Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 14,90 €
  • Broschiertes Buch

Die Entstehung des modernen Entwicklungsgedankens in der Biologie zwischen 1760 und 1830 aus kultur- und wissenschaftshistorischer Perspektive.Die Autorin erforscht eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der modernen Biologie: die Herausbildung der Vorstellung von biologischer Entwicklung und die Entstehung der Embryologie um 1800.Die Epoche um 1800 markiert jenen historischen Einschnitt, an dem sich die Wahrnehmung des Lebendigen grundlegend veränderte. Die Natur und ihre Hervorbringungen wurden nun nicht mehr im Rahmen einer starren und zeitlosen Ordnung betrachtet, sondern in der…mehr

Produktbeschreibung
Die Entstehung des modernen Entwicklungsgedankens in der Biologie zwischen 1760 und 1830 aus kultur- und wissenschaftshistorischer Perspektive.Die Autorin erforscht eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der modernen Biologie: die Herausbildung der Vorstellung von biologischer Entwicklung und die Entstehung der Embryologie um 1800.Die Epoche um 1800 markiert jenen historischen Einschnitt, an dem sich die Wahrnehmung des Lebendigen grundlegend veränderte. Die Natur und ihre Hervorbringungen wurden nun nicht mehr im Rahmen einer starren und zeitlosen Ordnung betrachtet, sondern in der Perspektive ihres Werdens, ihrer kontinuierlichen Umgestaltung und Entwicklung.Janina Wellmann stellt die These auf, dass sich zwischen 1760 und 1830 in verschiedenen Wissensbereichen wie der Musiktheorie, Dichtungstheorie und Philosophie Rhythmus als eine neue epistemische Kategorie etablierte. Nur vor diesem Hintergrund kann auch die Entstehung biologischer Theorien verstanden werden. Die lebendige Welt, insbesondere die Vorstellung von Entwicklung, wurde um 1800 neu in Begriffen von rhythmischen Mustern, rhythmischer Bewegung und rhythmischer Repräsentation konzeptualisiert.Darüber hinaus zeigt Wellmann, wie die Rhythmisierung der lebendigen Welt nicht nur die Theorie, sondern auch die visuelle Repräsentation von Bewegung prägte und wie diese in die wissenschaftliche Darstellung lebendiger Prozesse übernommen wurde.Förderpreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2008.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2010

In diesem Rhythmus ticken wir

Die Evolution lag nicht etwa in der Luft: Janina Wellmanns glänzende Studie gibt der Erforschung der Embryologie und frühen Biologie einen neuen Schub.

Die Erkenntnis, dass die Natur eine zeitliche Dimension besitzt, gilt als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Durchbrüche des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Die Geologie begann, das ungeheure Alter der Erde zu erfassen, Biologen mussten sich mit Fossilien auseinandersetzen und in der Embryologie setzte sich die epigenetische Vorstellung durch: die Einsicht, dass sich in der Individualentwicklung neue Strukturen herausbilden und nicht schon im Spermium oder Ei vollständig vorgebildet sind.

Die Biologie, die sich in den Jahrzehnten um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert als eigenständige Wissenschaft etablierte, schuf eine Reihe von Konzepten wie Reproduktion, Vererbung und Rasse, die auf solche zeitliche Dimensionen bauten. Zeitkonzepte in der frühen Biologie beschränkten sich aber nicht auf einfache lineare Ideen. Janina Wellmann vertritt in ihrem Buch die These, dass die Vorstellung von Individualentwicklung um 1800 in Begriffen von rhythmischen Mustern, Bewegungen und Darstellungen neu gedacht wurde. Die Autorin geht aber noch viel weiter: Sie behauptet, dass Rhythmus zwischen 1760 und 1830 auch in zahlreichen anderen Wissensbereichen zu einer zentralen epistemischen Kategorie wurde.

Bravourös führt Janina Wellmann durch Dichtungs- und Musiktheorie, Wissenschafts- und Bildgeschichte. Sie legt dar, wie Klopstock den Rhythmus in der Dichtung als eigenständigen "Mitausdruck" aufwertete, wie ihn später Hölderlin und Karl Philipp Moritz als inneres Ordnungsprinzip dachten, das Natur und Ästhetik gemeinsam war. Goethes Metamorphosenlehre beschrieb die Entwicklung der Pflanzen als ein Pulsieren zwischen Phasen der Ausdehnung und des Zusammenziehens. Goethe verstand die Metamorphose aber als universales Prinzip, dessen Wirken nicht auf die Botanik beschränkt war. Sie galt ihm als das Bildungsgesetz, das für die Hervorbringungen von Kunst wie Natur gültig war.

Für Goethe und andere Autoren war Rhythmus auch bedeutsam, weil er der zeitlichen Dimension von Natur und Kunst eine Regel gab, die eine klare Gesetzlichkeit hatte, doch gleichzeitig auch Variation und die Entstehung von Neuem zuließ. In der Embryologie verortet Wellmann rhythmisches Denken schon früh. Caspar Friedrich Wolff beschrieb 1764 in seinem bahnbrechenden Werk über den Hühnerembryo die Entstehung der ersten Strukturen als einen rhythmischen Wechsel zwischen Fluss und Erstarrung der bläschenartigen Grundsubstanz des Organischen.

Ignaz Döllinger und seine Schüler Heinrich Christian Pander und Karl Ernst von Baer führten Wolffs Arbeiten fort und legten die Grundlagen der modernen Embryologie. Laut Wellmann nutzten auch diese Gelehrten eine rhythmische Vorstellung der Individualentwicklung. Bei Pander waren es räumliche und zeitliche Muster von Faltungen der Keimblätter, die den Embryo schrittweise differenzierten und von Baer beschrieb die Formation des Embryos mittels Auf- und Umschichtungen, Krümmungen und Faltungen von Membranen.

Die Beschreibungen von Baers erinnern die Autorin an die Waffen- und Tanzmeister des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die in Wort und vor allem im Bild die Ausführung einer komplexen Bewegung auf dem Tanz- oder Fechtboden illustrierten. Als Vertreterin einer Schule, die in Bildern nicht nur Illustrationen sieht, sondern die betont, dass Wissenschaft auch in Bildern denkt und argumentiert, macht Wellmann diesen Vergleich nicht leichtfertig und schenkt den bildlichen Repräsentationen der Individualentwicklung besondere Aufmerksamkeit. Zumal sich die komplexe Choreographie der Individualentwicklung sprachlich schwer fassen ließ.. Vor allem bei von Baer entwickelte sich, so Wellmann, eine nahezu unauflösliche Verquickung von Bild und Beobachtung, Sehen und Darstellen. Die Bilder erlaubten dem Blick des Betrachters, durch die Veränderungen in Raum und Zeit des Embryos zu wandern. Für Wellmann bilden die embryologischen Entwicklungsserien nicht die chronologische Zeit ab, sondern eine dem sich entwickelnden Organismus inhärente rhythmisch-periodische zeitliche Ordnung.

Auch wenn der Leser das Argument manchmal aus den Augen zu verlieren droht, scheint die Fülle der Belege keine andere Deutung zuzulassen, als dass Rhythmus am Ende des achtzehnten Jahrhunderts tatsächlich zu einer zentralen - wenn auch nicht immer ausdrücklich hervorgehobenen - erkenntnistheoretischen Kategorie wurde. Aber ein leiser Zweifel an dieser Darstellung muss dennoch statthaft sein: Nach Wellmanns ausführlicher Darstellung, wie in Poetik, Musiktheorie und Embryologie der Rhythmus als zeitliches Ordnungsprinzip auftritt, bleibt gleichwohl schleierhaft, warum dieses Erklärungsmodell solchen Einfluss gewinnen konnte.

Die Wissenschaftsgeschichte hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten von der klassisch ideengeschichtlichen Vorstellung verabschiedet, dass neuartige Konzeptionen - wie etwa Evolution durch natürliche Auslese - in manchen Zeiten einfach "in der Luft liegen". Heute wird nach materiellen, institutionellen, politischen und anderen fassbaren Faktoren gefragt, die auf die Genese und Festigung wissenschaftlicher Theorien und Praktiken einwirken. Die Autorin lässt die Frage jedoch unbeantwortet, wie sich das epistemische Regime des Rhythmus zu etablieren vermochte. Es überrascht kaum, dass Universalbegabungen wie Novalis und Goethe einen Brückenschlag zwischen Natur- und Kunstbetrachtung versuchten. Und Karl Ernst von Baer, Christian Heinrich Pander und Ignaz Döllinger, die führenden Embryologen des frühen 19. Jahrhunderts, waren mit August Wilhelm Schlegel und Goethe bekannt; diese Vernetzung erleichtertete die Zirkulation von Ideen.

Der Autorin gebührt hohe Anerkennung, dass sie Zeitvorstellungen - eine Thematik, die heute in der Chronobiologie wieder hochaktuell ist - in der Wissenschaftsgeschichte der Biologie neu problematisiert und die historische Bedeutung der Embryologie wieder in den Blick rückt. In der stets als Triumph dargestellten Geschichte des Evolutionsgedankens hatte diese Disziplin bis vor wenigen Jahren kaum Platz gefunden. Sie galt den von der Genetik und Ökologie geprägten Pionieren der modernen Evolutionsbiologie als typisches Beispiel der vordarwinistischen - und damit automatisch diskreditierten - Wissenschaft. Erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begannen Wissenschaftshistoriker, diesen Status quo herauszufordern. Janina Wellmanns Studie wird der Erforschung der Embryologie und frühen Biologie hoffentlich neuen Schub verleihen.

THOMAS WEBER

Janina Wellmann: "Die Form des Werdens". Eine Kulturgeschichte der Embryologie 1760 - 1830.

Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 429 S., Abb., br., 39,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hervorragend findet Rezensent Thomas Weber Janina Wellmanns Studie zur Geschichte der Embryologie und frühen Biologie. Die Autorin vertritt darin mit vielen Belegen aus Dichtung- und Musiktheorie, Wissenschafts- und Bildgeschichte die These, dass um 1800 Rhythmus nicht nur in der Biologie zur "zentralen epistemischen Kategorie" wurde. Auch die Verbindungslinie, die die Autorin zwischen wissenschaftlicher Darstellung embryonaler Entwicklungslinien und den in Wort und Bild festgehaltenen Anweisungen von Waffen- und Tanzmeistern des 17. und 18. Jahrhunderts zieht, scheint Weber überzeugend. Trotz der beweiskräftigen Argumentation rühren sich beim Rezensenten aber mitunter "leise Zweifel" an den Ausführungen, weil Wellmann nirgends danach fragt, warum der Rhythmus als wissenschaftliche Erklärungskategorie in dieser Zeit so einflussreich wurde. Davon abgesehen aber würdigt der Rezensent die Studie als "hochaktuell" und gewinnbringend, und er erhofft sich davon frischen Wind für die Erforschung der Embryologie und der Biologiegeschichte.

© Perlentaucher Medien GmbH