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In dieser Gesamtdarstellung der frühen Schriften Karl Kraus' und der frühen Jahrgänge seiner Wiener Zeitschrift Die Fackel bildet der Übergang von seinen ironischen Feuilletons zur schärfsten Polemik gegen die Presse und zur satirischen Sprachkritik den Schwerpunkt. Vor dem breiten Horizont des fin de siècle wird Die demolirte Literatur (1896/7) als topographisch verschlüsselte Momentaufnahme der Zustände der großstädtischen Öffentlichkeit begriffen. Neue Quellen zur Gründung der Fackel und zu den Zuständen in Wiener Redaktionen werden erfasst und seine Kritik am Feuilletonismus im…mehr

Produktbeschreibung
In dieser Gesamtdarstellung der frühen Schriften Karl Kraus' und der frühen Jahrgänge seiner Wiener Zeitschrift Die Fackel bildet der Übergang von seinen ironischen Feuilletons zur schärfsten Polemik gegen die Presse und zur satirischen Sprachkritik den Schwerpunkt. Vor dem breiten Horizont des fin de siècle wird Die demolirte Literatur (1896/7) als topographisch verschlüsselte Momentaufnahme der Zustände der großstädtischen Öffentlichkeit begriffen. Neue Quellen zur Gründung der Fackel und zu den Zuständen in Wiener Redaktionen werden erfasst und seine Kritik am Feuilletonismus im Zeitzusammenhang betrachtet. Vernachlässigte Archivalien, vor allem Notizen und Entwürfe zur Demolirten Literatur, werden erschlossen. Aufgrund von kritischer Textinterpretation wird die biographische Legendenbildung überprüft. Auf Fragen der jüdischen Identität wird eingegangen, ohne kurzschlüssig Thesen zum pathologisch hassenden Anti-Modernen und Antisemiten zu konstruieren. Die Bedeutung der neunziger Jahre für den späten Gedächtnisdiskurs um frühe Theatererlebnisse wird sichtbar und die Entstehung seiner Norm 'Ursprung' von der Frage der jugendlichen Identität abgegrenzt.
Autorenporträt
Gilbert Carr, 1972 an der Universität Durham, England, promoviert, ist Fellow Emeritus des Trinity College Dublin, wo er von 1969 bis 2008 als Dozent für Germanistik tätig war. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Wiener Moderne. Zu seinen Publikationen gehören: "Karl Kraus and Sigmund Freud" im Symposiumsband Irish Studies in Modern Austrian Literature, Dublin 1982; die Edition: Der Briefwechsel von Karl Kraus und Otto Stoessl 1902-1905, Wien 1996; mitherausgegebene Symposiumsbände: Karl Kraus und 'Die Fackel'. Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte, München 2001, und Fünfzig Jahre Staatsvertrag: Schreiben, Identität und das unabhängige Österreich, München 2008.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2019

Ein Kompromissloser bringt sich in Stellung
Gilbert Carr zeigt den frühen Karl Kraus in seinem journalistischen und literarischen Wiener Umfeld

Der "Antijournalist" Karl Kraus, wie Thomas Mann ihn 1913 nannte, hat aus seiner journalistischen Vergangenheit nie ein Hehl gemacht. Bereits im ersten, Anfang April 1899 erschienenen Heft der "Fackel" legte er mit einem Bericht über sein "geistiges Vorleben" Rechenschaft von ihr ab. Obwohl Kraus zunächst seine beiden bis dahin erschienenen selbständigen Publikationen Revue passieren lässt - "Die demolirte Litteratur" (1897) und "Eine Krone für Zion" (1898) -, nennt er nicht einmal deren Titel. Das damit begonnene journalistische "Sündenregister" ergänzt der sich pointiert als "Publicist" vorstellende Herausgeber mit einem Hinweis auf den Kampf, "den ich in mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens geführt habe". Nicht nur die ironische Beichtgeste, sondern auch das rhetorisch bekräftigte Geständnis einer ehemals kompromittierenden Position innerhalb der jetzt zu bekämpfenden Journalistik unterstreicht den heiklen Ort, an dem "Die Fackel" sich in der Wiener Presselandschaft etablierte.

Im Großen und Ganzen ist die Forschung über Karl Kraus ihrem Autorität heischenden Autor gefolgt und hat die beiden Pamphlete sowie die in den drei Bänden der Frühschriften gesammelten und kommentierten Rezensionen, Kritiken, Korrespondenzen, Chroniken und Feuilletons weitgehend vernachlässigt. Im Standardwerk von Edward Timms wird "Die demolirte Litteratur" in knapp zehn Zeilen abgehandelt. In seinem Buch, das auf einer fast fünfzigjährigen Tätigkeit als Kraus-Forscher fußt, widmet der emeritierte britische Germanist Gilbert Carr diesem von der Wiener Moderne-Forschung meist als ressentimentgeladene Abrechnung angesehenen Werk mehr als zweihundert Seiten.

Ebenso gründlich untersucht Carr die journalistischen Arbeiten von Kraus zwischen 1892 und 1898 sowie die sonst eher en passant erörterte Gründung der "Fackel" und deren frühe, vor allem dem Antikorruptionismus geltende Jahrgänge bis zur sogenannten ästhetischen Wende im Jahr 1902. Nach "Demolierung" und "Gründung" folgen Kapitel über einen Begriff, der Kraus' Bemühungen um einen positiven Gegenpol zum destruktiven satirischen Grundzug seiner Zeitschrift zusammenfasst: Ursprung.

Methodologisch verschreibt sich Carr dem "kritischen Lesen (im Sinne des close reading)" und einer "quellengerechten Dokumentation". Das Ergebnis ist im Falle der "Demolirten Literatur" eindrucksvoll. Zum ersten Mal werden die allgemein als "schwer lesbar" übergangenen Notizen und Entwürfe zu dieser Broschüre entziffert und ausgewertet. So kann man bedauern, dass eine in ihnen angedeutete Ergänzung, in welcher der "Größenwahn des Stef. George / mit kl[einen] Buchstaben anzufangen" zur Darstellung gelangen sollte, unausgeführt blieb.

Die tatsächlich Demolierten, zu denen neben Schnitzler und Hofmannsthal der Kritiker Hermann Bahr und der heute als vermutlicher Autor eines pornographischen Romans und bekennender Verfasser der Vorlage für Disneys Bambi-Film nicht ganz vergessene Felix Salten gehörten, werden in ihren literarischen und persönlichen Beziehungen zu Kraus genauestens ausgeleuchtet. Wie er aus ihrem öffentlichen Auftreten und ihren Texten fiktionalisierte, aber lebens- und werknahe Karikaturen schuf, wird mit Hinweisen auf die "Charaktere" von Theophrast, Platons "Protagoras" und andere griechische Klassiker originell erläutert. Vermutungen darüber hingegen, warum der dem Jung Wien-Kreis nahestehende Peter Altenberg, den Kraus in einer späteren Publikation zum "Undemolirbaren in der ,demolirten Litteratur'" erklärt, im Pamphlet selbst fehlt, gehen an dessen Präsenz in absentia vorbei. Denn wenn der Ästhetizismus der Jung-Wiener Autoren charakterisiert wird als Gedankenarmut, die in Stimmungen schwelgt, dann zitiert Kraus seine bereits im April 1896 erschienene Notiz zu Altenbergs berühmtem Erstling "Wie ich es sehe", in der es heißt, Altenbergs gesammelte Skizzen nähmen "einen künstlerischen Hochflug über die seichten Niederungen, wo heimische Gedankenarmuth in Stimmungen schwelgt".

Solche Auslassungen kommen selten vor. Carr erweist sich meist als peinlich genauer Leser und umsichtiger Interpet, dem stets facettenreiche Kontextualisierungen gelingen. Kraus' Kritik am Zionismus in "Eine Krone für Zion", die er 1922 anlässlich der Publikation von Herzls Tagebüchern revidierte, stellt er einem ähnlich skeptischen Artikel des liberalen Althistorikers Theodor Gomperz gegenüber. Und man liest den oft als antisemitisch abgestempelten Angriff auf den Feuilletonismus in "Heine und die Folgen" (1910) anders, wenn man weiß, dass Hofmannsthal bereits 1907 - in einem Artikel mit dem Titel "Umrisse eines neuen Journalismus" - Heine vorwirft, "die deutsche Zeitungsprosa einiger Jahrzehnte in einer bedauerlichen Weise depraviert" zu haben.

Neben solcher literarhistorischen Kombinationskunst wünscht man sich manchmal mehr biographischen Kontext, vor dem Carr wiederholt warnt. Solche theoretische Stringenz kann schiefgehen, wie an der Auslegung eines Schlüsseldokuments zum jungen Karl Kraus zu sehen ist. Im Kommentar zu einem Brief aus dem Jahr 1897 an seinen ältesten Bruder Richard, in dem Kraus seine jüngste Schwester Mizzi gegen den Vater in Schutz nimmt, figurieren bei Carr vor allem literarische Vorbilder: "das Selbstbewusstsein Schillerscher Jünglinge in ,Die Räuber'" oder die Demontage "patriarchalischer Vorbilder bei Nestroy".

Diese Perspektive hängt aber an der Vorstellung, dass Mizzi Kraus, die beim Ableben der Mutter sechzehn Jahre alt war, eine "mutterlose Kindheit" durchlitten haben soll. Die von Kraus verteidigte "Mädchenseele" war allerdings nur ein Jahr jünger als er. In rund fünfzig erhaltenen Briefen und Karten redet sie den großen Satiriker immer wieder mit dem Spott- und Kosenamen "Muckerl" an und berichtet von Reisen, die sie und ihr Mann - manchmal auch mit Adolf Loos zusammen - unternommen haben. Loos, dessen Ornamentkritik Carr im Zusammenhang der frühen "Fackel" würdigt, richtete für das Ehepaar Mizzi und Gustav Turnovsky zwei Wohnungen ein.

Letzten Endes liegen die Stärken von Carrs Studie in ihrer großen Materialfülle: unveröffentlichte Briefe von Kraus an Maximilian Harden, Wilhelm Liebknecht und andere in Archiven von Bayreuth bis Amsterdam; kaum ausgewertete Bestände des Kraus-Archivs der Wienbibliothek wie Vorlesungsnotizen des Philosophie-Studenten oder ein Bilanzbuch des jungen Herausgebers. Beeindruckend in der fünfzigseitigen Bibliographie ist die lange Liste zeitgenössischer Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge. Tiefer hineingeleuchtet in den Dschungel der Wiener Journalistik der 1890er Jahre als Carr hat kaum jemand. Das kompositorische Dickicht des Buches, zu dem eine den laufenden Text erdrückende Fußnotenmasse und rund hundertsechzig im Inhaltsverzeichnis fehlende, teilweise falsch numerierte Unterkapitelüberschriften gehören, machen den Zugang nicht ganz einfach. Trotzdem: in solchem Wirrwarr verirrt man sich gern.

LEO LENSING

Gilbert Carr: "Demolierung - Gründung - Ursprung". Zu Karl Kraus' frühen Schriften und zur frühen Fackel.

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2019. 886 S., geb., 88,- [Euro].

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