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Peter Szondi genießt in der Intellektuellengeschichte der Nachkriegszeit den Status einer Legende. Er ist einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler dieser Jahrzehnte und hat weit darüber hinaus gewirkt. Nicht nur seine bahnbrechenden Studien, sondern auch seine Freundschaft zu Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Paul Celan, Jacques Derrida und anderen, seine Geschichte als Shoah-Überlebender, sein Engagement im West-Berlin der Sechzigerjahre, seine intellektuelle Verve, sein dezentes und doch charismatisches Auftreten haben dazu beigetragen. Dieses Buch unternimmt den Versuch,…mehr

Produktbeschreibung
Peter Szondi genießt in der Intellektuellengeschichte der Nachkriegszeit den Status einer Legende. Er ist einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler dieser Jahrzehnte und hat weit darüber hinaus gewirkt. Nicht nur seine bahnbrechenden Studien, sondern auch seine Freundschaft zu Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Paul Celan, Jacques Derrida und anderen, seine Geschichte als Shoah-Überlebender, sein Engagement im West-Berlin der Sechzigerjahre, seine intellektuelle Verve, sein dezentes und doch charismatisches Auftreten haben dazu beigetragen. Dieses Buch unternimmt den Versuch, Leben, Werk und intellektuelle Wirkung Szondis zusammenzuführen. Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2020
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lobend bespricht Rezensent Jörg Später dieses Buch, dass eine Biografie des Germanisten Peter Szondi ist, obwohl es auch als germanistische Dissertation ihres Verfassers diente. Deutlich wird dem Rezensenten hier eine Art heimliches Dreigestirn aus Adorno, Szondi und Celan, das für neue, radikale Töne in der Lyrik sowie in der Betrachtung von Ästhetik in den 1960er Jahre verantwortlich war und dort auf offene Ohren der nächsten Studentengeneration stieß. Herausgearbeitet wird, so der beeindruckte Kritiker, wie stark nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in der Germanistik die alten, vom NS geprägten Herren den Ton angaben und wie schwer es war, gegen sie anzukommen. Dramatisch das Ende eines seelisch schwer von der Überlebensschuld nach der Shoah beschädigten Lebens; nach dem Tod der Freunde - Adorno starb 1969 und Paul Celan ertränkte sich 1970 - machte Szondi seinem Leben ein Ende.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2020

Die Gesellschaft im Elfenbeinturm
Hans-Christian Riechers erzählt die „intellektuelle Biographie“ des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi
Im vergangenen Jahr wäre Peter Szondi wie Jürgen Habermas neunzig Jahre alt geworden. Szondi kennen heute nur noch wenige. Man kann Germanistik studieren, ohne je diesem Namen zu begegnen. Dabei war Szondi ein Typ wie Habermas, den er Anfang der Sechzigerjahre in Heidelberg kennenlernte. Beide waren frühreife engagierte Wissenschaftler, die inspiriert von Adorno ihre Fächer modernisierten und zugleich streitbar als öffentliche Intellektuelle auftraten. Ihre Lebenswege freilich konnten verschiedener nicht sein, was sich nirgends stärker als im Freitod Peter Szondis ausdrückte. Er wurde am 9. November 1971 am Berliner Halensee tot aufgefunden.
Es ist erstaunlich, dass es bisher noch keine Biografie gab, zumal Szondis Schüler wie Gert Mattenklott in den Achtzigerjahren zu den Granden der Germanistik gehörten. Jetzt aber liegt eine „intellektuelle Biographie“ von Hans-Christian Riechers vor, die – durchaus ungewöhnlich für einen biografischen Text – gleichzeitig eine literaturwissenschaftliche Dissertation ist. Nun finden sich in Riechers’ Buch tatsächlich Passagen, die das fachwissenschaftliche Korsett deutlich machen, in das eine Qualifikationsarbeit eingebunden ist. Gleichwohl dominiert zum Glück nicht der Fachjargon. Im Gegenteil, Riechers kann schreiben und hat vor allem ein Gespür für die historische Person und ihre Umgebungen. Dem Autor gelingt es vortrefflich, zu verdeutlichen, warum Szondi ein Phänomen war und eine Schlüsselfigur, um Kultur und Gesellschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik zu erhellen.
1929 geboren, entstammte Szondi einem bildungsbürgerlichen jüdischen Elternhaus in Budapest. Der Vater Leopold war Psychiater, sein Onkel László Radványi gehörte zum Budapester Sonntagskreis um Georg Lukács, Karl Mannheim und Béla Balázs, seine Tante war Anna Seghers. Die politischen Bruchlinien gingen also durch die Familie hindurch, bis in spätere Nachkriegszeiten. Von Jugend an war Szondi mit Ivan Nagel befreundet, ebenfalls eine interessante Figur aus der bundesdeutschen Kulturszene, die heute nur noch älteren Theaterfreunden bekannt ist.
Peter Szondi war ein „Kasztner-Jude“, wie sein Dichterfreund Paul Celan einmal in seiner drastischen Art sagte, das heißt, er verdankte seine Rettung vor der Vernichtung dem Geldhandel, den Rudolf Kasztner mit der SS abschloss, um Juden aus Budapest herauszubekommen. Die Szondis wurden allerdings nicht wie die Mehrzahl nach Palästina gebracht, sondern ihr Transportziel im Juni 1944 hieß Bergen-Belsen, um sie als „Austauschjuden“ verfügbar zu halten. Im Dezember 1944 durften sie in die Schweiz ausreisen.
Nur wenige Wochen später wurde das Konzentrationslager zum Todeslager. Der Judenretter und Nazi-Kollaborateur Kasztner wurde 1957 in Israel vor seinem Haus ermordet. Szondi quälte die „Schuld“, überlebt zu haben, den Rest seines Lebens.
In Zürich entdeckten und lasen die Adoleszenten Szondi und Nagel um 1950 Theodor W. Adornos „Philosophie der neuen Musik“ und Walter Benjamins Trauerspielbuch. Adorno und Benjamin waren damals weitgehend unbekannt und sollten für Szondi zu Fixsternen der intellektuellen Orientierung werden, wie zehn Jahre später auch Celan, den Szondi in Paris kennenlernte, und schließlich Gershom Scholem. 1956 erschien Szondis Dissertation – völlig außergewöhnlich – im Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Sie hieß: „Theorie des modernen Dramas“. Der Titel klang nicht von ungefähr nach der „Theorie des Romans“ des jungen Georg Lukács, aber es steckte auch viel Adorno und Benjamin drin. Literaturtheorie gab es damals nicht. Szondi scherte sich auch nicht um Nationalphilologie, sondern überblickte souverän die europäische Literatur. Fast ein Wunder, dass die Schrift nicht abgelehnt wurde, wie es einst Benjamin mit seinem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ ergangen war. Dem eher konservativen Doktorvater Emil Staiger gebührt Dank. Zu Szondis Lebzeiten erschienen fünf Auflagen der „Theorie des modernen Dramas“, bis heute sind es 28. Das Buch ist in 15 Sprachen übersetzt worden.
„Sein Denken war von grosser Dichte und unerbittlich in der oft übermässigen Kürze der Formulierung.“ Riechers zitiert hier Scholems Charakterisierung von Benjamins Stilideal und überträgt es auf Szondi, der ebenfalls dicht und kurz, konzise und reduziert schrieb – er kam auf, wenn man alle seine Monografien zusammenzählt, gerade einmal 850 Buchseiten. Dass Konzentration und theoretische Höhenflüge faszinieren konnten, erzählt viel über die Sechziger, ebenso Szondis Kämpfe gegen die konservativen Kulturhäuptlinge mit Nazivergangenheit an den Schaltstellen des Feuilletons wie Hans Egon Holthusen. Szondi engagierte sich für Celan, als der jüdische Dichter mit Plagiatsvorwürfen verleumdet wurde oder Celans Metaphern wie „Mühlen des Todes“ als „in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetaphern“ abgetan wurden. Szondi scheute sich nicht, im Haus des Henkers vom Strick zu reden, verstieß gegen die „Aphasie“ der Nachkriegszeit und gegen Sprechordnungen. Er fand dabei, auch das zeigt Riechers, immer mehr Unterstützung. In den Sechzigern veränderte sich das Klima, aber auch die Kämpfe wurden härter.
Riechers rekonstruiert beispielsweise das Berufungsverfahren für einen Lehrstuhl für Deutsche Philologie in Frankfurt am Main. Dort wurde Szondi im Sommer 1964 abgelehnt, wohl um Adorno, der in der Kommission saß, eins auszuwischen, aber auch, wie das Protokoll zeigt, weil Szondi sich öffentlich mit Holthusen angelegt hatte. Beide Motive lassen sich freilich leicht zusammenführen, denn beide Gründe entstanden aus der gegenwärtigen Vergangenheit. Der federführende Germanist Heinz Otto Burger jedenfalls hatte Deutsch schon bei der SA gelernt.
Aus denselben Gründen, warum man Szondi in Frankfurt ablehnte, wollte man ihn dann in Berlin an der Freien Universität haben, wo vor allem der jüdische „Linkshermeneut“ Jacob Taubes eine Filiale der Kritischen Theorie einzurichten gedachte. In Berlin wurde am Kiebitzweg ein neues Seminar gegründet, und zwar für „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ (seit 2005 Peter-Szondi-Institut). Hier verkündete Szondi den Abschied von der Nationalphilologie, holte namhafte Gastwissenschaftler aus der ganzen Welt und veranstaltete Seminare, in denen gelesen und diskutiert wurde. Taubes, der ein ähnliches Institut für Hermeneutik der Philosophie leitete, und Szondi ermöglichten den Geisteswissenschaften eine Internationalisierungskur. Die Studenten hingen an ihren Lippen.
Die „Unruhe der Studenten“ um 1968 begleitete Szondi mit Sympathie. Allerdings wurde er wie die Frankfurter Kollegen Adorno und Habermas irgendwann selbst attackiert. Solidarität durfte bei Szondi nicht auf Kosten von Differenzierung gehen. Als Adorno seinen berühmten Iphigenie-Vortrag in Berlin vor rebellierenden Studenten hielt, verteidigte der Gastgeber den Klassizisten souverän gegen die Klassenkämpfer. Auch für seinen Elfenbeinturm im Kiebitzweg schämte er sich vor den roten Literaturzellen nicht. Auf die Frage, was er von der Kritischen Universität halte, antwortete er mit Brechts Herrn Keuner: „Viel. Drum mache ich sie selbst.“
So souverän dieses noch immer junge Genie sich öffentlich bewegte, so psychisch krank war es. Seit seiner Kindheit war Szondi von schweren Depressionen heimgesucht. Das Weiterleben nach der Schoah war immer wieder eine Last. Szondi nannte sich selbst bei einem Besuch in Jerusalem, wo er prüfte, ob er einen Ruf folgen würde, eine „self-displaced person“. Scholem wollte Szondi nach Israel holen, so wie einst Benjamin nach Palästina. Erneut erhielt er eine Absage.
Im August 1969 starb Adorno, was für Szondi ein großer Einschnitt war. Im April 1970 tötete sich Celan, den Szondi einen Monat zuvor noch in Paris besucht hatte. Im Oktober 1971 beendete Szondi sein Leben.
Ob Szondi eine Karriere wie Habermas gemacht hätte? Vermutlich nicht, er entwickelte keine umfassende Gesellschaftstheorie, sondern holte „bloß“ die Gesellschaft in seine Kunsttheorie hinein. Vor allem aber war sein Leben wie das anderer jüdischer Intellektueller wie Celan oder Jean Améry durch die Vernichtungserfahrung so beschädigt, dass das Überleben trotz beruflicher und öffentlicher Erfolge nur vorübergehend gelang.
JÖRG SPÄTER
Hans-Christian Riechers: Peter Szondi. Eine intellektuelle Biographie. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2020. 281 Seiten, 39,95 Euro.
Seine „Theorie des
modernen Dramas“ erlebte
bis heute 28 Auflagen
Bei einem Besuch in
Jerusalem nannte er sich eine
„self-displaced person“
Jenseits der Nationalphilologie: Peter Szondi, geboren 1929 in Budapest, gestorben 1971 in Berlin.
Foto: DLA Marbach
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2020

Aufklärer der Nebelaura
Wahlvaterschaften inklusive: Hans-Christian Riechers' Biographie des unzeitgemäßen Literaturwissenschaftlers Peter Szondi

Ein Vortrag Theodor W. Adornos zum Klassizismus von Goethes Iphigenie an der Freien Universität Berlin sorgte im Sommer 1967 für Entrüstung bei einigen Studenten, die - wenige Wochen nach dem Tod Benno Ohnesorgs - mehr Praxis von der Kritischen Theorie forderten. Es erwarte sie jedoch weit weniger Klassizistisches, als sie vielleicht vermuteten, versuchte der Gastgeber Peter Szondi die Zuhörer einleitend zu beschwichtigen. Drei Jahre zuvor hatte er die Leitung des neugegründeten Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft angetreten. Den Forderungen der Studenten brachte er durchaus Verständnis entgegen. Ihr Projekt einer "Kritischen Universität" schrieb er sich gar selbst auf die Fahne. Spätestens der Iphigenie-Vortrag zeigte jedoch, dass ihn mit Adorno weit mehr verband als mit den Protestierenden, die ihre "Mao-Sprüche" auch nicht anders zitieren würden, "als es einst ihre Großväter mit den Sprüchen des Weimarer Dichterfürsten taten", wie seine Einleitungsworte anmahnten.

Peter Szondis Skepsis bezog sich nicht nur auf die Fetischisierung neuer Revolutionshelden, sondern auch auf den goetheschen Klassizismus, der den kulturellen Kanon der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren ungebrochen bestimmte. Der durch einen scheinbar zeitlosen Geist- und Humanitätsbegriff erzeugten "Nebelaura" sprach Szondi in seinen Anfang der sechziger Jahre gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik der Goethezeit rückblickend "ein gerüttelt Maß Schuld" an der Politikferne in Deutschland zu, die "schließlich die Barbarei heraufführte".

Wie unzeitgemäß Peter Szondis literaturwissenschaftliche Arbeit damit angesichts der theoretischen Präferenzen des damaligen akademischen Betriebs war, zeigt nun Hans-Christian Riechers in einer neuen Biographie. Gerade weil Szondi selbst von der unmittelbaren Selbstaussage im Text und der Subjektgebundenheit aller Erkenntnis ausgeht, ist Riechers daran gelegen, Werk und Biographie, "Wissenschafts- und Persönlichkeitsgeschichte" miteinander zu verknüpfen. Dabei erzählt er die Lebensgeschichte Szondis als intellektuelle Emanzipationsgeschichte; wobei nicht nur eine Rolle spielt, von wem und was sich Szondi emanzipierte, sondern vor allem, wohin er sich auf der Suche nach einer Sprache für das an den europäischen Juden verübte Verbrechen orientierte.

Szondi, geboren 1929 in Budapest, stammte aus einer bildungsbürgerlichen jüdischen Familie. Als 1944 die Wehrmacht Ungarn besetzte und Hunderttausende Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, konnte sich seine Familie im sogenannten Kasztner-Zug in die Schweiz retten, wurde zuvor jedoch mehrere ungewisse Monate im Konzentrationslager Bergen-Belsen interniert. Wie sehr er dieses Überleben als Schmach empfunden und sein philologisches Ethos als Treue zu den "misshandelten Juden der Vergangenheit" verstanden hat, schrieb er im Mai 1965 an Hilde Domin - eine seiner spärlichen biographischen Selbstaussagen. Vom assimilierten Umfeld des Vaters Leopold Szondi, Psychiater und Begründer der Schicksalsanalyse mit ihrem humanistisch-klassizistischen Selbstverständnis, emanzipierte sich der Sohn früh. Doch auch von seinem Zürcher Doktorvater Emil Staiger, damals einer der bekanntesten Germanisten, der 1933 wie 1966 auf demselben antimodernistischen Standpunkt verharrte, entfernte er sich bald. Mit einem intellektuellen Vatermord, so Hans-Christian Riechers, habe Szondi die akademische Öffentlichkeit betreten, als seine Dissertationsschrift 1956 bei Suhrkamp publiziert wurde.

Mit den "Wahlvaterschaften" Lukács, Adorno und Benjamin - später auch Gershom Scholem - zeichnet Riechers eine alternative Genealogie nach und zieht große Linien durch das Werk Szondis. Schon dessen beide äußerst knappe Qualifikationsschriften entsprachen kaum akademischen Gepflogenheiten. Immer mehr wandte Szondi sich später dem Essay zu. Seine letzten Arbeiten über Celan, dessen Rezeption in der Bundesrepublik er maßgeblich befördert hat, blieben Fragment. Szondis für das literaturwissenschaftliche Grundstudium bis heute einschlägige Schrift "Über philologische Erkenntnis" entstand parallel zu seiner Beschäftigung mit Celan, den er früh und vehement gegen die unhaltbaren Plagiatsvorwürfe Claire Golls verteidigte. Dass die methodenkritische Schrift erst vor diesem Hintergrund ihren vollen Gehalt entfaltet, betont Riechers ebenso wie die zentrale Bedeutung Friedrich Schlegels für Szondi. Dessen an Schlegel orientiertes Plädoyer für das Unvollendete und die "Unverständlichkeit des Unverständlichen" diene einer literaturwissenschaftlichen Methodenbesinnung, die sich immer wieder neu den Texten stellen müsse.

Riechers' überzeugende Lesart, Szondis Werk als Engführung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und Strukturalismus zu verstehen, verdeutlicht gerade vor dem Hintergrund der methodenpluralistisch zerfallenden Literaturwissenschaft der siebziger Jahre dessen Bedeutung für ein erkenntniskritisches Wissenschaftsverständnis weit über die Philologie hinaus. Einiges davon war insbesondere aus den Forschungen von Andreas Isenschmid, Christoph König und Thomas Sparr zu Szondi bereits bekannt. Anderes erfährt man zum Teil nur sehr komprimiert. Wiewohl sich dieser knappe Stil an das Vorbild des Porträtierten anlehnt, bleibt etwa die Wirkung Szondis, der so gegensätzliche wissenschaftliche Ansätze miteinander zu vermitteln suchte, relativ ungeklärt. Dabei mag auch die Perspektive der "Persönlichkeitsgeschichte" etwas im Wege stehen, die Riechers entgegen seiner eher schemenhaften Einführung dann auch meist umgeht und sich auf bemerkenswerte Weise mancher psychologisierenden Debatte um Szondi zu entziehen weiß.

Gerade im Unterschied zwischen einer Persönlichkeitsgeschichte, die auf die Dispositionen der "Wissenschaftlerpersönlichkeit" schaut, und einer biographischen Perspektive, die von der Dynamik zwischen historischer Erfahrung und begrifflicher Transformation ausgeht, ließe sich Szondis eigene dialektische Methode verdeutlichen. Das zeigt sich beispielsweise an den Auslassungen ehemaliger Zeitgenossen, Studenten und Doktoranden über Szondis Verschlossenheit und "Furcht einflößende Autorität", die weniger als Charakterurteil, sondern vielmehr als Ausdruck der Kluft zwischen Peter Szondi und der westdeutschen Nachkriegsgeneration interessant sind.

Dass er sich dem euphorischen Aufbruchskollektiv der sechziger Jahre nicht zugehörig fühlte, veranschaulicht Szondis doppelt verfasste Einleitung zum Iphigenie-Vortrag Adornos: In einer ursprünglichen Fassung warb er noch für Solidarität mit den Studenten und plädierte dafür, sich nicht Schlagworten hinzugeben, sondern sich in den Gegenstand zu versenken. Angesichts der Proteste verwarf er diese Version. Der Vergleich zwischen der Studenten- und ihrer Großelterngeneration, den "Mao-Sprüchen" und dem Humanitätspathos, ist eng verknüpft mit Szondis Wissenschaftsverständnis, das weniger mit Blick auf die Person als auf seine historische Erfahrung deutlich wird.

ANNETTE WOLF

Hans-Christian Riechers: "Peter Szondi". Eine intellektuelle Biographie.

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2020. 281 S., br., 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Riechers kann schreiben und hat vor allem ein Gespür für die historische Person und ihre Umgebungen. Dem Autor gelingt es vortrefflich, zu verdeutlichen, warum Szondi ein Phänomen war und eine Schlüsselfigur, um Kultur und Gesellschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik zu erhellen.« Jörg Später, Süddeutsche Zeitung, 04.06.2020»Riechers' überzeugende Lesart, Szondis Werk als Engführung von Kritischer Theorie, Hermeneutik und Strukturalismus zu verstehen, verdeutlicht gerade vor dem Hintergrund der methodenpluralistisch zerfallenden Literaturwissenschaft der siebziger Jahre dessen Bedeutung für ein erkenntniskritisches Wissenschaftsverständnis weit über die Philologie hinaus.« Annette Wolf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2020»In der 'intellektuellen Biographie' versucht Hans-Christian Riechers nun eine erklärende Verbindung herzustellen zwischen dem Menschen Peter Szondi und dessen literaturtheoretischen Texten. Das funktioniert und betont die tragische Engführung zwischen Leben und Werk.« Katrin Diehl, Jüdische Allgemeine, 26.07.2020»Riechers Szondi-Biografie [...] sei zu lesen anempfohlen, weil sie in einer eleganten Wissenschaftsprosa ungelöste Probleme des vergangenen Jahrhunderts vergegenwärtigt und so ein wertvoller Beitrag auch zu aktuellen Debatten sein kann.« Jan Kuhlbrodt, Signaturen, 31.07.2020»Riechers gut lesbare, nicht selten urteilsstarke Darstellung lohnt sich schließlich gerade für solche Leser, die sich für Entstehung und Potentiale literaturwissenschaftlicher Werke interessieren.« Mike Rottmann, Geschichte der Philologien, 57/58 2020…mehr