diesen Sprachberauschten, Sprachverrückten, Sprachmagier, nicht herum.
MARTIN EBEL
Reto Hänny: Sturz. Das dritte Buch vom Flug. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 580 Seiten, 36 Euro.
„Ich überfordere mich ja selbst“: der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny.
Foto: Ayse Yavas
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»Denn 'Sturz' demonstriert in einer Gegenwart, die auf sprachliche Verknappung gebürstet ist, die waghalsige Entgrenzung der Sprache.« Timo Posselt NZZ - Neue Zürcher Zeitung am Sonntag 20200426