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»Geliehene Landschaft« heißt ein traditionelles Stilelement in der ostasiatischen Gartenkunst. Eine Szenerie außerhalb der Gartenanlage, oft ein Berg oder ein imposantes Gebäude, wird bewusst in die Gestaltung mit einbezogen. Ein kleiner Raum öffnet sich so ins Weite und steigert seine Pracht. Nicht anders verfahren Gedichte.Ein Garten wird immer als paradiesisches Gefilde angelegt. Jeder Stadtpark kann als Jenseitslandschaft gelesen, jede öffentliche Grünfläche auf ihr utopisches Potential hin untersucht werden. Marion Poschmann leiht sich einen Lunapark in den USA oder ein Stück der…mehr

Produktbeschreibung
»Geliehene Landschaft« heißt ein traditionelles Stilelement in der ostasiatischen Gartenkunst. Eine Szenerie außerhalb der Gartenanlage, oft ein Berg oder ein imposantes Gebäude, wird bewusst in die Gestaltung mit einbezogen. Ein kleiner Raum öffnet sich so ins Weite und steigert seine Pracht. Nicht anders verfahren Gedichte.Ein Garten wird immer als paradiesisches Gefilde angelegt. Jeder Stadtpark kann als Jenseitslandschaft gelesen, jede öffentliche Grünfläche auf ihr utopisches Potential hin untersucht werden. Marion Poschmann leiht sich einen Lunapark in den USA oder ein Stück der finnischen Taiga und geht den spirituellen Sehnsüchten und politischen Implikationen nach, die in diesen Landschaften zum Ausdruck kommen. Ihre Gedichte reflektieren - teils in der Adaption klassischer Formen wie dem Lehrgedicht oder dem japanischen N -Spiel -, wie jede Landschaft als ästhetisches Konstrukt auftritt, und sie feiern die schöpferische Kraft der Sprache und der Natur.
Autorenporträt
Marion Poschmann wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband Nimbus und im selben Jahr mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Michael Braun ist nicht durchweg überzeugt von Marion Poschmanns neuen Gedichten. Der Versuch, essayistische Betrachtung und poetische Erkenntnis in einem Gang durch europäische, amerikanische und ostasiatische Gärten zusammenzuführen, scheint ihm ein heikles Unterfangen. Kulturelles Wissen und Bildkraft verbinden sich nicht immer zur Zufriedenheit des Rezensenten und produzieren ästhetischen Überschuss. Am besten noch gefallen ihm die Gedichte, wenn das lehrende Element fehlt und die Autorin sich der Dynamik der Bilder und Assoziationen überlässt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2016

Wir sollen ein Volk von Parkbesuchern werden

Gottes Gartenberaterin: Marion Poschmann reist in ihrem Gedichtband "Geliehene Landschaften" von Helsinki über Berlin bis nach Kyoto.

Sechsunddreißig Mal und hundert Mal / hat der Maler jenen Berg geschrieben": In zwei Serien von Holzschnitten versammelte Hokusai Ansichten des Fuji, der im Titel von Rilkes Gedicht nur als "Der Berg" erscheint. Marion Poschmann bringt es in ihrer vierten Gedichtsammlung "Geliehene Landschaften" immerhin auf drei Versuche. Das Buch gliedert sich in neun Zyklen von neun Gedichten. Fast jeder Abschnitt hat einen Park zum Thema, einen Landschaftsgarten im mehr oder weniger wörtlichen Sinne, vom Sibeliuspark in Helsinki über einen "Literatengarten in Shanghai" bis zu einem Kindergarten in Berlin-Lichtenberg. Dem Vergnügungspark der Mondgöttin auf Coney Island, wo der Tag zur Nacht gemacht wird, korrespondiert auf der anderen Seite der Erdkugel, in Japan, ein "Park des verlorenen Mondscheins" in Matsushima, der Bucht der 260 mit Kiefern bewachsenen Inseln.

Den Parks der Stadt Kyoto widmet Marion Poschmann eine Sequenz von Prosaminiaturen. Der Blocksatz hat einen piktographischen Sinn: Die Außengrenze wird auf Kosten der Binnendifferenzen betont. Das Geviert weist eine Leerstelle im Stadtbild aus, ein unbebautes Planquadrat, da die öffentliche Grünanlage in diesem Abschnitt in ihrer Funktion als Zufluchtsstätte bei Erdbebengefahr in den Blick kommt. Unter der Überschrift "Seismographie" wird eine Erschütterung der Erdkruste verzeichnet, die freilich eine glückliche Wendung nimmt. Steine verhalten sich wie Wolken. "Unruhige Felsformationen rücken noch kurz hin und her, dann ist alles bereit." Wofür? Für einen Ausbruch von Kreativität: "Du schreibst ein Gedicht ,Beim Anblick des Fuji'."

Ein Gedicht mit diesem Titel steht im abschließenden Zyklus, der so heißt wie das Buch. Die erste Hälfte der ersten von sechs Strophen lautet: "Ich sah seine Vorderseite und sah / seine Rückseite zur gleichen Zeit." Wie war das möglich? Das Erlebnis des doppelten Sehens, unterstrichen durch das wiederholte "sah", suspendiert eine Grundbedingung der Landschaftswahrnehmung, die das allererste Gedicht des Bandes in Gestalt einer Apostrophe aufstellt, einer Anrufung der Landschaft. "Landschaft, o Sprachpanorama / des Logos creator. Landschaft, halbierte, in Vorder- und Rückseite." Die Anapher täuscht: Der zweite Satz ist keine Paraphrase des ersten. Die scheinbare Verdoppelung des Gesagten vollzieht die Halbierung, von der die Rede ist. Jedes Panorama ist einseitig - jedenfalls für den menschlichen Betrachter, in dessen Perspektive die Abfolge der beiden Sätze den Standpunkt Gottes übersetzt.

Die ersten neun Gedichte des Bandes stehen unter der Überschrift "Bernsteinpark Kaliningrad". Einen Park dieses Namens wird man auf dem Stadtplan nicht finden. Die Dichterin schiebt verschiedene Gartenanlagen ineinander, um die ganze Stadt zu einem Park zu stilisieren. Einem aus Bernstein: Eingeschlossen in die Stadtlandschaft von Kaliningrad ist die Stadtgestalt von Königsberg. Das Bild vom Park passt auch zum exterritorialen Status des Kaliningrader Gebiets. Dorthin führte Marion Poschmann im Frühjahr 2013 ein ungewöhnliches Reisestipendium. Durch vier Wochen ostpreußische Autopsie bereitete sie sich gemeinsam mit ihren Kollegen Jörg Albrecht und Hendrik Jackson auf ein westfälisches Literaturfestival vor: In Münster wollte man über Johann Georg Hamann sprechen, den 1730 in Königsberg geborenen und 1788 in Münster verstorbenen Freund und Widersacher Kants.

Mit der Formel vom Logos creator nimmt Marion Poschmann eine kühne Pointe Hamanns auf: Wenn man den Anfang des Johannesevangeliums beim Wort nimmt, dann ist "der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller". Und Kritiker: Nach getaner Arbeit sah er alles an und sah, dass es gut war. Die Schöpfung, ein Text, ein Sprachpanorama mit dem Paradies in der Mitte. Das zweite und das neunte Gedicht des Kaliningrad-Zyklus zitieren die Stelle aus der "Aesthetica in nuce", an der Hamann die sprachphilosophischen Konsequenzen seiner Schöpfungslehre ausbuchstabiert. "Rede, dass ich dich sehe!" Dieses Wort aus den Gesprächen des Sokrates richtet Hamann an die Dingwelt. Hinter dem sokratischen Gesellschaftsspiel, dessen Teilnehmer so lange verborgen sind, wie sie nicht den Mund aufmachen, reißt Hamann einen metaphysischen Abgrund auf: Kann es sein, dass die Dinge unsichtbar sind, wenn sie nicht zur Sprache kommen?

Die Dichterin spricht zunächst die "Tonnen von Knochen" an, die sie "unter dem Rasen begraben" wähnt und also tatsächlich nicht sehen kann. Dann bittet sie den Park selbst um Auskunft über die Sehenswürdigkeiten, die ihr vor Augen liegen, das Nebeneinander von Fahrgeschäften und Weltkriegsdenkmälern: "Rede, Park, rede nur, daß ich dich sehe. / Besprich die Relikte, Reliquien". Besprechen heißt hier zunächst erörtern: Von wem könnte die Besucherin eine kundigere Führung erwarten? Es schwingt aber eine magische Nebenbedeutung mit, etwas wie Beschwören und Verhexen. Ein Zeitgenosse nannte Hamann den Magus des Nordens.

Im dritten Gedicht übernimmt die Dichterin selbst die Aufgabe des Besprechens; sie stellt sich als "Gottes Gartenberater" vor. "Lodernde Perlonschals" anderer Besucherinnen assoziiert sie mit "Flamme und Schwert", der Bewaffnung des Erzengels Michael, der die Ausweisung der ersten Menschen aus dem Paradies exekutierte. Hamanns Dichtungstheorie wollte die Sprache Adams wiedergewinnen. Gartenberatung ist Verdinglichung, die Dichterin nimmt dem Park, den sie im vorigen Gedicht noch angeredet hat, das Wort aus dem Mund, das Wort, das er ist. "Park ist der Leib des Gedankens", ein Urwort, erstes Zeugnis der Verkörperung der Ideen: Sprache als Inkarnation.

Die letzte Strophe des neunten Gedichts stellt eine Frage, die Marion Poschmanns Leser auf ihr Werk beziehen werden: "Ist dies jene Kunst, die zugleich auch Natur zu sein scheint?" Zum Bild der Poesie macht den Kaliningrader Park der prosaische Umstand, dass die Wege aus ihm heraus verbaut sind durch Villen von Privatleuten, "Mauern der Reichen". Die letzten drei Verse aus Hamanns Stadt: "Jeder Park voll Vertriebener, Heimweh nach Eden. / Die Leere und ihre Vergehen. So rede, Leere, ich sehe / dich nicht." Die Dichterin macht zum Schluss die Probe, ob Hamanns Zauberspruch auch auf das Nichts wirkt, das Gegenteil der Welt.

Den sokratischen Imperativ nennt Hamann einen "Wunsch". Er "wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht tuts kund der andern". Solche Rede ist Marion Poschmanns Dichtung, die es auf die Belebung der Dinge abgesehen hat, und zwar gerade der schäbigen und deplazierten, der renaturierten Versatzstücke unserer totalen Kulturlandschaft, an denen das unbelehrte Auge kein Vergnügen findet. Die über den Globus verstreuten Schauplätze der Lehrgedichte und Elegien, die der Untertitel der Sammlung ankündigt, illustrieren Hamanns Vision der Selbstkultivierung der Schöpfung: "Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende" - wie ein Lauffeuer verbreitet sich das redselige Leben.

Im Reden, im fortlaufenden Übersetzen von "Gedanken in Worte, Sachen in Namen, Bildern in Zeichen", kommt es laut Hamann allerdings zu einem Verlust: Es gleicht "der verkehrten Seite von Tapeten". Die Übersetzung von Poesie in Prosa liefert der Verlustanzeige das Muster. Einem englischen Lehrgedicht über dieses Thema entnimmt Hamann das Bild und die Erklärung: Die Rückseite einer gewirkten Wandbespannung "shews the stuff, but not the workman's skill", zeigt die vernähten Fäden, aber nicht die Kunstfertigkeit des Handwerkers. Eine Landschaftspoesie, die Vorderseite und Rückseite ihrer Sujets gleichzeitig sichtbar macht, hebt die Halbierung unserer Weltanschauung auf, indem sie sowohl den in der Natur vorgefundenen Stoff als auch ihre eigene Machart beschreibt. So weit die im Faltengebirge von Marion Poschmanns Buch enthaltene Theorie. Aber wie soll der Dichterin das Kunststück beim Anblick des Fuji geglückt sein?

Die Notiz im Kyoto-Kapitel skizziert einen Spaziergang: "Du siehst den Vulkan, seinen Kegel, der raucht. Du bewegst dich gegenläufig zum Schwung dieses Kraters, du möchtest dich gegenläufig zu allem bewegen, was kommt." Auch in der Gegenrichtung zum Geläufigen tut sich freilich keine Hintertür ins Ganze auf. Wenn der Wanderer auf der Rückseite des Berges angekommen ist, hat sie sich für ihn in die Vorderseite verwandelt, und die nunmehrige Rückseite ist unsichtbar geworden.

Der Fuji des Gedichts im letzten Zyklus "trug lange Handschuhe aus eleganter / Bewölkung". Auch Rilke deutet eine Bekleidungsmetapher an: Vor Hokusais Augen stand der Berg als "der mit Umriß angetane". Marion Poschmann versetzt die Kontur in Bewegung: Aus dem Nebel schält sich die Figur eines Schauspielers, eines Kabuki-Darstellers der legendären Bando-Dynastie. Es bleibt ungewiss und ist gleichgültig, ob der geschminkte, damenhafte Alte die Dichterin an den Fuji erinnerte oder der Berg an den Mimen, ob der Anthropomorphismus der Landschaft das Primäre ist oder die Naturähnlichkeit des Menschen. Er "bewegte den Samtsaum seines Gewandes". Als die Dichterin sich auf der Reise nach Matsushima fragte, welcher Fuß der Fuji war, hätte sie über den Tänzer schon stolpern können.

Der "schwebende Gipfel" der Schauspielkunst zog sie und die anderen Umstehenden empor. "Wir waren Lampions um seinen Ruhm." Man möchte glauben, Marion Poschmann habe die tektonischen Platten ihrer von den Klassikern geliehenen Landschaften nur aufgeschichtet, um ein solches Bild herrlicher Leichtigkeit steigen zu lassen. Sie versetzt ihre Leser in einen Schwebezustand, in dem wir als glückliche Leuchtpapierkugeln den Orbit ihres Ruhms bilden.

PATRICK BAHNERS

Marion Poschmann: "Geliehene Landschaften". Lehrgedichte und Elegien.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 126 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016

Pudel
in Warnwesten
Marion Poschmanns Essays und ihr
Gedichtband „Geliehene Landschaften“
VON TOBIAS LEHMKUHL
In welcher Reihenfolge soll man das lesen, erst den Essayband, dann die Gedichte? Oder umgekehrt? Lesen wir zuerst die „Mondbetrachtung bei mondloser Nacht“, bevor wir zu den „Geliehenen Landschaften“ greifen, dem Band, mit dem Marion Poschmann für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Auch wenn das möglicherweise – und ganz zu Unrecht – so wirkt, als seien die Essays ein Hilfsmittel zum Verständnis ihrer Lyrik.
  Und schon ist dieses unglückselige Wort wieder gefallen: verstehen! Als seien Gedichte komplexe Rechenaufgaben, die sich lösen ließen und ein klares Ergebnis zeitigten. Eher schon handelt es sich bei den vorliegenden wie bei allen guten Gedichten um eine fremde Sprache, in die man sich nach und nach einhören kann, die aber immer auch Wörter und Wendungen, Bilder und Bezüge enthält, die sich nie ganz erschließen lassen, dunkle Flecken, die es braucht, um den Blick für die Ränder zu schärfen, Konturen stärker hervorzuheben, Kontraste zu schaffen.
  Gedichte versprechen weniger Erkenntnisse als vielmehr Erlebnisse, überraschende Erfahrungen. Sinn ist in ihnen keine Frage der Einzahl. Es geht immer um Sinne. Das Gedicht: Ein Netz aus zahllosen kleinen Wahrnehmungsfäden, ein Gebilde aus lauter Knotenpunkten. Und was die Essays angeht: Man weiß häufig erst hinterher, worauf sie einen hätten vorbereiten können. So stellt Marion Poschmann unter dem Titel „Landleben“ fest, dass sich Künstlerhäuser und andere Schriftstellerdomizile immer fernab von Städten, dafür in der Nähe von Atomkraftwerken befinden: „Man fragt sich: Ist dies ein seltsamer Zufall, weil sowohl der Schreibende als auch das Atomprojekt eine gewisse Abgeschiedenheit verlangt?“
  Man hätte also darauf gefasst sein können, dass man auch bei der Lektüre von Poschmanns Gedichten immer wieder lachen muss, beispielsweise wenn in den „Textaufgaben der Logistik“ von einer „Notversorgung mit Moltofill“ die Rede ist und nach dem Vers „Du sitzt mit Haferflocken im Nachtzug“ sich die Frage stellt: „Mit wie viel Packungen kommst du ans Ziel?“ Ebenso wenn es angesichts von Kohleflözen heißt: „Was Wald war im Tertiär, stand schwarz und schwieg.“ Das schrammt freilich, wie die „Kekse des Philosophen“ kurz nach einem Leibniz-Zitat, knapp am Kalauer vorbei.
  Es zeugt aber auch von einer Leichtigkeit, die inmitten des Anspielungs- und Anschauungsreichtums, der Gelehrtheit und Selbstreflexivität dieser Gedichte immer wieder überrascht.
  Was den Essays wie den Gedichten ebenfalls gemein ist: In ihnen geht es um Räume, um die Wirkung und Wahrnehmung von zumeist eng umgrenzten Räumen wie Gärten und Parks, um – wie der Titel des Essaybandes es schon andeutet – die Konstruktion von Räumen im Bewusstsein und also auch darum, inwieweit Räume „wirklich“ sind oder immer nur abgeleitet – „Geliehene Landschaften“.
  Geliehene Landschaften, das sind laut einem chinesischen Gartenhandbuch aus dem Jahr 1631, bestimmte Elemente, die nicht unmittelbar zum Garten gehören, seine Wirkung aber steigern – umliegende Berge etwa, Pagoden, ja selbst Regen kann ein solches Element sein, eine geliehene Landschaft.
  Poschmann nun hat sich für ihre Gedichte eine ganze Reihe eng umgrenzter Landschaften ausgeborgt und in neun Zyklen à neun Gedichten zu dem vorliegenden Band vereinigt: den „Bernsteinpark Kaliningrad“ etwa, den „Kindergarten Lichtenberg“ oder den „Coney Island Lunapark“. Angesichts der großen Rolle, die Parks und Gärten in der ostasiatischen Ästhetik spielen, dürfte es nicht überraschen, dass Kyoto, Matsushima oder Shanghai ebenso wie die Tradition der chinesischen Gelehrtensteine oder der japanische Steingärten eine große Rolle spielen.
  Außerdem hatte ja schon die „Mondbetrachtung bei mondloser Nacht“ darauf vorbereitet. Hier berichtet Poschmann von ihrem Aufenthalt im Stift Fischbeck und dem dazugehörigen Abteigarten, von einem Ausflug zum Moosgarten im japanischen Kokedera und von ihrem Besuch im Trockenlandschaftsgarten Ryoan-ji, einem Garten, in dem lediglich einige größere Steine inmitten eines zu Wellen geharkten Kiesbetts liegen.
  Der fünfhundert Jahre alte Ryoan, schreibt Poschmann, bedeute nichts Bestimmtes, er müsse nicht erklärt werden, man benötige kein Vorwissen. Die Steine bildeten eine ästhetische Konstellation, die absichtslos wirke, spontan und zufällig, womit im Grunde die künstlerischen Neuerungen der Moderne vorweggenommen würden.
  Man ist versucht, diese Beschreibung auch als Anleitung für Poschmanns eigene Gedichte anzusehen, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Die Leere, das große Nichts, das in der japanischen Kunst, namentlich im Nō-Theater immer wieder umkreist wird, sowie die starke Rolle des rein Gestischen stehen der bunten Vielgestalt von Poschmanns Versen durchaus entgegen: „Chrysantemenchruschtschow“, „Gullyglück“, „Erkenntniskrücke“ – von einem Ideal der Einfachheit kann hier wahrlich nicht die Rede sein: „Knäckebrotleicht schnappen / Pudel in Warnwesten nach der wirbelnden Luft.“ Hundert Jahre nach den legendären Nächten im Cabaret Voltaire klingt in Poschmanns Gedichten eine Verwandtschaft mit dem Dadaismus, auch dem Surrealismus an: „Bei uns kommen Bäume ausschließlich / in kleinen Dosen ins Haus“, „Denke dich als Traum eines Baums“. Die klassische Form des Haiku dient hier vor allem der Persiflage: „Bashos Grab in Otsu: / Mücken / nur Mücken!“
  In einem ihrer Essays berichtet Poschmann von der Entstehung ihres ersten Gedichts: Zu Studienzeiten sei sie mit dem Fahrrad durch Bonn gefahren, gesenkten Kopfes, unter ihr glänzte der Asphalt, und da sei dieses erste Gedicht mit aller Macht über sie gekommen. Sie habe angehalten und habe es auf einem Zettel notiert. Seither wundere sie sich, dass das Wort „Inspiration“ aus den Poetiken der Gegenwart verschwunden sei.
  Was freilich nicht bedeutet, dass es sie nicht mehr gibt. Poschmanns Gedichten in „Geliehene Landschaften“ merkt man auf jeden Fall das Vertrauen in die eigenen Bilder und Beobachtungen, in die eigenen Einfälle und die eigene Sprache an, den Mut, rätselhafte Elemente einzubringen, ein Bewusstsein für die Form zudem, ohne dass je formale Elemente die Oberhand gewönnen. Dass sie Sonette schreiben kann, hatte Poschmann schließlich schon in „Geistersehen“, ihrem letzten Band, bewiesen.
  Trotz der klaren Anordnung von neunmal neun Gedichten, trotz der fast konzepthaft anmutenden Thematik, und obwohl im Untertitel von „Geliehene Landschaften“ geradezu streng „Elegien und Lehrgedichte“ angekündigt werden, geht die Fahrt mit Poschmanns Versen stets ins Offene. Denn am Ende weisen Garten und Park doch über die eigenen, engen Grenzen hinaus, und zurück auch in eine Zeit, als alles noch Garten, Paradiesgarten war, ein einziges Versprechen. Selbst wenn es im vorletzten Gedicht des Bandes heißt: „Sie haben ihr Ziel erreicht“ geht es, da soll man sich nicht täuschen lassen, immer noch weiter: „Du findest hier den Mut zur Lücke (auch / in Gelb erhältlich) und überall Parkmöglichkeiten.“
Marion Poschmann: Geliehene Landschaften. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 126 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Marion Poschmann: Mondbetrachtung bei mondloser Nacht. Über Dichtung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 224 Seiten, 18 Euro.
Inmitten des Reichtums an
Anspielungen und Anschauungen
überrascht diese Leichtigkeit
Marion Poschmann.
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»Inmitten des Reichtums an Anspielungen und Anschauungen überrascht diese Leichtigkeit.« Tobias Lehmkuhl Süddeutsche Zeitung 20160315