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Neun Aufsätze, die die Dekade 1997-2017 umspannen. Darunter ein umfangreicher Text zu Nietzsche aus dem Jahre 2017, der hier überhaupt zum ersten Mal veröffentlicht wird. Plus eine eigens für diesen Band verfasste 80-seitige Einleitung, die den aktuellen Arbeitsstand zu seinem philosophischen Projekt wiedergibt. Alle Texte ausnahmslos sind Erstübersetzungen. Lässt sich das »Ding an sich« tatsächlich denken? Mit welchem Recht lässt sich einzig die Kontingenz als genau diese »Realität an sich« denken und sich als absolutes Prinzip, als »Prinzip der Faktualität«, artikulieren?Ist es möglich, dass…mehr

Produktbeschreibung
Neun Aufsätze, die die Dekade 1997-2017 umspannen. Darunter ein umfangreicher Text zu Nietzsche aus dem Jahre 2017, der hier überhaupt zum ersten Mal veröffentlicht wird. Plus eine eigens für diesen Band verfasste 80-seitige Einleitung, die den aktuellen Arbeitsstand zu seinem philosophischen Projekt wiedergibt. Alle Texte ausnahmslos sind Erstübersetzungen. Lässt sich das »Ding an sich« tatsächlich denken? Mit welchem Recht lässt sich einzig die Kontingenz als genau diese »Realität an sich« denken und sich als absolutes Prinzip, als »Prinzip der Faktualität«, artikulieren?Ist es möglich, dass ausgerechnet der moderne Skeptizismus ein solches Prinzip implizit voraussetzt? Was würde es bedeuten, wenn Humes Problem, entgegen der üblichen epistemologischen Auflösung, eine ontologische Lösung zuließe, wenn die stabilen Naturgesetze auf einem unbeherrschbaren und gesetzlosen Chaos fußten? Wenn sich weder irgendeine bestimmte Realität noch die Naturgesetze verabsolutieren lassen, sondern nur ihr »Anders-Sein-Können« und »Nicht-Sein-Können«, ihr mögliches Werden, das sich keinem Kalkül mehr unterwerfen lässt, warum wird dann einigen scheinbar alternativlosen Gegensätzen, wie Atheismus und Theismus, der Boden unter den Füßen entzogen?
Autorenporträt
Quentin Meillassoux (*1967), Philosoph, Normalien, lehrt an der Université Paris-1 Panthéon-Sorbonne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2018

Der Zufall ist der Grund der Welt

Er gilt als das verborgene Haupt einer neuen Metaphysik: Der französische Philosoph Quentin Meillassoux stürzt sich gekonnt in die Spekulation.

Wanderungen von Seelen durch Unterwelten; Systeme von Mikrogeistern, genannt Monaden, die ihre Beziehungen zueinander träumen, indem ihnen eine Raumzeit erscheint, in der sie allerlei durchzumachen haben; ein nach Freiheit strebender Weltgeist, der sich in den Kämpfen der Weltgeschichte immer mehr seiner selbst bewusst wird; totes Kapital, das danach strebt, sich zu vermehren und dafür die Interessen und Absichten der lebendigen Menschen verbiegt und sie in Klassenkämpfe verstrickt: Platon, Leibniz, Hegel, Marx - die Geschichte der Philosophie bietet viele aufregende Erzählungen, teilweise märchenhaft-mythisch, die uns sagen wollen, was es mit uns Menschen und der Welt eigentlich auf sich hat. Dass Philosophie aufregend sein kann, liegt nicht zuletzt an diesen metaphysischen Märchen.

Einige Zeit lang schien es so, als sei es um diese begriffliche Fabulierlust, auch spekulative Philosophie genannt, nicht mehr gut bestellt. Hatten Kant, der logische Empirismus, die sprachanalytische Philosophie und die Postmoderne sie nicht immer wieder zu einer Unmöglichkeit, gar zu geistigem Größenwahn erklärt? Mag sein. Doch die philosophischen Mittel, mit denen die Spekulationen kritisiert wurden, waren, wie der 1967 in Paris geborene Philosoph Quentin Meillassoux zu Recht zeigt, immer wieder Ausgangspunkt neuer Begriffsdichtungen.

Als er 1991 sich selbst daranmachte, eine spekulative Philosophie zu entwickeln, die wieder von dem handelt, was die Welt im Innersten zusammenhält und auch Gott und die Unsterblichkeit in ihren Kalkül zieht, erschien er sich selbst und anderen in der noch blühenden philosophischen Postmoderne wie ein "lebendiger Anachronismus". Gleichzeitig begriff er, dass das "jahrhundertelange Oszillieren" der Philosophie zwischen Kritik und Spekulation seinen eigenen Projekten irgendwann in die Hände spielen müsste. Er hat recht behalten. Nach der Erschöpfung der Postmoderne ist der öffentlichkeitsscheue Meillassoux mit seinem "spekulativen Materialismus", der Motive von Demokrit wiederaufnimmt, so etwas wie das verborgene Haupt einer neuen Metaphysik geworden.

Seine Philosophie macht in Anschluss an Nietzsche den Zufall, das "Hyperchaos", das in "figuralen Selbstbegrenzungen", wie der Autor es nennt, alles grundlos entstehen lassen kann, zum "Absoluten", an dem das begründende Denken seine Grenze findet. An dieser Grenze lässt Meillassoux alles in seiner begriffsdichtenden Philosophie beginnen, nicht begründend, sondern eher erzählend.

Anders als der physikalische Zufall, der seiner Meinung nach immer als Ausnahme von Naturgesetzen zu denken sei (was man bezweifeln kann), soll die absolute Zufälligkeit nichts begründen, aber alles soll aus ihr "hervorbrechen". Sie stellt nicht die Ausnahme von bestehenden Mustern dar, sondern ist als reine Möglichkeit der irrationale "Urgrund" aller faktischen Regularitäten. Aus ihm, so spinnt der Philosoph seine Motive weiter, könne in Zukunft auch ein Gott entstehen, der dann eine "letzte Welt" hervorbringt, "die der Gerechtigkeit entspricht, welche von den Gerechten schon angestrebt wurde" und in der diejenigen wiederkehren können, die ungerechterweise zugrunde gehen mussten. Weil Meillassoux Gerechtigkeit mit universaler Egalität zwischen den Lebenden und den Toten engführt, würde jedoch das Wesen, dem zufällig diese Macht zufiele, universale Gerechtigkeit über alle Zeiten walten zu lassen, sich nicht über andere erheben. Der aus dem Zufall hervorbrechende Gott brächte sich nach der Ausübung seiner Macht gleich wieder zum Verschwinden. Auf die Frage "Was ist Gott?" antwortet der Philosoph deshalb: "Irgendjemand unter uns, solange er auf das Gottsein verzichtet."

Auf diese Weise greift Meillassoux Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr und des sich selbst verschenkenden Übermenschen auf. In Nietzsches neunzehntem Jahrhundert hatten bereits die Physiker Henri Poincaré und William Thomson die Maxwellsche Thermodynamik kosmologisch gedeutet und das Zufallsprinzip universalisiert. Dass im Universum die thermische Unordnung (Entropie) zunimmt, sich alle Temperaturdifferenzen irgendwann ausgleichen, ist dieser Theorie zufolge zwar wahrscheinlich, aber nicht notwendig.

Wenn man lange genug wartet, so muss in der als ein Gas aus Teilchen gedachten Welt irgendwann zufällig auch wieder ein sehr unwahrscheinlicher Zustand auftreten, so wie man in einem Würfelspiel, wenn man die Geduld nicht verliert, irgendwann dreimal die 6 oder 1, 2 und 3 hintereinander werfen wird. Von diesem unwahrscheinlichen und zufällig auftretenden Energieungleichgewicht ginge dann eine Entwicklung aus, in der die thermische Unordnung wieder zunähme. Denkt man sich die Welt zeitlich unendlich, so kehrten in ihr irgendwann alle unwahrscheinlichen Anfangszustände für Entwicklungen wieder.

Einen Gott und Gerechtigkeit gegenüber den Lebendigen und den Toten sahen die Theoretiker der Thermodynamik freilich nicht kommen. Doch abgesehen von dieser eschatologischen Schrulle sind die Parallelen zwischen Meillassoux' Geschichte und den Spekulationen zu einer aleatorischen Kosmologie von Thompson und Poincaré frappierend. Meillassoux sieht das Hyperchaos freilich nicht als eine kosmologische Deutung der Thermodynamik.

Vielmehr meint er in seinem Absoluten erstmals einen Ausgangspunkt des Philosophierens gefunden zu haben, der nicht dem Satz vom zureichenden Grunde und der Annahme von logischen oder natürlichen Gesetzen unterliegt und deshalb auch der Irrationalität oder Absurdität unserer faktischen Situation gerecht werden kann: vor allem der Sinnlosigkeit des Todes. Meillassoux' Metaphysik ist kein rationalistisches Tröstungsprogramm, obwohl sie es für möglich hält, dass ein kommender Gott, der Gerechtigkeit herstellt, sich zufällig aus dem Chaos erheben könnte. Notwendig ist das nicht. Doch ist das Mögliche, das nicht kommen muss, nicht das eigentlich angemessene Objekt der Hoffnung, so dass diese Metaphysik unseren religiösen Gefühlen gerechter wird als die rationale Theologie des siebzehnten Jahrhunderts?

Meillassoux' philosophischer Einfallsreichtum, sein Sinn für metaphysische Verwicklungen, politische Hoffnungen, existentielle Absurditäten, theologische Paradoxien und historische Kämpfe lassen einem beim Lesen den Atem stocken. Hier schreibt ein Autor mit Programm, gedanklicher Ausdauer und stupender Bildung. Das ist erfrischend angesichts des in der Regel redlich und genau vorgehenden, aber gleichzeitig ängstlich spezialisierten "Normalpersonals", mit dessen Produkten man in der philosophischen Akademie gewöhnlich vorliebnehmen muss und bei dem man sich fragt, worauf die Redlichkeit, unabhängig von der eigenen Reputation, eigentlich abzielt.

Freunde der Erfahrung werden sich freilich fragen, woher Meillassoux das alles weiß, was er über das Hyperchaos so berichtet, und was der Erklärungswert seiner als "Thesen" gekennzeichneten Aussagen eigentlich ist. Denn eine Quelle seiner Spekulationen, wie etwa die "intellektuelle Anschauung", nennt der Autor nicht. Ist das alles also bloß Fiktion? Vermutlich. Doch eine Begriffsdichtung, die uns sagt, wie es eigentlich mit uns und der Welt steht und was wir hoffen können, ist einer Philosophie, die ebenfalls keine empirisch abgesicherten Erklärungen anbieten kann, aber ihre Leser mit der Buchhaltung erfahrungsirrelevanter Argumente pünktlich in den Schlaf schickt, allemal als Lektüre vorzuziehen. Man darf sie freilich nicht zu ernst nehmen.

MICHAEL HAMPE

Quentin Meillassoux:

"Trassierungen". Zur Wegbereitung spekulativen Denkens.

Aus dem Französischen von Roland Frommel. Merve Verlag, Berlin 2018. 439 S., br., 30,- [Euro].

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