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Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren in zahlreichen westeuropäischen Ländern NS-Kriegsverbrecher inhaftiert. Im Zuge der Westbindung der Bundesrepublik wurden die meisten von ihnen entlassen. Lediglich in Italien und den Niederlanden verblieben insgesamt fünf Deutsche im Gefängnis: der SS-Mann Herbert Kappler, als Kommandeur der Sicherheitspolizei verantwortlich für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, sowie die »Vier von Breda«, die maßgeblich an der Ermordung der niederländischen Juden beteiligt gewesen waren. Hochrangige deutsche Politiker, unter ihnen die Bundeskanzler Brandt…mehr

Produktbeschreibung
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren in zahlreichen westeuropäischen Ländern NS-Kriegsverbrecher inhaftiert. Im Zuge der Westbindung der Bundesrepublik wurden die meisten von ihnen entlassen. Lediglich in Italien und den Niederlanden verblieben insgesamt fünf Deutsche im Gefängnis: der SS-Mann Herbert Kappler, als Kommandeur der Sicherheitspolizei verantwortlich für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, sowie die »Vier von Breda«, die maßgeblich an der Ermordung der niederländischen Juden beteiligt gewesen waren. Hochrangige deutsche Politiker, unter ihnen die Bundeskanzler Brandt und Schmidt, setzten sich für ihre Freilassung ein.

Felix Bohr zeichnet das westdeutsche Engagement für die im Ausland inhaftierten NS-Täter nach. Er zeigt, wie sich aus Netzwerken von Kirchenverbänden, Veteranenvereinigungen und Diplomaten eine einflussreiche Interessenvertretung formierte, die rechtliche und materielle Hilfe leistete. Während Opfer des NS-Regimes um gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung kämpften, organisierte die Lobby Unterstützung für die Kriegsverbrecher auf höchster politischer Ebene. Auf der Grundlage bislang mitunter nicht zugänglicher Quellen wirft Bohr einen umfassenden Blick auf ein bisher kaum bekanntes Kapitel bundesdeutscher Vergangenheitspolitik.
Autorenporträt
Felix Bohr, geboren 1982, ist Historiker und Journalist.  
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018

Braune Tentakel
Bonner „Schlussstrich“-Politik und frühe Erinnerungs(un)kultur – Felix Bohrs Studie offenbart das Ausmaß der Hilfe für NS-Kriegsverbrecher im Ausland
Die Fährte legte erstmals Norbert Frei 1996 mit dem Titel seiner Habilitationsschrift „Vergangenheitspolitik“. Der Begriff entwickelte sich zum geflügelten Wort und meint, dass dreierlei staatliches Handeln die fünfziger Jahre auszeichnete: die Amnestierung und Integration früherer Unterstützer des Dritten Reichs bei „gleichzeitiger normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus“. Jedoch habe sich keiner der Protagonisten dieser „Kriegsverbrecherlobby“ um die Lage der Juden in den Nachkriegsjahren gekümmert, beklagte die Konferenz der Landesrabbiner in Deutschland 1949. Im Hintergrund stand die mediale wie politische Leitlinie, die einen Schlussstrich unter die Vergangenheit forderte. Damit erhoffte sich vor allem Adenauer mehr Wähler.
Der Spiegel-Redakteur Felix Bohr verfolgt nun in seiner Dissertation das Konzept der Vergangenheitspolitik bis hin zur Regierung Helmut Kohls. Offiziell begründet wurde diese Haltung mit dem kontinuierlichen Appell, besonders im Ausland einsitzende Kriegsverbrecher „aus humanitären Gründen“ freizulassen. Diese plakative Forderung überdeckte indes das erhebliche Engagement privater Organisationen wie der „Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V.“, des Zusammenschlusses Angehöriger der ehemaligen Waffen-SS zur „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG), des „Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen“ (VdH). In den 50er-Jahren traten an die 2000 solcher Vereinigungen auf, noch Ende 1977 wurde ein Dutzend Verbände dazu gezählt. Gesondert wird die Motivlage beider Kirchen in ihrem Bemühen für inhaftierte Täter untersucht. Lagen ihr wirklich nur christliche Grundsätze wie Vergebung zugrunde oder eine handfeste Ideologie vergangener Zeiten? Diese Verbände entwickelten zunehmend einen enormen Einfluss auf die Bonner Politik, die Medien und die Öffentlichkeit. In ihnen und durch sie spiegelten sich alle Facetten deutscher Erinnerungskultur, also der Umgang mit dem Nationalsozialismus in privater wie kollektiver Wahrnehmung als Teil einer Ideologiegeschichte. Sie offenbart die im Umfeld der Täterbetrachtung relevanten Probleme wie Schuld/Kollektivschuld, Verbrechen der Wehrmacht/„saubere Wehrmacht“ oder das Thema Befehlsnotstand. Nirgends sonst findet man das gesamte revisionistische Vokabular, mit dem die Täter versuchten sich zu exkulpieren, so gebündelt. Auch Bohr verweist auf die rhetorische „Verunklarung“ (Norbert Frei), mit der strafrechtliches Verhalten kaschiert werden sollte. So wurde aus den wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Tätern der Nürnberger Prozesse bereits Ende der 40er-Jahre „sogenannte Kriegsverbrecher“, in den 60er-Jahren dann anonymisiert offiziell nur noch „Kriegsverurteilte“.
Felix Bohr handelt die Geschichte der bundesdeutschen Kriegsverbrecherhilfe ab anhand des in Deutschland für Empörung sorgenden Falls von Herbert Kappler, SS-Obersturmbannführer und Leiter des Sicherheitsdienstes in Rom, verurteilt wegen Mordes an 335 italienischen Zivilgeiseln in den römischen Fosse Ardeatine zu lebenslanger Haft. Etwa zeitgleich verurteilte ein niederländisches Gericht vier deutsche Angehörige des Sicherheitsdienstes sowie einen stellvertretenden KZ-Kommandanten (bekannt als „Vier von Breda“) zum Tode bzw. aufgrund von späteren Gnadenerlassen zu lebenslanger Haft.
Historisch relevanter als die Details der Verbrechen und Verurteilung ist die Entstehung der Lobby für die Kriegsverbrecher und wie sich die Politik der Adenauerzeit bis 1961 daran orientierte. Es waren die Kirchen, die sich in der „Stunde Null“ um die knapp 100 000 verurteilten deutschen und österreichischen Delinquenten kümmerten, allerdings von Anfang an mit bekannten Maßstäben: die Rechtsschutzstelle des EKD-Hilfswerks unterstand zunächst einem „stramm nationalen“ Senatspräsidenten und man wusste, dass sich unter den hilfsbedürftigen Häftlingen zahlreiche NS- und Kriegsverbrecher befanden. Der Tenor der EKD-Broschüren blieb vier Jahrzehnte gleich, es war die Rede von „angeblichen Kriegsverbrechern“, Zweifel an der Objektivität ausländischer Gerichte, qualvolle Haftbedingungen, und natürlich wurde der Aspekt Schuld negiert.
Wie die evangelische Kirche begann auch die katholische die Alliierten zu diskreditieren. Zentral dabei das Argument, die Deutschen hätten von dem Genozid kaum Kenntnis gehabt, vielmehr seien sie selbst mehr Opfer als Verursacher gewesen. Insofern lag es nahe, rigoros alle Kollektivschuldvorwürfe zu bestreiten. Das steigerte sich in Form aktiver Fluchthilfe, über die sogenannte Rattenlinie entkamen allein nach Argentinien etwa 800 hohe NS-Funktionäre, unter ihnen Adolf Eichmann. Drehscheibe illegaler Auswanderung war in Rom Bischof Alois Hudal, der für Bonn von 1949 an wichtigster Ansprechpartner wurde. Vieles ist dabei längst aufgearbeitet, dennoch ist eine solche Überschau wie von Felix Bohr sehr eindrucksvoll. Zu schnell versickert das Wissen um diese Zusammenhänge der frühen BRD.
Für die Kriegsverbrecherfrage wurde der Bonner Wehrbeitrag entscheidend. Adenauer verknüpfte 1950 Zusagen zur Wiederaufrüstung mit dem Abbau des Besatzungsstatuts, einschließlich Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse sowie umfassender Begnadigungen. Flankierend ließ er die „Himmeroder Denkschrift“ von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren veröffentlichen, in der eine Ehrenerklärung der Vertreter der Westmächte und Freilassung der „als Kriegsverbrecher“ zu Unrecht verurteilten Deutschen, die ja nur auf Befehl gehandelt hätten, gefordert wurde. Rein quantitativ hatte Adenauer beste Karten. Die Kassen der Unterstützungswerke hatten „Geld wie Heu“, und die für die Betreuung der Kriegsverbrecher zuständigen Beamten des Auswärtigen Amtes waren 1950 noch zu 47 Prozent NSDAP-Mitglieder gewesen.
Die Hilfswerke im Einklang mit der Politik konnten ganz unverblümt die Kriegsverbrechen relativieren, so hätten die Partisanen die „ritterliche“ Kriegsführung der Wehrmacht in Italien „vergiftet“, was einen Freibrief implizierte. Und es war eh nur noch von „einfachen Gefangenen“ oder „Häftlingen“ die Rede, die Forderung nach vollständiger Abwicklung der Kriegsverbrecherfrage unanstößig. Offen konnte Adenauer 1953 den wegen Kriegsverbrechen verurteilten SS-General Kurt Meyer im Gefängnis Werl besuchen (und Kurt Schumacher (SPD) den HIAG-Gründer empfangen). So gesehen hatten Verbände wie Politik mit ihrer Rhetorik bis Ende der 50er-Jahre ein leichtes Spiel, erst im April 1958 führte der Ulmer-Einsatzgruppen-Prozess einer breiteren Öffentlichkeit die NS-Massenmorde vor Augen und vor allem, dass die Täter frei herumliefen. Im gleichen Jahr nahm die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg ihre Arbeit auf und bedingte eine Änderung des Diskurses. Bohr: „Das Offenbarwerden der deutschen Schuld drängte zwangsläufig das gesellschaftliche Opfernarrativ zurück.“ Um die Hilfe für die inhaftierten Kriegsverbrecher noch legitimieren zu können, musste die Bundesregierung deren Taten bagatellisieren. Zwar erhob sich weiterhin der Ruf nach einem Schlussstrich, aber nur mehr diskret vorgetragen. Wie sich auch der Modus offener Hilfe zugunsten einer verdeckten änderte. Doch auch das änderte nichts daran, dass aus der vier Jahrzehnte lang geforderten Generalamnestie nichts wurde.
Bohrs wichtige Aufarbeitung, deren gut recherchiertes Faktenreichtum besticht, lässt einen fassungslos zurück ob der braunen Tentakel. Notgedrungen bleiben Fragen offen. Eine davon ist die nach der ideologischen Verankerung der jungen Bundesrepublik und der „Tendenzwende“ (Edgar Wolfrum) Ende der 70er-Jahre. Nur damit erhält man ein geschlossenes Bild: Die BRD war noch viel „brauner“, als sie gemeinhin wahrgenommen wird.
KNUD VON HARBOU
Der Streit entzündete sich
an dem in Italien verurteilten
SS-Offizier Herbert Kappler
und den „Vier von Breda“.
Doch es ging um viel mehr
Felix Bohr:
Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe
für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2018. 558 Seiten,
28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2019

Schwärende Wunde
Der Einsatz deutscher Politiker für im Ausland inhaftierte Kriegsverbrecher

Als Herbert Kappler in der Nacht zum 15. August 1977 die Flucht aus einem römischen Militärhospital gelang, hatte der letzte verurteilte Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs auf italienischem Boden nach 32 Jahren Inhaftierung seine Freiheit wiedererlangt. Entgegen zeitgenössischer Berichterstattung, die von einer Abseilaktion und sogar geheimdienstlichen Hilfeleistungen phantasierte, war der ehemalige SS-Obersturmbannführer mit seiner Ehefrau unbehelligt durch den Haupteingang entwichen. Blieben nur noch die "Drei von Breda", die in den Niederlanden ihre lebenslangen Haftstrafen verbüßten. Erst am 27. Januar 1989 stimmte die Zweite Kammer in Den Haag für die Amnestierung der beiden verbliebenen Kriegsverbrecher, die umgehend in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben wurden. Franz Fischer und Ferdinand aus der Fünten hatten 44 Jahre in niederländischen Gefängnissen eingesessen.

Ein dreiviertel Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer war damit ein weiteres Kapitel des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen worden. Es gab keine deutschen Kriegsverbrecher mehr in ausländischer Haft. Die in Göttingen angefertigte Dissertation beschäftigt sich mit dem Schicksal dieser Langzeitinhaftierten, mit den Unterstützerkreisen der Kriegsverbrecher, die auf ein Ende der Inhaftierungen pochten, sowie mit der Bedeutung des Ringens um Haftverschonung für die Geschichte der Bundesrepublik. Die Studie zerfällt mindestens in zwei Teile: zum einen die Rekonstruktion der titelgebenden "Kriegsverbrecherlobby", zum anderen die weiterführenden Einsichten in die Geschichte der westdeutschen Demokratie, die aber überzogen sind. Schicksal von Dissertationen ist es, einen Teilaspekt der Geschichte zu thematisieren. Nur durch diese Konzentration kann es gelingen, den bereits umfangreichen Wissensstand zu bereichern und neue Aspekte in die wissenschaftliche Diskussion einzuführen. Schon dies ist ein hoher Anspruch, dem nicht jede Arbeit gerecht wird. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass talentierte Nachwuchswissenschaftler ihren Teilaspekt gleichsam zum archimedischen Punkt hochstilisieren, um größere Gesamtzusammenhänge erklären zu wollen - vielleicht sogar um die Geschichte eines ganzen Staates neu bewerten zu können.

Folgt man der Argumentation des Autors und treibt den vorgestellten Interpretationsansatz nur ein wenig auf die Spitze, dann war das größte Wunder der deutschen Geschichte die Etablierung einer erfolgreichen Demokratie nach 1949, denn überall, wohin man schaut, waren Nationalsozialisten oder zumindest Helfershelfer der Nationalsozialisten - die vermeintliche "Kriegsverbrecherlobby".

Gewiss gab es in den fünfziger und sechziger Jahren umfangreiche Unterstützungsgruppen - Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V., Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (Hiag) sowie Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH) -, die mit Nationalsozialisten und Ewiggestrigen durchsetzt waren, und gewiss übten diese Kreise einen gewissen Druck auf die Politik aus - schon durch ihre recht hohen Mitgliederzahlen. Doch macht es sich der Autor zu leicht, wenn er behauptet: "Der Einfluss der bundesdeutschen Unterstützernetzwerke hatte beträchtliche Auswirkungen auf das Engagement der Bundesregierungen für eine Freilassung Kapplers und der Vier von Breda." Zwar weist er im Laufe der Untersuchung immer wieder auf die unterschiedlichsten Faktoren hin, die über die Jahrzehnte zu einer durchaus intensiven Beschäftigung vor allem des Auswärtigen Amtes mit der Kriegsverbrecherfrage geführt haben.

Doch die Gewichtung der Faktoren folgt immer dem gleichen Muster: Dem Auswärtigem Amt - übrigens bis weit in die siebziger Jahre durchsetzt mit ehemaligen Nationalsozialisten, wie der Autor nicht müde wird zu betonen - lagen diese Kriegsverbrecher vor allem am Herzen, um einen Schlussstrich unter dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte zu ziehen. Dass es den Beamten dabei vor allem um die Beseitigung einer schweren Belastung des jeweiligen bilateralen Verhältnisses zu den Niederlanden und Italien ging, räumt der Autor zwar ein, doch verkennt er vor allem für die Mitglieder der jeweiligen deutschen Vertretungen die zwingende Notwendigkeit, ein mehr als 30 Jahre währendes Problem von der politischen Tagesordnung abzuräumen. Dies umso mehr, da sowohl die Niederlande als auch Italien diese schwärende Wunde im bilateralen Verhältnis jederzeit instrumentalisieren konnten. Die Kriegsverbrecherfrage war ein Druckpunkt für die Außenpolitik der Bundesrepublik. Es war die Pflicht jedes Diplomaten, diesen potentiellen Angriffspunkt so schnell wie möglich zu neutralisieren.

Überhaupt scheint der Autor nicht sehr vertraut mit den diplomatischen Gepflogenheiten und Winkelzügen, die auch innerhalb der Nato oder der EWG beziehungsweise der EG vorgeherrscht haben. Dass wiederholt deutsche Diplomaten gegenüber ihren italienischen und niederländischen Kollegen auf ihre nahezu verzweifelte Lage angesichts des innenpolitischen Drucks in der Bundesrepublik hinwiesen, wird vom Autor als bare Münze angesehen. Diese Erklärungen dienen ihm sogar als Beleg für die Ausgangsthese, dass die "Kriegsverbrecherlobby" wirklich massiven Einfluss ausgeübt habe. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass diese Betonung innerpolitischer Pressionen einer der ältesten Tricks im außenpolitischen Repertoire jedes halbwegs ausgebildeten Diplomaten ist. Die uralte Argumentation geht so: Ich würde gerne andere Schwerpunkte setzen, aber mir sind durch die Heimat die Hände gebunden. Der Druck ist wahrlich so groß, dass wir rasch eine Lösung finden müssen. Dass sowohl niederländische als auch italienische Kollegen dieser Argumentationslinie niemals gefolgt sind, spricht für ihre Professionalität.

Ebenfalls ohne Maß und Mitte sind die Anwürfe gegen Bundeskanzler Willy Brandt. Dessen umfangreiches Engagement für die Inhaftierten wird zum einen mit wahltaktischen Motiven begründet: "Zur Machtsicherung biederte sich die SPD den Angehörigen der einstigen ,Volksgemeinschaft', unter ihnen zahllose ehemalige Täter, derart an, dass dies den vormalig im ,Dritten Reich' verfolgten Parteimitgliedern rückblickend hohn spricht." Und zum anderen mit einer psychologisierenden Deutung Brandts, der - so der Autor - mit seinem Einsatz für die Kriegsverbrecher seine "persönliche generationelle Ausgrenzung" zu überwinden suchte.

Mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik ist diese Dissertation gescheitert, da der Autor die Maßstäbe der aus seiner Sicht "angemessenen Erinnerungskultur" der Gegenwart auf die Jahre vor der Wiedervereinigung anwendet - ein im Grunde unhistorisches Vorgehen.

HARALD BIERMANN.

Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 558 S., 28,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Klaus Hillenbrand ist bei der Lektüre entsetzt, wer sich alles für die Freilassung im Ausland verurteilter Nazi-Kriegsverbrecher wie Herbert Kappler - der als SS-Obersturmbannführer in Italien willkürlich ausgewählte 335 Italiener erschießen ließ - einsetzte: Bundeskanzler Adenauer, Bundespräsident Lübke, Bundestagsabgeordnete, Diplomaten, die Kirchen (die evangelische Kirche sprach gar von "angeblichen Kriegsverbrechern", lernen wir) und sogar Willy Brandt! Unter den Wählern gab es eben viele Nazis, deren Stimmen man auch wollte. Wie es den Rechtsextremen gelang, Politiker von Adenauer über Brandt bis Kohl für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, wie sie die Sprache verbogen, bis aus Kriegsverbrechern gewöhnliche "kriegsgefangene Deutsche" wurden, ist ein Lehrstück gerade auch für heute, meint Hillenbrand.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Wie diese [Kriegsverbrecher], deren Todesurteile letztlich in lebenslange Haftstrafen verwandelt wurden, über Jahrzehnte von bestimmten Gruppen und offiziellen Vertretern in der Bundesrepublik unterstützt wurden, dem geht der Historiker Felix Bohr in seiner lesenswerten Studie ... nach.« Judith Leister Neue Zürcher Zeitung 20190206