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Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die wichtigste russische Dichterin der Moderne, lässt sich in Lichtregen, dem zweiten Band der auf vier Bände angelegten Werkausgabe, nicht nur als radikale Sprachkünstlerin, sondern auch als scharfsinnige und leidenschaftliche Essayistin erfahren:
Die erste Abteilung, »Erinnerungen an Zeitgenossen«, versammelt Porträts verstorbener Dichterkollegen und Freunde, darunter Ikonen des Silbernen Zeitalters wie Walerij Brjussow und Konstantin Balmont, aber auch Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke und die avantgardistische Malerin Natalja…mehr

Produktbeschreibung
Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die wichtigste russische Dichterin der Moderne, lässt sich in Lichtregen, dem zweiten Band der auf vier Bände angelegten Werkausgabe, nicht nur als radikale Sprachkünstlerin, sondern auch als scharfsinnige und leidenschaftliche Essayistin erfahren:

Die erste Abteilung, »Erinnerungen an Zeitgenossen«, versammelt Porträts verstorbener Dichterkollegen und Freunde, darunter Ikonen des Silbernen Zeitalters wie Walerij Brjussow und Konstantin Balmont, aber auch Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke und die avantgardistische Malerin Natalja Gontscharowa. Zwetajewa durchstreift Korrespondenzen und Gedichte, erzählerische Passagen und luzide Beobachtungen folgen auf prägnant protokollierte Gespräche. Dem Skandalon des Todes setzt sie - empfindsam, frei, schöpferisch - »Lebendes über Lebende« entgegen.

Die zweite Abteilung, »Essays«, bündelt eine Auswahl von Zwetajewas poetologischen Texten, denen sie sich in den Jahren von 1928 bis 1938 zuwandte. Darin schreibt sie über die Rolle des Kritikers oder die Übersetzung von Goethes »Erlkönig« ins Russische, sondiert das Terrain poetischer Schöpfung und - in »Mein weiblicher Bruder«, einem Text, den sie auf Französisch verfasste - jenes der gleichgeschlechtlichen Liebe.

Ihre Erinnerungen an Zeitgenossen und Essays waren für Zwetajewa zugleich auch immer »Anlass zu sich selbst«. Lichtregen erlaubt die Auseinandersetzung mit einer weiteren Facette des Werkes von Marina Zwetajewa, das von radikaler Hingabe und Ausgesetztheit zeugt.
Autorenporträt
Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, ging 1922 in die Emigration, lebte in Berlin, Paris und Prag und kehrte 1939 in die Sowjetunion zurück. 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Hanns Zischler ist tief bewegt von den Essays, Briefen und Erinnerungen Marina Zwetajewas, die hier versammelt sind. Das Feuer, mit dem sie sich anderen näherte, die kindliche Begeisterung ebenso wie die "atemberaubende Dichte" und Musikalität ihrer Korrespondenzen lassen vor ihm längst vergessene Dichter wiederauferstehen. Dazu passt ihr Gefühl für den "Zauber" einer Gestalt, die historisch verabscheuungswürdig sein mag, als Märchenfigur jedoch unwiderstehlich. Da ist sie Puschkin sehr ähnlich, meint Zischler. Das ausführliche Nachwort Ilma Rakusas hilft bei der Einordnung der Geschehnisse, lobt er. Und auch die Übersetzungen würden der "Polyfonie dieser Autorin" gerecht. Unbedingt eine Empfehlung.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2020

Ihre Punktum-Sätze dulden keinen Widerspruch
Unter den Füßen Sand und Späne: Marina Zwetajewas "Lichtregen" stellt die autobiographische Prosa der Dichterin vor

"Wir gehen auf keine Reisen - duundich." Diese Zeile, von der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Elke Erb ins Deutsche übertragen, leitete einst die Bekanntschaft mit der Dichterin Zwetajewa ein. Mehr noch, sie schärfte Auge, Ohr und Verstand. Ein winziger Verzicht auf biedere Getrenntschreibung - und schon rückte Erb der lautlich verschmolzenen Aussprache des russischen "ty da ja" auf die Pelle.

Der Bewunderung gesellte sich rasch der Wille zu selbiger hinzu, sicher auch angestachelt durch den Generalverdacht: Die Lyrikerin ist doch nur verkannt und unterschätzt, weil Frau. Der Lilith Verlag hatte 1984 die "Erzählung von Sonecka" herausgebracht, in der Übersetzung von Margarete Schubert. Erworben und gelesen, das war eins. Nur blieb der Eindruck blass.

Warum? Da schrieb eine Frau aus eigener bisexueller Erfahrung heraus und fand einige bezwingende Bilder. Warum haftet dem Text dann etwas so verschwurbelt Schales an? Weitere Erzählungen und Gedichte schürten die Ratlosigkeit. Abhilfe sollte ein genauerer Blick in die Biographie schaffen.

Von wegen "keine Reisen"! Zwetajewa hat ihr halbes Leben im Ausland verbracht, freilich teils durchs Exil bedingt. Sie wurde 1892 geboren, als Tochter eines Selfmade-Akademikers und einer Pianistin: Ihr Vater, noch aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, hatte sich zum Kunstprofessor hochgearbeitet und das Puschkin-Museum gegründet, ihre Mutter entstammte dem deutsch-polnischen Adel. Beste Voraussetzungen für das junge Talent. Zwetajewa sprach fließend Russisch, Französisch und Deutsch, später sollte sie aus weiteren Sprachen übersetzen. Selbst wer sie ablehnt, bescheinigt ihrer Lyrik Musikalität. Bereits 1910 veröffentlicht sie ihren ersten Gedichtband ("Abendalbum"), 1912 heiratet sie Sergej Efron, der im Bürgerkrieg als Offizier für die Weiße Armee kämpft und anschließend nach Prag flieht. Zwetajewa geht erst nach Berlin, später nach Prag, von dort aus siedelt sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Paris über, sehnt sich aber stets nach Russland. "Dort würde man mich nicht drucken - aber lesen, hier werde ich gedruckt - aber nicht gelesen." Sergej wechselt irgendwann die Seiten und arbeitet für den sowjetischen Geheimdienst, 1939 kehrt er nach Russland zurück. Erst folgt ihm die Tochter Ariadna, überzeugte Kommunistin, dann Marina mit dem Sohn Georgi, genannt Murr. Zwetajewa wählt 1941 den Freitod, Ariadna wird ins Lager gesteckt, Sergej erschossen, Murr fällt im Zweiten Weltkrieg.

Wie könnte das tragische Familienschicksal den Bewunderungswillen nicht neu wecken? Der Griff nach dem zweiten der auf vier Bände angelegten Gesamtausgabe bei Suhrkamp ist beherzt. Er versammelt Porträts zu den Schriftstellern Waleri Brjussow, Ossip Mandelstam, Maximilian Woloschin, Andrej Bely, Konstantin Balmont, Michail Kusmin, Boris Pasternak, Rilke und Alexander Puschkin, zur Malerin Natalja Gontscharowa sowie literaturtheoretische Schriften. Noch von der Biographie inspiriert, fällt die Wahl für den ersten Text auf Gontscharowa.

Die beiden Frauen lernen sich in Paris persönlich kennen, daher ist zunächst das Atelier dran. "Der Fußboden. Wenn Weite und Licht den Eindruck von Öde schufen, so ist der Boden - völlige Öde, die Öde selbst. Ganz abgesehen schon von seiner Gegenstandslosigkeit (nichts, außer einem wesenhaften Nichts) - die physische Empfindung von Sand, von Spänen unter den Füßen." Warum "pustynja" hier nicht mit "Wüste", sondern mit "Öde" wiedergegeben wird, sei dahingestellt. "Ich kenne auch singenden Sand, unter den Füßen pfeifend wie zerreißende Seide, Sand von anderen Gestaden des Ozeans, doch - Stille - das ist nicht Abwesenheit von Lauten, vielmehr Abwesenheit überflüssiger Laute, Anwesenheit wesenhafter Geräusche - das Rauschen des Blutes in den Ohren (das Mücken-s-s-s), des Windes im Laub, in diesem Moment, da ich an der Schwelle der Werkstatt stehe, das Rauschen von wirbelndem Wasser in der Dampfheizung - dem mächtigen Ofen, der wärmenden Sonne dieser Öde", in der sie sogleich "eine ganze Reihe von Oasen, kleinen farbigen Inselchen, Kleinmeeren, Kleinseen, Meere für Kleine, Schüsselchenmeere" entdeckt.

Derart assoziativ geht es weiter, doch Zwetajewas Gedankenfluss mäandert stets zielsicher zu ihr. Konnte Patrick Süßkind mit seinem "Parfüm" noch olfaktorische Reize liefern, dass die Nasenflügel eine ganze Weile gebläht blieben, rührt sich hier trotz hundert Seiten nicht der Wunsch, ein Bild Gontscharowas zu betrachten. Das ist kein Einzelfall. Zwetajewa verführt nie zur Lektüre der von ihr gepriesenen Autoren, geschweige denn des von ihr geschmähten Brjussow.

Ilma Rakusa spricht in ihrem Nachwort von der "aphoristischen Kompaktheit und apodiktischen Klarheit" Zwetajewas und findet diese bestechend, zitierfähig gar. Doch wird nicht andersrum ein Schuh daraus? Apodiktische Klarheit - das sind Punktum-Sätze, die keinen Widerspruch dulden. Das ist keine Einladung zum Dialog, sondern deren Gegenteil. Das ist Ausladung.

Ein ganzes Potpourri antiintellektueller, mystifizierender Aussagen illustriert das. Brjussow "fehlte die Grundlage, um Dichter zu werden (nämlich: als solcher geboren zu sein)", über Rilke möchte sie nicht "reden, dadurch schließe ich ihn aus und entfremde ihn, mache ihn zu etwas Drittem, zu einem Ding, über das man spricht, außerhalb meiner selbst", ein Buch über ihn wäre zwar denkbar, allerdings ein "Buch des Seins, seines Seins jedoch, des - in ihm - Seins", und auch das erst, wenn sie ihm "zugewachsen" ist. Um es klarzustellen: Hier liegt keine schlechte Übersetzung vor. Als Kulmination vielleicht das Bekenntnis: "Der Text schreibt, mit meiner Hilfe, sich selbst."

Das streitbare Naturell Zwetajewas hat gewiss sympathische Aspekte. Ihre Kompromisslosigkeit, gelegentlich sogar ihre Punktum-Attitüde. Gegen die gängige Meinung verteidigt sie in den Pariser Emigrantenkreisen die Lyrik Majakowskis und wettert gegen die "Vernichtung der Kunst", die Tolstoi von hoher moralischer Warte aus fordert, obwohl - oder gerade weil - sie ihn als Künstler schätzt. Kunst darf für sie nicht zur Erfüllungsgehilfin der Politik werden.

Ein Essay bietet sicher Freiheiten, doch bereits im Nachwort fällt die strikte Unterscheidung zu den Erinnerungen weg, weil sie stilistisch nicht nachvollziehbar ist. Zwetajewa gelingen zwar einige recht gute Passagen, so in "Ein Abend nicht von dieser Welt" über eine Dichterlesung 1916 in St. Petersburg, wo sie im melancholischen Rückblick festhält: "Aus einer Welt, in der manch einer meine Gedichte brauchte wie Brot, kam ich in eine Welt, in der keiner Gedichte braucht, weder meine noch andere, oder höchstens als Dessert, wenn einer denn ein Dessert wirklich - braucht." Am Ende monologisiert sie sich jedoch zu einer gleichsam zugeschlagenen Tür. Das war's für den Dialog, wie ihn sich Montaigne für den Essay wünschte. Rakusa räumt ein, Zwetajewa gehe es nicht um Fakten, sondern "um eine Erfindung der Wahrheit - zwecks poetischer Wahrhaftigkeit", der Lyriker Wladislaw Chodassewitsch bescheinigt ihr eine renitente Abscheu vor Überarbeitung, sie selbst kokettiert nach dreißig Seiten über Pasternak: "Ich schließe. Verzweifelt. Denn ich habe nichts gesagt. Nichts - gar nichts -, weil vor mir das Leben steht, und ich finde keine Worte dafür."

Es bleibt die Bewunderung für einige Gedichte Zwetajewas. Doch es hilft nichts: Der Wille, das Gesamtwerk zu schätzen, fehlt. Und die Biographie ist keine Kronzeugin für Literatur, weder für ihre guten noch für ihre schlechten Werke.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Marina Zwetajewa: "Lichtregen". Essays und Erinnerungen. Gesammelte Werke, Bd. 2. Aus dem Russischen von Nicola Denis, Elke Erb u. a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 928 S., geb., 44,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2021

Spricht da Gott?
Die Essays der russischen Dichterin Marina Zwetajewa über poetische Freundschaften, Mäzene, Magnaten: Auch eine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts
Die Leidenschaft ist von ihr geblieben, sie war als Mensch und Dichterin leidenschaftlich. Und genau das macht sie auch lange nach ihrem Tod noch zu einem Mythos. Marina Zwetajewa stand für absolute Hingabe, und ihre Gedichte bewegten sich in einer Tradition, die in dieser pathetischen Form nur in Russland existierte. Ihr Klang, der Sog, dieses Ineinanderverwobensein von Binnen- und von Endreimen ist nur sehr schwer ins Deutsche zu übertragen. Ein dickleibiger Band mit ihren Essays und Erinnerungen, der jetzt als zweiter Teil ihrer Gesammelten Werke auf Deutsch erscheint, eignet sich hervorragend dazu, den Hintergrund ihres sehr besonderen Schreibens zu erhellen.
Zwetajewas Laufbahn begann vielversprechend. Ihren ersten Gedichtband veröffentlichte sie 1910 als 18-Jährige, dann kam ihr die Oktoberrevolution dazwischen. Sie lebte lange in Paris, wo sie sich mühsam als Schriftstellerin über Wasser zu halten versuchte – die meisten der hier versammelten Texte sind Zeugnisse davon –, und die verzweifelte Rückkehr in die Sowjetunion 1939 erwies sich als fatal. 1941 wurde sie nach Jelabuga in Tatarstan evakuiert und brachte sich dort um.
Zwetajewa sprach mehrere Sprachen, sie wuchs auch mit Französisch und Deutsch auf und entwickelte in den Zwanzigerjahren zum Beispiel ein äußerst affektives Briefverhältnis zu Rainer Maria Rilke. Doch vor allem lebte sie auch im Exil weiter im Russischen und erinnerte sich in ihren großen poetischen Jahren zwischen 1911 und 1922, als sie die Sowjetunion verließ, immer lebhafter an die Zeitgenossen. Am deutlichsten zeigt sich das in ihrem Porträt des längst vergessenen Literaturbetriebsmagnaten Walerij Brjussow. Den Typus des reinen Literaturfunktionärs gab es damals noch nicht, da waren es hauptsächlich mittelmäßige Schriftsteller, die sich auf das Organisieren verlegten und wichtigtuerisch Gremien und Jurys in Beschlag nahmen.
Zwetajewa zeigt den Charakter Brjussows mit einem besonderen stilistischen Zangengriff. Anrufungen einer großen, alle Beschränkungen hinter sich lassenden Dichtung stehen neben satirisch zugespitzten Beobachtungen. Ihre Schilderung eines von Brjussow ausgerichteten „Abends der Dichterinnen“, bei dem sie ebenfalls dabei war, ist sehr pointiert, und es läuft als ein bezeichnender Nebeneffekt mit, wie sie dabei auftritt, mit ihren grauen Filzstiefeln und ihrem „grünen, talarartigen Etwas“, das mit einem „Fahnenjunkergürtel aus der 1. Peterhofer Offizierschule“ gegürtet war.
Und sie läuft zur Hochform auf, wenn sie Brjussows symbolistische Lyrik aufs Korn nimmt. Zeilen wie „Voran, mein Traum, du treuer Ochse“ führen sie dazu, die Bodenhaftung des Dichters zu entlarven, die „Ochsentour“ seines dichterischen Wollens bloßzustellen und seine sofortige Hinwendung zum Bolschewismus zu erklären.
In ihren Porträts geht es außerdem um den exzentrischen Andrej Belij, den Dandy Michail Kusmin mit seinen „glasgroßen Augen“ und in einem expressiv stilisierten Vergleich um Boris Pasternak und Wladimir Majakowskij. Als sie 1932 vom Tod ihres großen Förderers Maximilian Woloschin erfährt, entfaltet sie in ihrem Erinnerungstext „Lebendes über einen Lebenden“ ein ganzes poetisches Programm. Sie preist die „Freundschaftsfähigkeit“ und das Absolute – Woloschin hatte sie als junge Dichterin 1911 zum ersten Mal in sein Haus in Koktebel auf der Insel Krim eingeladen, das für Zwetajewa zum Elysium werden sollte. Dort traf sie 1915 auch Ossip Mandelstam, der in Deutschland erst sehr viel später durch Paul Celan und Ralph Dutli berühmt wurde.
Eines der beiden Prosastücke, die sich um Mandelstam drehen, wirkt zunächst wie eine merkwürdige, poetisch hingeworfene Etüde, wie um sich einzelne Szenen fragmentarisch in Erinnerung zu rufen. Der Besuch Mandelstams bei Zwetajewa auf deren Familienstammsitz im binnenrussischen Alexandrow erscheint kindlich entrückt und sprunghaft, wie eine groteske Imagination, und erst spät wird deutlich: Sie wehrt sich gegen einen Feuilletonisten, der in einer Lebensbeschreibung Mandelstams nicht durchschaut hat, dass einige der Liebesgedichte Mandelstams eindeutig auf Zwetajewa bezogen sind.
Ganz anders ist ein polemischer Entwurf, den sie 1925 impulsiv nach der Lektüre von Mandelstams Prosabuch „Im Rauschen der Zeit“ verfasst. Hier wirft sie ihm vor, sich an die Bolschewiki anzubiedern, weil er sich nicht eindeutig zu ihrer Partei, den „Weißen“, bekennt.
Zwetajewa kann sprunghaft und unberechenbar sein, einzelgängerisch und voller Widersprüche, rebellisch und unwiderstehlich. Sie beschwört den „Zauber“ der Dichtung, denn der Zauber sei „älter als die Erfahrung“. Und genauso sei das „Märchen älter als die Geschichte“.
Dass sie sich so vehement gegen zeitübliche Forderungen an die Literatur wehrt, liegt vermutlich an der Art, wie sie an ihre Daseinsform herangeführt wurde. Einmal formuliert sie apodiktisch, wie als Beweis: „Eine Dreijährige, die zum ersten Mal einen leibhaftigen Dichter hört, fragt die Mutter: ‚Spricht da Gott?‘“ Alle selbstgewissen Theoretiker sind ihr ein Dorn im Auge, vor allem die pragmatisch-geltungssüchtigen Funktionäre im Exil wie in Russland selbst.
Angesichts häufiger Funktionszuweisungen an die Literatur und deren Lesarten mutet es fast aktuell an, wenn sie eine Abrechnung mit moralischen Kriterien vornimmt, wie sie seit Tolstoi oft an die Literatur angelegt werden. Ihre Vorstellungen kreisen dagegen um „Getriebenheit“, um die Gesetze der Sprache und des Stoffs, und sie schreibt: „Das Einzige, was die Kunst tun könnte, um garantiert gut zu sein, wäre: nicht zu sein.“
Das Ungestüme an Zwetajewa, das in ihrem Leben zu Affären, mitunter auch mit Frauen, etlichen Verwerfungen und hochgestimmten lyrischen Strophen führte, zeigt sich in diesen oft direkt an den eigenen Erlebnissen entlanggeschriebenen Dichterporträts unmittelbar. Und sie legen nahe, dass Zwetajewa konsequent nach einer Devise lebte, die sie einmal als Argument gegen alle Opportunisten anführt: „Für einen Russen ist, wer zu Lebzeiten nach Ruhm strebt, entweder verächtlich oder lächerlich.“
HELMUT BÖTTIGER
Zu großer Form läuft sie auf,
wenn sie die Lyrik des
Funktionärs aufs Korn nimmt
Marina Zwetajewa:
Lichtregen. Essays und Erinnerungen (Gesammelte Werke Band 2). Hg. von Ilma Rakusa. Suhrkamp Verlag Berlin 2020,
902 Seiten, 44 Euro.
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»Im Abstand von mittlerweile hundert Jahren sollten wir dieses Buch aus der Hand einer unerschrockenen und begeisterten Fremdenführerin als Gabe für die Unverzichtbarkeit der Dichtung entgegennehmen.« Hans Zischler DIE ZEIT 20210318