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Selten hat ein Ereignis der nationalen wie internationalen Kultur- und Kunstszene so viel und so lang andauernden öffentlichen Streit ausgelöst wie die Hergabe von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene, eines Hauptwerks des stilprägenden Brücke-Malers aus der legendären Sammlung des in der Weimarer Republik weithin angesehenen jüdischen Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess und zugleich eines Herzstücks aus dem Bestand des Berliner Brücke-Museums. Dieses Buch versucht, den schicksalhaften Weg des einzigartigen Kunstwerks vor dem Hintergrund des Niedergangs von Unternehmen und Vermögen…mehr

Produktbeschreibung
Selten hat ein Ereignis der nationalen wie internationalen Kultur- und Kunstszene so viel und so lang andauernden öffentlichen Streit ausgelöst wie die Hergabe von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene, eines Hauptwerks des stilprägenden Brücke-Malers aus der legendären Sammlung des in der Weimarer Republik weithin angesehenen jüdischen Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess und zugleich eines Herzstücks aus dem Bestand des Berliner Brücke-Museums. Dieses Buch versucht, den schicksalhaften Weg des einzigartigen Kunstwerks vor dem Hintergrund des Niedergangs von Unternehmen und Vermögen der Familie des Sammlers in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und dokumentarisch nachzuzeichnen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2018

Lehrstück für unsachgemäßes Handeln

Verwickelt: Ein Band dokumentiert die Restitutionsgeschichte von Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Berliner Straßenszene".

Am 1. August 2006 wurde Ernst Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene" aus dem Jahr 1913, ein Hauptwerk des deutschen Expressionismus, an die in London lebende Erbin des einstigen jüdischen Eigentümers Alfred Hess vom Berliner Senat restituiert. Die Rückgabe dieses Gemäldes, das seit 1980 im Berliner Brücke-Museum hing, hat, vor nun zwölf Jahren, einen bisher in seiner Heftigkeit einmaligen Streit ausgelöst.

Im Ergebnis wurde das Werk direkt nach der Restitution vom Auktionshaus Christie's, das bei diesem Vorgang begleitend mitwirkte, in New York am 8. November 2006 für 38,1 Millionen Dollar versteigert. Sein Käufer war Ronald Lauder, der amerikanische Unternehmer, Kunstsammler, Gründer der "Neuen Galerie" in New York und seit Juli 2007 Präsident des Jüdischen Weltkongresses.

Jetzt hat der auf Restitution spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Ludwig von Pufendorf für den Förderkreis Brücke-Museum in Berlin, dessen Vorsitzender er seit dem Jahr 2000 ist, unter dem Titel "Erworben. Besessen. Vertan" zum Fall Kirchner einen Band mit zahlreichen Bildern und faksimilierten Zeugnissen herausgegeben. Seine "Dokumentation zur Restitution von Ernst Ludwig Kirchners ,Berliner Straßenszene'" dient dem Versuch, die Unrechtmäßigkeit dieser Rückgabe zu belegen und sie womöglich rückgängig zu machen.

Die Vorgeschichte kann hier nur angedeutet werden. Kirchners "Berliner Straßenszene" gehörte einst dem jüdischen Schuhfabrikanten Alfred Hess in Erfurt, einem Förderer und Sammler der damaligen Moderne. Sein Unternehmen geriet im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1930 in Insolvenz; Hess starb 1931. Seine Witwe Tekla verbrachte die verbliebenen Kunstwerke erst an ihren Geburtsort Lichtenfels in Franken, dann "spätestens im Herbst 1933", so verzeichnet es die "Chronologie" im vorliegenden Band, in die Schweiz nach Basel in die Kunsthalle. Die Bilder wurden in Basel und dann 1934 im Kunsthaus Zürich in der Ausstellung "Neue deutsche Malerei" gezeigt. Sieben der Gemälde, darunter die "Straßenszene", gingen 1936 weiter nach Köln zum Kölnischen Kunstverein.

Alfred und Tekla Hess' Sohn Hans war 1933 nach London emigriert; 1939 folgte ihm seine Mutter dorthin. Sicher ist, dass der Frankfurter Sammler und Mäzen Carl Hagemann, Ende 1936 oder Anfang 1937, die "Straßenszene" für 3000 Reichsmark in Köln erworben hat. Nach Hagemanns Unfalltod schenkte seine Familie das Bild Ernst Holzinger, Direktor des Städel Museums in Frankfurt, weil dieser Hagemanns Sammlung, deren Werke den Nationalsozialisten als "entartet" galten, gerettet hatte. Holzingers Witwe verkaufte die "Berliner Straßenszene" 1980 für damals enorme 1,9 Millionen Mark an das Brücke-Museum in Berlin.

Was Pufendorf interessiert, ist weniger die Frage, ob, als vielmehr der Nachweis, dass Kirchners Bild nicht als verfolgungsbedingter Verlust durch die Nationalsozialisten gelten dürfte; dass sein Verkauf also vielmehr Folge der Zahlungsunfähigkeit der Firma Hess zuvor wäre, entsprechend die Restitution nicht angebracht. Auch in dieser Zeitung wurde die Problematik grundlegend diskutiert (etwa F.A.Z. vom 16. und 17. August 2006). Vor allem stand das Vorgehen des Personals im damaligen Berliner Senat in der Kritik, das sich den forcierten Forderungen der Anwälte der Erbin, unterstützt vom Vorgehen der Auktionsfirma, vorschnell ohne weitere Recherchen und Verhandlungen beugte - und ohne mit Nachdruck zu versuchen, das Bild in Berlin zu halten.

Dass der Berliner Senat damals grundsätzlich verantwortungslos gehandelt hat im Umgang mit dem kapitalen Werk, steht außer Frage, zumal die Rückgabeforderung bereits seit 2004 bestand. Scharf kritisiert wurde außerdem die Preistreiberei im internationalen Kunstmarkt, im Verein mit auf "art law" spezialisierten Anwälten.

Zu den Beiträgern in Pufendorfs Publikation gehören, neben anderen, auch Friedrich Kiechle und Peter Raue, die mit ihm im Grundsatz einig sind. Kiechle, Verwaltungsrichter im Ruhestand, hat schon 2007 in dieser Zeitung seine Einwände gegen die Rückgabe ausgeführt. Der Rechtsanwalt Raue tat das ähnlich zuvor in der Berliner Zeitung "Tagesspiegel" unter der Überschrift "Nicht fair und nicht gerecht", wo er dem Berliner Senat, mit Hinweis auf die "Grundsätze der Washingtoner Konferenz" 1998 in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden, "umfassende Geheimhaltung des Vorgangs" vorwarf.

Im aktuellen Beitrag konkretisiert Raue seine Einwände, wobei er allerdings eigens erwähnt, dass er zwar persönlich keinen Zweifel daran habe, dass diese Restitution "unter Verkennung (oder durch Unterdrückung) des wahren Sachverhalts" erfolgt sei; jedoch: "Ich vermeide das Wort ,rechtsgrundlos', weil sich selbst die ,berechtigte' Restitution nicht auf rechtliche, sondern nur auf metarechtliche Überlegungen stützen kann. Aber auch diese tragen weder die Entscheidung noch rechtfertigen sie die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der der Berliner Senat gehandelt hat."

Das ist so elegant wie korrekt; denn damit trifft Raue einen entscheidenden Punkt in der Affäre: dass nämlich versäumt wurde, den Fall der "Limbach-Kommission" vorzulegen, die eigens für solche, in ihren moralischen Implikationen komplexe Probleme geschaffen wurde. Die Kommission, die offiziell "Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz" heißt, wurde am 14. Juli 2003 eingerichtet und kann von Betroffenen zu Fragen der Restitution von Raubkunst angerufen werden.

Hintergrund ist die "Washingtoner Erklärung" vom Dezember 1998, in der sich die Unterzeichnerstaaten, darunter Deutschland, verpflichten, unter Einbezug moralischer Erwägungen für in der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmte Kunstwerke, also Raubkunst, eine "faire und gerechte Lösung" zu finden. Es ist dies eine freiwillige Übereinkunft, die rechtlich nicht bindend ist, worauf eben Raue verweist.

Nicht nur zwischen den Zeilen macht Pufendorf seinerseits deutlich, dass er, am Ende seiner Argumentationskette, eine Rückabwicklung dieser Restitution und mithin der an sie anschließenden Auktion für angemessen hielte. Die "Berliner Straßenszene", so der kantige Schluss seiner Einführung in die "Dokumentarische Chronologie" des Falls, "gehört nach Berlin, ins Brücke-Museum".

Dafür hat er bereits im "Vorwort und Leitfaden" die "Anlage V" zur Umsetzung der "Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" vom Dezember 1999 herangezogen, die an die "Washingtoner Prinzipien" anschließt. In der Anlage steht: "Hat der Anspruchsteller sich unlauterer Mittel bedient oder vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder irreführende Angaben gemacht, veranlasst oder zugelassen (Missbrauch), kann die Herausgabe versagt werden."

Genau den Nachweis allseitigen "Missbrauchs" bei der Restitution der "Berliner Straßenszene" soll die Publikation erbringen, wie der Titel schon insinuiert. Pufendorf geht mit seiner Einschätzung da sehr weit. Wesentlich weiter als Peter Raue, der es am Ende seines Beitrags mit versöhnlichen Worten "geradezu als Glücksfall in diesem Trauerspiel" bezeichnet, dass Kirchners Bild "in der dem deutschen und österreichischen Expressionismus verpflichteten grandiosen Neuen Galerie an der Fifth Avenue in New York" gelandet ist: "Dort werden hoffentlich mehr Menschen sich an diesem Jahrhundertwerk erfreuen", so Raue, "als das in Berlin je der Fall sein könnte."

Pufendorfs Beweisführung dient auf mehr als neunzig Seiten seine akribische "Dokumentarische Chronologie" des Hergangs, von 1913 bis 2010. Dort erwähnt er auch Briefe von Kirchner an Carl Hagemann in Frankfurt, die in dem 2004 erschienenen, knapp tausend Seiten starken Band "Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde, Nay. Briefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann" versammelt sind. Er zitiert aus Kirchners Brief vom 10. Februar 1937: "Es freut mich, dass Sie das Strassenbild aus Cöln kauften, allerdings weiss ich nicht, welches es ist. Vielleicht photographieren sie es einmal?"

Indessen erscheint in der "Chronologie" nicht Kirchners Brief an Hagemann vom 30. Oktober 1936, also vor dem Verkauf. Dort kommt Kirchner auf "das Straßenbild 90 mal 120" zurück, das Hagemann offenbar vorher erwähnt hatte. Es sind die Maße der "Berliner Straßenszene", die Fußnote im Band mit den Korrespondenzen identifiziert das Bild entsprechend mit dem Hinweis, dass "es sich um ein Angebot des Kölner Kunstvereins" gehandelt habe. Weiter schreibt Kirchner aus Davos, wo er seit 1917 lebt, in diesem Brief Ende Oktober: "Das Strassenbild wird wohl das sein, was auch hier ausgestellt war in Zürich mit rot und blau nicht grün. Wahrscheinlich gehören die Bilder jüd. Leuten, die wegmüssen."

Pufendorf erwähnt diese Briefstelle lediglich in seiner "Einführung" zur "Chronologie", um jedem impliziten Verdacht gegen den "untadeligen, über jeden charakterlichen Zweifel erhabenen Käufer Carl Hagemann" entgegenzutreten. Was gar nicht nötig ist. Denn Kirchners Bemerkung lässt ja nicht nur keinen Zweifel daran, dass er selbst durchaus wusste, für welches Bild sich Hagemann interessiert. Sondern sie lässt auch keinen Zweifel daran, dass ihm zumindest eine Gefährdung der (im Oktober 1936 noch) Besitzer seiner Bilder in Deutschland bewusst war. Diese Tatsache ist für eine chronologische Dokumentation des Falls immerhin zur Kenntnis zu nehmen.

Seit 2006 sind immer wieder Werke aus der einstigen Sammlung von Alfred Hess restituiert worden. Auch Ronald Lauder hat im September 2016 aus seinem Privatmuseum, der "Neuen Galerie" für deutsche und österreichische Kunst in New York, Karl Schmidt-Rottluffs 1914 entstandenen gelben "Akt", der bis 1994 als verschollen galt, dann aber in Auktionen bei der Villa Grisebach in Berlin aufgetaucht war, an die Erbin in England zurückgegeben; danach hat Lauder das Bild für das Museum wieder erworben.

Bekannt wurde zuletzt der Fall von Kirchners "Urteil des Paris", ebenfalls aus dem Jahr 1913, dem wichtigsten Werk im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen (F.A.Z. vom 2. September 2016). Das Gemälde war auf Umwegen über eine Schenkung dorthin gekommen. In Ludwigshafen, wo der Restitutionsantrag der Anwälte der Erbin ebenfalls, wie für die "Straßenszene", seit 2004 vorlag, handelte man umsichtig und klug. Man trat in einen Dialog mit den Anspruchstellern ein, um den Verbleib im Museum zu ermöglichen.

Nachdem ein von der Kulturstiftung der Länder in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Provenienzlücke zwischen 1937 und 1957 nicht zu schließen sei, konnte eine Einigung gefunden werden. Diese sah in einer gemeinsamen Erklärung "im Sinne einer fairen und gerechten Lösung" vor, "dass das Bild zu einem Abgeltungsbetrag erworben wird". Die wohl sechs Millionen Euro, gewiss deutlich unter dem Marktwert, konnten mit Hilfe des Einsatzes von Bund, Land, Stiftungen und der Stadt aufgebracht werden; die letzte Million beschaffte dabei Bürgersinn in einem Crowdfunding.

Es ist schade, dass Pufendorf in seinem "Vorwort und Leitfaden" auch diese vorbildliche Einigung als einen "trotz eines gegen eine Restitution Bedenken äußernden Gutachtens zustande gekommenen Vergleich" bezeichnet (nicht genannt ist der Verfasser dieses Gutachtens). Dies, obgleich er selbst doch am besten weiß, dass jede Restitution als ein Einzelfall zu behandeln ist. Das ist inzwischen, meist hinter den Kulissen der Öffentlichkeit, auch zur begrüßenswerten Praxis zwischen den Museen und den Antragstellern geworden. Trotzdem bleibt die Dokumentation zweifellos ein warnendes Lehrstück für unsachgemäßes Handeln, seitens inkompetenter Volksvertreter zumal.

Dass von der Erbin zudem ein Rückkaufsangebot bei rund fünfzehn Millionen Euro für die "Berliner Straßenszene" vorlag, kann nicht unerwähnt bleiben. Denn es geht um unser aller Kulturgut, das nicht aus falsch verstandenem gutem Willen unter Druck einfach losgelassen werden darf. Es geht darum, "faire und gerechte Lösungen" zu finden.

ROSE-MARIA GROPP.

"Erworben. Besessen. Vertan". Dokumentation zur Restitution von Ernst Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene".

Hrsg. von Ludwig von Pufendorf für den Förderkreis Brücke-Museum. Kerber Verlag, Bielefeld 2018. 264 S., Abb., geb., 45,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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