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Götz Aly betrachtet aus einem Blickwinkel, der sie als Gefälligkeitsdiktatur zeigt. Hitler, die Gauleiter, Minister und Staatssekretäre agierten als klassische Stimmungspolitiker. Sie fragten sich täglich, wie sie die Zufriedenheit der deutschen Mehrheitsbevölkerung sichern konnten. Auf der Basis von Geben und Nehmen erkauften sie sich deren Zustimmung oder wenigstens Gleichgültigkeit durch eine Fülle von Steuerprivilegien, mit Millionen Tonnen geraubter Lebensmittel und mit der Umverteilung des "arisierten" Eigentums von verfolgten und ermordeten Juden aus ganz Europa. Den Deutschen ging es…mehr

Produktbeschreibung
Götz Aly betrachtet aus einem Blickwinkel, der sie als Gefälligkeitsdiktatur zeigt. Hitler, die Gauleiter, Minister und Staatssekretäre agierten als klassische Stimmungspolitiker. Sie fragten sich täglich, wie sie die Zufriedenheit der deutschen Mehrheitsbevölkerung sichern konnten. Auf der Basis von Geben und Nehmen erkauften sie sich deren Zustimmung oder wenigstens Gleichgültigkeit durch eine Fülle von Steuerprivilegien, mit Millionen Tonnen geraubter Lebensmittel und mit der Umverteilung des "arisierten" Eigentums von verfolgten und ermordeten Juden aus ganz Europa. Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft - begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord.

Autorenporträt
Aly, GötzGötz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2005

Wohin floß das Geld?
Ein Fall offensiver Unkenntnis: Wolfgang Seibels Kritik an "Hitlers Volksstaat" / Von Götz Aly

Mein Buch "Hitlers Volksstaat" beschreibt auf 350 Textseiten, wie der NS-Staat die Völker Europas, Millionen von Zwangsarbeitern und Juden zugunsten der deutschen Mehrheitsbevölkerung ausplünderte. Territorial reicht die Studie von Oslo über Amsterdam bis Tunis, von Rhodos über Bukarest bis Riga, von Bordeaux bis Kirowgrad. Das kann nicht mit gleichmäßig-spezialistischer Intensität geschehen und erfordert kursorische Abschnitte. In der fünften Auflage des Buches wurden acht kleinere Versehen korrigiert. Ich freue mich über weitere Hinweise. Das gilt auch für die Kritik von Wolfgang Seibel. Weit überzogen aber ist es, wenn er sich unter der Überschrift "Rechnungen ohne Belege. Götz Alys scheingenauer Bestseller" (F.A.Z. vom 25. Juli) über einige tatsächliche und vermeintliche Ungenauigkeiten erhebt.

Betrachten wir den ersten Einwand. Walther von Brauchitsch war in der Tat Oberbefehlshaber des Heeres. Er wird an drei Stellen des "Volksstaats" mit seinem richtigen Titel bezeichnet, an einer - unrichtig - als "Oberkommandierender der Wehrmacht", der im Oktober 1940 verlangte, "eine Beschleunigung der Maßnahmen gegen die Juden hier in Frankreich durchzudrücken". Von Brauchitsch trat in der fraglichen Besprechung als Vertreter der Wehrmachtführung auf, so entstand der Lapsus. Seibel macht daraus einen "erstaunlichen Fehler", einen "handwerklichen Schnitzer". Ferner moniert er eine - im Zusammenhang gelesen - ersichtlich vertippte Jahreszahl, die bereits korrigiert ist; ein mißidentifizierter Herr namens "Schmidt" und zwei, drei andere Ungenauigkeiten, die der Kritiker in dankenswerter Weise benennt, werden sich bei nächster Gelegenheit berichtigen lassen. Durchgesehene und ergänzte Auflagen gehören zum Gang der Wissenschaft.

Die anderen Einwände betreffen die historische Perspektive und die Fragestellung. Da Seibel seit längerem aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht zur deutschen Rassenpolitik im besetzten Westeuropa arbeitet, rückt er den Abschnitt über die Arisierung in Frankreich in den Mittelpunkt seiner Attacke. Sieht man von kleineren Aufsätzen ab, liegen die Ergebnisse seines im März 2004 abgeschlossenen Projekts "Holocaust und ,Polykratie' in Westeuropa" noch nicht vor. Er kündigte im Dezember 2003 an, "das große Werk" 2004/2005 während eines Aufenthalts am Berliner Wissenschaftskolleg abzuschließen. Es müßte also druckreif sein.

In "Hitlers Volksstaat" analysiere ich die gleichermaßen rassistisch wie sozialstaatlich angelegte, am Gemeinwohl der Deutschen ausgerichtete Umverteilungspolitik des NS-Staates. Dazu gehört der kollektive Nutzen, den die Mehrheitsdeutschen aus der Arisierung jüdischen Eigentums im gesamten besetzten und verbündeten Europa zogen. Es geht mir nicht um jene Vorteile, die sich die nationalen Kollaborateure verschafften und zum Zweck des Wohlverhaltens verschaffen sollten. Auch zielt mein Buch nicht darauf, das Zusammenwirken aller an der Judenpolitik beteiligten deutschen und nichtdeutschen Dienststellen in sämtlichen, analytisch oft bedeutungslosen Verästelungen darzustellen. Vielmehr beschreibe ich, wie die Deutschen ihre Interessen durchsetzten und sich dafür vorhandener Institutionen bemächtigten, nicht wann und mit welchen Absichten diese gegründet wurden.

"Hitlers Volksstaat" zeigt, wie fast überall in Europa die Erlöse aus den unter sogenannte Treuhänderschaft gestellten Vermögen der Juden über die Staatshaushalte der besetzten Länder in die deutsche Kriegskasse flossen. Bislang übersehen hat dieses - erst jetzt auf der Grundlage meines Buches diskutierte - materielle Hauptziel der deutschen Judenpolitik nicht allein Wolfgang Seibel. Das Manko kennzeichnet die Arbeiten ausnahmslos aller von ihm als Gewährsleute benannten Kollegen. Sein soeben erschienener, zusammen mit Gerald D. Feldman herausgegebener Sammelband "Networks of Nazi Persecution" bestätigt das eindrucksvoll.

Hinsichtlich des in mehreren Aufsätzen behandelten Themas "Arisierung" ist das Buch gelinde gesagt angestaubt. Wie in der Produktion akademischer Sammelbände leider nicht selten, enthält es eine Reihe von Aufsätzen, die schon Geschriebenes wiederholen oder bereits publizierte Studien zusammenfassen. Doch wissen die Autoren und die beiden Herausgeber einfach nicht, was Görings Bemerkung vom 12. November 1938, "den Juden aus der Wirtschaft heraus und in das Schuldbuch hineinzubringen", für die Arisierungspolitik in Deutschland bedeutete. Damit war die sofortige Umwandlung in Reichsschuldverschreibungen gemeint. Dieses System wurde später auf fast alle besetzten und verbündeten Staaten übertragen, auch auf Frankreich.

Seibel verkennt das zentrale Ziel des als Arisierung bezeichneten Staatsraubes. Zum Teil mag sich seine Kritik als Offensive eines in seiner Unwissenheit Ertappten erklären. Es ist eben falsch, wenn in dem von ihm mitverantworteten Band behauptet wird, die Aktien der deutschen Juden seien bis 1941 nicht verkauft worden. Tatsächlich wurden sie fortlaufend Stück für Stück, unter sorgfältiger Beachtung der Kursentwicklung bis zum Ende des NS-Staates in den Aktienmarkt eingespeist, hauptsächlich 1939 und 1940. Bis zur Deportation der Juden wurden die Erträge in langfristige Staatsanleihen verwandelt, die Erträge aus später verkauften Werten dann direkt als "allgemeine Verwaltungseinnahmen" in den Staatshaushalt eingestellt. Dasselbe galt für Sparbücher, Lebensversicherungen und für noch offene Forderungen, für zwangsweise verkaufte Liegenschaften und Unternehmen.

Das Reichspropagandaministerium untersagte jeden Bericht über solche Finanztransaktionen. Nach der Deportation der Juden wurden die Staatstitel, die noch auf den Namen des formellen jüdischen Eigentümers lauteten, aus dem Schuldbuch des Deutschen Reiches gestrichen. So entstand Spielraum für neue Kriegsschulden. Auch dieser Akt sollte sich nach dem Willen des Reichsfinanzministers möglichst spurlos vollziehen. Seibels Erkenntnishorizont endet an den Veröffentlichungsverboten, die das NS-Regime verhängte. Jedenfalls verzichtete er bislang darauf, sich mit den einschlägigen, auch von den europäischen Nachkriegsregierungen lange tabuisierten Quellen näher zu befassen.

Warum fragt Marc Olivier Baruch, der in dem von Seibel mitherausgegebenen Band über die Arisierung in Frankreich schreibt, nicht, was mit den Geldwerten geschah, die der französische Staat aus dem systematischen Verkauf des Eigentums der Juden vereinnahmte? Die Einnahmen wurden - nach Abzug einer Verwaltungsgebühr von zehn Prozent - auf individuelle Konten der unter zwangsweise Vermögensverwaltung gestellten Juden einbezahlt. "His or her property was deposited", heißt es da abschließend. Das ist äußerlich richtig, faktisch jedoch falsch und verharmlosend.

Entscheidend bleibt, daß die Guthaben auf diesen Konten sofort in Schatzanweisungen (Bons d'état) verwandelt, also zu hundert Prozent beliehen wurden. Auf diese Weise flossen die Gelder, wie jede andere Zusatzeinnahme des französischen Staates, unmittelbar und vollständig in die exorbitanten Besatzungskostenzahlungen an die Deutschen. Dabei blieb es völlig gleichgültig, wo die Juden im Geltungsbereich des französischen Franc wohnten, ob sie in Algerien, in Vichy-Frankreich oder in der besetzten französischen Zone die Verfügungsgewalt über ihr Eigentum verloren. Die deutsche Kriegskasse und folglich die gesamte, um den entsprechenden Betrag finanziell entlastete deutsche Bevölkerung waren die Nutznießer des Geldertrags. Die beteiligten Franzosen, ebenso eine Reihe von Deutschen profitierten von der Arisierung im Wege der Korruption und von der in Kriegszeiten willkommenen Möglichkeit, ihr Geld in inflationsfeste Sachwerte zu verwandeln.

Die zahlreichen Organigramme in dem Buch von Feldman und Seibel veranschaulichen das Zusammenwirken einiger deutscher und französischer Arisierungsbeteiligter. Doch zeigen sich weder die Herausgeber noch die von ihnen versammelten Autoren in der Lage, die Rolle der Nationalbank, in diesem Fall der Banque de France, und des dort von der Reichsbank eingesetzten Kommissars zu erkennen. Genausowenig erörtern sie die im Zusammenhang mit der Enteignung der französischen Juden wichtigen Funktionen der Reichskreditkasse, der Treuverkehr Deutsche Treuhand AG und der vom Reichsfinanzministerium dirigierten Devisenschutzkommandos.

Deshalb bleiben ihre Texte und Graphiken in erheblichem Ausmaß unterkomplex und als Ausweis eines wissenschaftlichen Unternehmens, das auf die vielschichtigen Interdependenzen des Gesamtgeschehens abhebt, schlicht irreführend. Die Autoren des Sammelbands weichen auf den üblichen Topos des privaten Profitierens aus und auf die für die zentralstaatlichen Enteignungsziele nachrangige Frage, in welchem Ausmaß es deutschen Unternehmen gelungen sei, sich auf Kosten der Juden zu bereichern. Seibel sieht den Wald vor Bäumen nicht. Deshalb ist es ihm unmöglich, den letzten Adressaten der in liquides Geld verwandelten jüdischen Vermögen zu erkennen: Es war die Reichskreditkasse in Paris, die unter der Regie und mit dem Personal der Reichsbank arbeitete. Mit diesem Schlußakt wurden die Vermögenswerte dem außerordentlichen Kriegshaushalt des Deutschen Reiches gutgeschrieben.

Daß es genauso gewesen ist, offenbart bereits der Artikel 1 des französischen Arisierungsgesetzes vom 22. Juli 1941. Wie in den vorangegangenen deutschen Vorschriften heißt es dort, daß der Zwang zum Verkauf der Vermögenswerte nicht für Staatsanleihen und Schuldverschreibungen öffentlich-rechtlicher Gesellschaften gilt, die sich im Besitz der Juden befinden. Darin spiegelt sich - für jeden Kenner der Materie ersichtlich - der Zweck, die anderweitigen Eigentumstitel der Juden ebenfalls in Staatsanleihen umzuwandeln. Genauso verfuhr die deutsche Besatzungsverwaltung mit erheblichen Teilen des Feindvermögens in Frankreich. Aus demselben Grund verfügte sie für ältere, während der Besatzungszeit zur Rückzahlung fällige Anleihen des französischen Staates den Auszahlungsstopp an jüdische und feindliche Gläubiger.

Auf solche Weise entstand seit April 1938 und dann in allen von Deutschland beherrschten Staaten und Regionen Europas ein zusätzliches, finanzwirtschaftlich geleitetes Motiv für die Deportation der Juden, für das unwiderrufliche Verschwinden der Anleihegläubiger und ihrer möglichen Erben. Insoweit passen die Ergebnisse von "Hitlers Volksstaat" gut zu Seibels schon formulierter, an Hans Mommsen anknüpfender Einsicht: Das arbeitsteilige und polykratische Zusammenwirken verschiedener Interessen und Ämter hemmte die Radikalisierung der Judenverfolgung nicht, sondern beflügelte sie. Wie Wolfgang Seibel richtig feststellt, ermöglichten es "selektive Anreize", den Gesamtzusammenhang auszublenden und "moralische durch utilitaristische Erwägungen" zu verdrängen. Wobei die materiellen Vorteile nicht allein dem Verdrängen dienten, sie bildeten einen wichtigen Zweck des Mordes an den europäischen Juden.

Der Autor ist Gastprofessor für interdisziplinäre Holocaust-Geschichte am Fritz-Bauer-Institut der Universität Frankfurt am Main. Sein Buch "Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus" erschien im S. Fischer Verlag.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: Die nationalsozialistische Schreckensherrschaft als Amoklauf eines Sozialstaats - mit seinem jüngsten Buch macht Götz Aly wieder einmal Zeitgeschichte zeitgerecht. Der Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel hat Aly am 25. Juli an dieser Stelle elementare handwerkliche Fehler vorgehalten. Heute macht Aly die Gegenprobe.
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2005

Die sozialpolitisch bestochenen Volksgenossen
Wie konnte es geschehen? Heute erscheint Götz Alys Buch über „Hitlers Volksstaat” - eine neue Deutung des Dritten Reiches
„Hitlers Volksstaat”, das jüngste Buch Götz Alys, der zu den originellsten Erforschern des Dritten Reiches gehört, bilanziert bisherige Einsichten und eröffnet zugleich ein neues Forschungsfeld. Sein Fazit mutet auf den ersten Blick äußerst provokativ an: Das Programm des „nationalen Sozialismus” stellte weit mehr dar als eine leere Propagandaformel. Dahinter verbarg sich eine vom NS-Regime konsequent durchgehaltene Strategie der Machtsicherung und Machtausweitung. Sie beruhte darauf, sich der Botmäßigkeit der „kleinen Leute” durch soziale Konzessionen zu versichern. Mit der Verheißung eines „sozialen Volksstaats” und der Beseitigung der Klassenschranken schuf der Nationalsozialismus einen namentlich für die jüngere Generation äußerst attraktiven Mythos, der ihm deren Gefolgschaft eintrug. Es handelte sich, so Aly, um das „im zerstörerischen Sinn erfolgreichste Generationsprojekt des 20. Jahrhunderts”.
Den Ursprung des NS-Zukunftsentwurfs führt Aly auf das Trauma des 9. November 1918 zurück, das für die nationalsozialistische Führungsgruppe wie für viele andere Zeitgenossen prägend war. Die künftige deutsche Politik musste alles tun, um einen Zusammenbruch der „inneren Front” zu vermeiden, wie er am Ende des Ersten Weltkrieges eingetreten war. Hitler lernte diese historische Lektion. Er widersetzte sich jeder zusätzlichen Belastung der einfachen Bevölkerung, verurteilte die ungerechte und unzureichende Lebensmittelversorgung und wollte jede Form des Kriegsgewinnlertums, das er in erster Linie den Juden anlastete, unterbinden. In „Mein Kampf” heißt es, die Niederlage wäre vermieden worden, hätte man nur 12 000 dieser „hebräischen Volksverderber” unter Giftgas gehalten. Es galt künftig als unabänderliche Richtschnur der nationalsozialistischen Politik, die Fehler des Weltkrieges zu vermeiden.
Sozialistischer Aufbruch
Aly schildert diese Strategie am Beispiel von Lutz Graf Schwerin von Krosigk, dem eher konservativ eingestellten Reichsfinanzminister, und seinem Staatssekretär Fritz Reinhardt, einem „Mann des sozialistischen Aufbruchs” innerhalb der NSDAP, die für die NS-Finanz- und Steuerpolitik des Regimes bis zu dessen Untergang verantwortlich zeichneten. Dieses Tandem stellte den Prototyp für das „schließlich mörderische Gemisch aus politischem Voluntarismus und funktionaler Rationalität” dar, auf dem die relative Stabilität und Effizienz des NS-Regimes beruhte. Eine willige „routinierte Bürokratie”, ohne dass sie von der NS-Ideologie völlig durchdrungen war, sorgte für eine praktikable Umsetzung der improvisierten Parteiforderungen, die in der Regel unausgegoren und nicht widerspruchsfrei umsetzbar waren. Aly zeigt dies am Beispiel der Festlegung des Judenbegriffs von 1935 oder der 1938 durchgeführten Vermögensabgabe von Juden.
Aly macht deutlich, dass die sozialen Zielsetzungen des Nationalsozialismus keineswegs nur auf dem Papier standen, sondern weithin realisiert wurden, und belegt das mit der Einführung des tariflichen Urlaubs und des Kindergeldes, der Volkswagenrhetorik, der Ausdehnung des Mieter- und Vollstreckungsschutzes, vor allem aber mit der Verschonung der unteren Einkommensbezieher von Steuererhöhungen im Kriege. Er zeigt, dass nur die Spitzenverdiener von den Zuschlägen zur Einkommensteuer betroffen und kleinere Einkommensgruppen eher entlastet wurden, was auch die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit und für die Begrenzung der Verbrauchssteuern gilt. Mit der erhöhten Körperschaftsteuer, der Ablösung der Hauszinssteuer und anderen steuerpolitischen Maßnahmen wurden nur die gut verdienenden Bevölkerungsgruppen belastet, die Arbeitnehmer wurden von Kriegssteuern verschont, sehr im Unterschied zu den Verhältnissen in Großbritannien.
Mit diesen Beispielen belegt Aly die Herausbildung einer „Gefälligkeitsdiktatur”, die sich während des Krieges mit vielfältigen Vergünstigungen für die Unterschicht fortsetzte. Das entlockt ihm das Aperçu, die Grundlage des innenpolitischen Zusammenhalts in „Hitlers Volksstaat” habe in einer „kontinuierlichen sozialpolitischen Bestechung” bestanden. Er betont mit Recht, dass Hitler, anders als Winston Churchill, zu keinem Zeitpunkt eine „Blut- und Tränenrede” riskieren konnte.Für die, wie Aly es nennt, „populistische Stimmungspolitik” der NS-Führungsgruppe war charakteristisch, dass sich die Finanzexperten mit der wiederholt erhobenen Forderung, die Massenkaufkraft mittels Steuererhöhungen abzuschöpfen, ebenso wenig durchsetzen konnten wie bei der Zurückweisung von Rentenerhöhungen.
Vielmehr lehnte Hitler Steuererhöhungen während des Krieges grundsätzlich ab, und er bremste immer wieder die von Joseph Goebbels im Zeichen des totalen Krieges geforderten Einsparungen des zivilen Konsums. Stattdessen entwickelte er schon im Dezember 1941 das Programm einer dauernden Versklavung weiter Teile Europas zur Aufbringung der inzwischen auf ein Vielfaches der jährlichen Einnahmen des Reiches angestiegenen Schulden.
Vor diesem Hintergrund geht Aly der Frage nach, wie die Finanzierung des Krieges bewerkstelligt wurde, und stützt sich dabei auf die von der Forschung bisher weithin nicht benützten Akten des Reichsfinanzministeriums sowie paralleler Institutionen in den besetzten oder abhängigen Nachbarländern, sofern sie nicht nach dem Kriege vorsätzlich vernichtet wurden oder weiterhin gesperrt sind. Die Pionierarbeit, die er damit leistet, bedarf sicherlich der weiteren Differenzierung durch künftige Forschungen, erbringt aber wichtige grundsätzliche Ergebnisse, die diejenigen, die sich bislang dem Glauben hingegeben haben, dass es wenigstens im Bereich der Finanzpolitik im Dritten Reich so etwas wie Normalität gegeben hat, zur Revision ihrer Anschauung zwingen.
Aly, der sich teilweise auf bisherige Detailstudien stützen kann, macht unwiderleglich klar, dass die deutsche Finanzpolitik darauf hinauslief, die Kosten für die Aufrüstung und den Ausbau der Infrastruktur den Kriegsgegnern aufzubürden, seitdem sich Göring gegen Schacht durchgesetzt hatte, der die Politik der Mefo-Wechsel beenden wollte. Neben der lautlosen Verschuldung des Reiches durch den Zugriff auf Sparguthaben und Sozialversicherungsrücklagen trat die Methode direkter Plünderung. Sie betraf zuerst das Vermögen der deutschen Juden im Zuge der Arisierung.
Aly weist den direkten Zusammenhang zwischen der Enteignung der deutschen Juden nach der Reichskristallnacht und der extremen Kreditkrise des Reiches nach, die 1938 Befürchtungen eines Staatsbankrotts auslöste und Göring zu der Forderung veranlasste, dass der Erlös „einzig und allein dem Reich” zukommen müsste. Die „Sühneleistung der Juden” hing direkt mit dem Kassendefizit des Reiches zusammen und betrug, von den Finanzfachleuten steuerpolitisch umgesetzt, schließlich etwa neun Prozent der Reichseinnahmen.
Aly macht für diesen Teil der Arisierung in erster Linie die Beamten der Reichsfinanzverwaltung und der Großbanken verantwortlich, die als Gehilfen bei der Enteignung von Wertpapieren und Effekten aus jüdischem Eigentum fungierten. Was hier - gleichsam am „grünen Holze” - geschah, vollzog sich seit Beginn des Krieges mit der Ausbeutung der besetzten oder abhängigen Länder auf erweiterter Stufenleiter. Es war von vornherein klar, dass die Verschuldung des Reiches durch Leistungen der besetzten Länder kompensiert werden sollten, wobei Aly die Instrumente dazu eindringlich analysiert: die auferlegten Besatzungs- beziehungsweise Kriegskosten, die auf Kosten der betroffenen Länder extrem ungünstigen Währungsrelationen und die von deutscher Seite in aller Regel nicht ausgeglichenen Clearingvermögen. Dabei zeigt er, dass die Reichspolitik die im Haager Abkommen festgelegten völkerrechtlichen Grundsätze willentlich missachtete.
Konsequenter Massenraubmord
Hinzu treten, was Aly genüsslich darlegt, die Kosten, die den betroffenen Ländern entstanden, indem der Wehrsold und andere Entgelte, aber auch die Warenlieferungen aller Art nur in Landeswährung beglichen und mittels Reichskreditkassenscheinen den Besatzungskosten zugeschlagen wurden. Die Ausplünderung der besetzten Gebiete in Ost und West wurde von den Finanzexperten nachdrücklich gefördert, um den Zahlungsmittelüberschuss im Inland zu verringern und so die Inflation auf die von Deutschland besetzten oder von ihm abhängigen Länder abzuwälzen.
Die extreme Korruption, die daraus hervorging und ins Altreich zurückstrahlte, wurde von den Verantwortlichen bewusst hingenommen und sogar ausdrücklich gefördert, um die Stimmung der Bevölkerung zu verbessern. Das galt insbesondere für die von Wehrmachtsangehörigen ins Reich gebrachten Versorgungsgüter aller Art. Anschaulich schildert Aly das Vorgehen in den besetzten Ländern, das auf rücksichtslose Ausplünderung und damit auf „organisierten Großraub” hinauslief.
Neben die „normale” Ausraubung der Nachbarländer trat als zusätzliche Finanzierung der Kriegskosten die Beschlagnahme und Verwertung des jüdischen Vermögens - ganz nach dem Vorbild der Vorgänge vom Spätherbst 1938. Aly weist überzeugend nach, dass die entscheidende Antriebskraft dazu bei der Reichsfinanzpolitik lag, welche die durch die deutsche Ausraubungspolitik gefährdeten Währungen vorübergehend zu sanieren suchte und das beschlagnahmte Judenvermögen formell den betreffenden Regierungen übertragen ließ.
Aly schildert diese Methode indirekter Bereicherung eindrucksvoll am Beispiel Griechenlands, insbesondere dem Vermögen der Juden von Saloniki, der Deportation der Juden von Rhodos, den Vorgängen in Ungarn und anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Überall wurde die Implementierung des Holocausts in den Dienst der Aufbringung der Kriegskosten gestellt, und es bestand vielfach ein direkter Zusammenhang zwischen Deportation, Ermordung und Verwertung des Vermögens der betroffenen Juden.
Der Holocaust, folgert Aly, war „der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte”. Dieses sicherlich zugespitzte Urteil beruht auf der von ihm vielfältig belegten Beobachtung, dass finanzielle Interessen der Beteiligten, nicht zuletzt zur Sicherung der Versorgung der Wehrmachtseinheiten, eine zentrale Bedeutung für die Forcierung der Judenvernichtung gehabt haben. Ihre Träger waren keineswegs nur fanatisierte Elemente von NSDAP und SS, sondern nicht zuletzt die Besatzungsverwaltung und die Finanzbehörden, wie auch aus neueren Untersuchungen über die NS-Judenverfolgung hervorgeht. Aly schätzt, dass jüdisches Eigentum im Wert von 15 bis 20 Milliarden RM in die deutsche Kriegskasse geflossen ist.
Erkauftes Wohlwollen
Nachdrücklich betont Aly, dass die deutsche Bevölkerung privilegierter Nutznießer sowohl der Ausraubungspolitik im besetzten Europa als auch des Holocausts war. Der eindrucksvolle Überblick über die Verwertung jüdischen Hausrats und anderen Eigentums zugunsten der Volksgenossen belegt das ebenso wie eine Abschätzung der den Herkunftsländern aufgebürdeten Kosten der Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenbeschäftigung. Nicht die Unternehmen und andere private Arbeitgeber, sondern die öffentliche Hand war hauptsächlicher Nutznießer der Zwangsarbeit. Die von Aly als „betrügerisches Schneeballsystem” charakterisierte Finanzwirtschaft war alles andere als neutral. Sie trug so wie die generelle Politik dazu bei, durch ständige Dynamik und Expansion die übersteigerten Zielsetzungen fortzuführen und „im Tempo des Handelns” trügerische Stabilität zu schaffen, wobei der Krieg, wie Aly treffend bemerkt, „die einzige noch offene Richtung” für die Reichspolitik darstellte.
Man wird sich daher von der Vorstellung trennen, dass die NS-Politik bloß auf die verhängnisvollen Einflüsse fanatisierter völkischer Minderheiten zurückgeht, und deren Zusammenwirken mit der konservativ eingestellten Funktionselite entscheidendes Gewicht beimessen.
Für die Interpretation der Geschichte des Dritten Reiches setzt die Untersuchung von Götz Aly deutlich neue Akzente. Von der Weltkriegserfahrung wurde die Strategie abgeleitet, sich das Wohlwollen der Massen durch steuerliche und soziale Konzessionen zu erkaufen und die Kriegslasten zu größeren Teilen auf die unterworfenen Länder, auf Juden, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene abzuwälzen. Die vom NS-Regime entfesselte politische Dynamik verschaffte dem „Traum von Dritten Weg” immer neuen Auftrieb und unterband die Formierung von Gegenkräften. Das Syndrom, stets in der Abwehr säkularer Bedrohungen zu stehen, verknüpfte sich unauflöslich mit der Rassentheorie und erleichterte den einzigartigen Amoklauf eines Regimes, das sich der vorbehaltslosen Unterstützung durch die „Volksgenossen” nicht sicher sein konnte und diese auf Kosten des übrigen Europa privilegierte. Nicht so sehr langfristige ideologische Visionen als selbsterzeugte Zwänge führten zur Eskalation des Verbrechens, ohne bei der Funktionselite auf Widerstand zu stoßen.
HANS MOMMSEN
GÖTZ ALY: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 445 Seiten, 22,90 Euro.
Zufriedene Räuber: Deutsche Soldaten in Frankreich fahren mit Beute nach Hause, 1940.
Foto: Aus dem Buch. S. Fischer
Kriegsgewinne für das Volk: Deutscher Heimaturlauber, Dezember 1941.
Foto: Aus dem Buch. Bundesarchiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Keinen Zweifel lässt der in Cambridge lehrende Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze daran, dass er Götz Aly für einen faszinierenden Außenseiter der deutschen Geschichtswissenschaft hält, der bisher eindrucksvolle Arbeit geleistet hat. Seine Kritik an diesem neuen Buch fällt deswegen aber nicht weniger scharf aus. Im Grunde sei, das formuliert Tooze ganz unumwunden, die zentrale These, dass sich das Hitler-Regime die Zustimmung durch sozialstaatliche Bequemlichkeiten für die Bürger erkauft habe, einfach falsch. Die Rechnungen, die Aly zu den Enteignungen jüdischen Besitzes, zur Ausbeutung eroberter Länder aufmache, stimmten nicht, deshalb erwiesen sich die "provozierenden" Behauptungen bei genauerem Hinsehen als "vollkommen haltlos". So zeige der Vergleich mit Großbritannien, dass in Deutschland mehr Steuern gezahlt wurden als dort - und die "Sparkasseneinlagen", die von der Inflation "ausgelöscht" wurden, beziehe Aly in seine Bilanz erst gar nicht mit ein. Sehr wohl, so ein weiterer Kritikpunkt, wären die wahren Verhältnisse der zum Thema erschienenen Literatur zu entnehmen gewesen. Die aber werde von Aly "weitgehend ignoriert".

© Perlentaucher Medien GmbH