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Eine brillante Hommage an Cervantes und ein unverzichtbarer Kommentar zu unseren unsicheren Zeiten
Ismael Smile ist ein Reisender, der besessen ist von der »unwirklichen Wirklichkeit« des Fernsehens. Er will das Herz der Königin der Talkshows erobern und begibt sich auf eine Reise quer durch Amerika, um sich ihrer als würdig zu erweisen. Auf dem Beifahrersitz, Sancho, der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, aber niemals bekam.
Salman Rushdie versetzt die Abenteuer des klassischen tragischen Helden Quichotte in unser Zeitalter des »Alles ist möglich«. Er erzählt dabei auch von
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Produktbeschreibung
Eine brillante Hommage an Cervantes und ein
unverzichtbarer Kommentar zu unseren unsicheren Zeiten

Ismael Smile ist ein Reisender, der besessen ist von der »unwirklichen Wirklichkeit« des Fernsehens. Er will das Herz der Königin der Talkshows erobern und begibt sich auf eine Reise quer durch Amerika, um sich ihrer als würdig zu erweisen. Auf dem Beifahrersitz, Sancho, der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, aber niemals bekam.

Salman Rushdie versetzt die Abenteuer des klassischen tragischen Helden Quichotte in unser Zeitalter des »Alles ist möglich«. Er erzählt dabei auch von Vater-Sohn-Beziehungen, Geschwisterstreitigkeiten, unverzeihlichem Handeln, alltäglichem Rassismus, der Opioidkrise, Cyber-Spionen und nicht zuletzt vom Ende der Welt.

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Autorenporträt
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman 'Mitternachtskinder', für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019

Wer schreibt mich da eigentlich?

Er hat's mit dem Klassiker: Salman Rushdie wagt mit seinem neuen Roman eine moderne Version von "Don Quijote" - und gewinnt.

Von Andreas Platthaus

Müßiger Leser! Du kannst mir aufs Wort glauben, dass ich selbst gerne wollte, dieses Buch, ein Kind unserer Zeit, wäre das schönste, das trefflichste und das klügste, das sich nur erdenken ließe. Allein, wie sollte es das sein, nachdem wir doch schon die Romane von Doderer, Virginia Woolf und Joyce gelesen haben, von Proust und Kafka, Flaubert, Melville, Stendhal, Austen, Goethe und jenem Autor, der ganz am Beginn dessen steht, was wir Roman nennen - von Cervantes? Nein, das Buch, um das es hier geht, ist nicht das schönste, trefflichste und klügste seiner Art. Letzteres schon deshalb nicht, weil es den Titel "Quichotte" trägt, also den Vergleich mit dem mehr als vierhundert Jahre alten Ursprungswerk seiner Gattung, eben dem "Don Quijote" des Cervantes, mutwillig herausfordert. Der Autor eines solchen Romans muss größenwahnsinnig sein. Oder Salman Rushdie.

Der englische Schriftsteller, geboren 1947 in Bombay, zwei Monate, bevor seine indische Heimat unabhängig wurde, und schon deshalb ein Weltbürger, seit mittlerweile fast zwanzig Jahren wohnhaft in New York, ist weltberühmt. Leider weniger für seine Literatur als für das Todesurteil, das der iranische Staatschef Ajatollah Chomeini 1989 wegen Rushdies Roman "Die satanischen Verse" über den Autor verhängte. Die exorbitanten literarischen Qualitäten dieses Buchs verblassten gegenüber dem grellen Skandalon der Fatwa. Wie auch Rushdies noch besserer Roman "Mitternachtskinder" von 1981 und sämtliche weitere Werke, die er später schrieb, darunter ein so brillantes Buch wie die 2012 erschienene Autobiographie "Joseph Anton".

Und so wird es auch "Quichotte" gehen - egal, ob es Rushdie damit gelingen sollte, am kommenden Montag, 38 Jahre nach den "Mitternachtskindern", noch einmal den Bookerpreis, die wichtigste britische Literaturauszeichnung zu gewinnen. Der Schriftsteller weiß das, und das Wissen um die Überschattung des ganzen Werks durch sein persönliches Drama sowie die Erkenntnis, dass es nichts zu verlieren gibt, haben ihn diesmal rücksichtslos gegen sich selbst gemacht. Maßlos in seinen Ansprüchen. Und furchtlos.

Furchtlos, denn wie hätte er es sonst wagen können, sich literarisch mit einem der Größten zu messen? Seinen Helden Quichotte, dessen Namensschreibweise sich Jules Massenets Opernadaption des Cervantes-Romans verdankt, führt Rushdie so ein: "Einst lebte an verschiedenen Adressen quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika ein Reisender indischen Ursprungs, fortgeschrittenen Alters und mit schwindenden geistigen Kräften, der angesichts seiner Liebe zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Lebenszeit im gelben Licht von geschmacklosen Motelzimmern verbracht hatte, wo er es bis zum Exzess schaute, und der als Folge eine absonderliche Form des Hirnschadens davongetragen hatte." Die schon hier, im ersten Satz des Romans, sichtbar miteinander verwobenen Stilregister - Archaismen neben Profanitäten, Märchenton neben Realismus, Komik neben Tragik - ergeben einen Cantus firmus des Ironischen, der das ganze Buch prägen wird. Der Ritter von der traurigen Gestalt wird zum Angestellten in traurigem Zustand. Und die spanische Mancha, diese Tabula rasa von einem Handlungsort in "Don Quichotte", ist mit dem Niemandsland der amerikanischen Provinz, das Quichotte durchreist, perfekt neu besetzt.

Auch wenn es bei Rushdie keinen expliziten Kampf gegen Windmühlen gibt, weil das ganze Buch ja schon selbst ein solcher ist: sinnloses Bemühen, aber darin geradezu romantisch groß, ist es kein Kunststück, die Bezüge von "Quichotte" zu "Don Quijote" zu benennen. Das in Amerika heute allgegenwärtige Fernsehen entspricht den geistbenebelnden Ritterromanen bei Cervantes. Rushdies Äquivalent für Dulcinea von Toboso findet sich in der höchst realen und selbstsarkastisch benannten Starschauspielerin Salma R. - auch sie, wie das ganze Hauptpersonal, indischstämmig -, für die Quichotte ebenso hoffnungslos entbrannt ist wie sein literarisches Vorbild ins Phantasma von dessen Dame. Quichotte hat zudem wie Quijote einen Begleiter namens Sancho, der allerdings physiognomisch das genaue Gegenteil seines spanischen Namensvetters ist - und eine reine Kopfgeburt: "Er selbst sei eine Art Geist, rief er sich in Erinnerung. Er war eine parthenogenetisch gezeugte, nicht registrierte Person, keine Geburtsurkunde oder andere Spuren von ihm in irgendeiner Kartei. Zwar war er hier, aber er sollte es nicht sein."

Wie man hier lesen kann, weiß diese Figur um ihr Schicksal als Figur. Damit ist sie nicht allein. Rushdie betreibt konsequent dasselbe Vexierspiel mit der Durchdringung von Literatur und Leben wie Cervantes. Was aber die Maßlosigkeit der Ansprüche von Rushdie ausmacht, ist die Steigerung dieser Metafiktionalität. Der zweite Hauptstrang des Romans erzählt die Geschichte dessen Verfassers - "ein in New York lebender Schriftsteller indischen Ursprungs", der aber nicht Salman Rushdie selbst ist, sondern ein Autor des Buchs im Buch, der den nom de plume Sam DuChamp trägt und vom eigentlichen auktorialen Erzähler als "Bruder" tituliert wird. Seine Schaffens- und Familienkrisen (die Verwandtschaft besteht aus "Schwester", "Tochter" und "Sohn") treiben wiederum die von DuChamp erdachten Figuren voran, so sehr, dass es irgendwann heißt: "Nun sind Quichotte und ich nicht mehr zwei verschiedene Wesen, das eine kreiert und das andere kreierend, dachte er. Nun bin ich Teil von ihm, ebenso wie er Teil von mir ist." Und genauso verhält es sich denn auch in Rushdies "Quichotte". DuChamp ist tatsächlich ein Bruder, einer im Geiste seines Erfinders. Und der "Sohn" heißt übrigens Marcel.

Die gerade zitierte kurze Passage lässt ein Übertragungsproblem aufscheinen, das Sabine Herting, Rushdies Übersetzerin seit "Golden House" (2017), häufiger hat: zu große lautmalerische Nähe zum englischen Original. "Kreiert" statt "geschaffen" für "created" nimmt der Stelle ihren biblischen Anklang, wobei ganz generell eine weitere Herausforderung für die deutsche Fassung im literarischen Anspielungsreichtum von "Quichotte" bestand, der weit über "Don Quijote" hinausgeht und etwa auch - in einer Nachbemerkung ausgewiesen - Ionescos Drama "Die Nashörner" und Arthur C. Clarkes Science-Fiction-Erzählung "Die neun Milliarden Namen Gottes" oder - unausgewiesen - L. Frank Baums "Zauberer von Oz" und Collodis "Pinocchio" (aber in der Disney-Filmversion) umfasst. Rushdie hat's mit den Klassikern, aber die deutsche Fassung hat leider nicht immer den hierzulande eingeführten Tonfall dazu parat.

Der Stoff von "Quichotte" jedoch ist konsequent modern, man könnte sogar sagen: tagesaktuell. Nicht nur, weil Rushdie seine Salma R. einmal im Fernsehen als Geheimdienstfrau Salma C. auftreten lässt, in einer Serie, "die als Reaktion auf tatsächliche Ereignisse einen gänzlich imaginären Regierungschef einführte, der von Cable News besessen war, der der Basis weißer Rassisten schmeichelte, der mit Salma C.s Vorgänger Golf gespielt hatte und mit ihm Umkleide-Scheiß über Frauen gequatscht hatte". Die Quest des Handlungsreisenden Quichotte wird verquickt mit der dubiosen Erfolgsgeschichte eines Cousins, Dr. R. K. Smile, der sein Vermögen mit dem Verkauf eines von ihm hergestellten Opioids gemacht hat. Wie Rushdie hier bis in kleinste Detail den realen Skandal um das abhängig machende Medikament Oxycontin in seine Romanwelt einbezieht, ist meisterhaft. Als Auslieferer des Mittels bekommt Quichotte endlich die Chance, die angebetete Salma R. persönlich kennenzulernen, und diesen äußerst wirklichkeitsnahen Teil der Geschichte hat Rushdie kürzlich für einen Separatabdruck im "New Yorker" aus dem Roman herauspräpariert, der, ganz nebenbei, eine berückende short story darstellt. Die pikareske Tradition von "Quichotte", vom "Bruder" spät im Buch gegenüber dem "Sohn" eigens erläutert, verlangt nach derartigem episodischen Erzählen. Doch zugleich macht Rushdie aus seinem Roman ein Epos in der Tradition von Road-Novels, die uns quer durch die Vereinigten Staaten mitnehmen, und von Apokalypsen, die zum Finale die ganze Menschheit in den Abgrund zu reißen drohen. Doch wie passend: Die Schreibstube des Romanciers wird zum Rettungsanker.

Das ist ein schöner Schluss, auch wenn es nicht das schönste, nicht das trefflichste und klügste Buch sein kann. Aber einige der schönsten, trefflichsten, klügsten Bücher haben es inspiriert. "Gute Kenntnisse der Klassiker", sagt Quichotte bei Rushdie einmal zu Sancho, "verraten den gebildeten Mann." Das ist ebenso ernst zu nehmen wie die Äußerung eines anderen alten Narren: "Soviel ich davon verstehe", sagt Don Quijote bei Cervantes zu Beginn des zweiten Teils seiner Abenteuer zum Bakkalaureus, "muss man, um Geschichten und Bücher welcher Art auch immer zu schreiben, in der Tat einen großen Verstand und ein reifes Urteil besitzen. Mit Anmut zu scherzen und witzig zu schreiben, ist nur bedeutenden Köpfen gegeben." Solchen wie Salman Rushdie.

Salman Rushdie: "Quichotte". Roman.

Aus dem Englischen von Sabine Herting. Verlag C. Bertelsmann, München 2019. 459 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019

Der Held
hat recht
Die Auferstehung von Don Quijote und
Frankenstein im 21. Jahrhundert
VON MARIE SCHMIDT
Der postmoderne Autor ist noch nicht tot. Aber sehr krank. Sein Sohn fährt ihn durch Amerika, zu den Schauplätzen seines letzten Buches. So geschieht es auf der zweiten Handlungsebene von Salman Rushdies neuem Roman „Quichotte“. Der fiktive Autor (in dem sich unverkennbar der reale Autor Rushdie spiegelt) erklärt, der Roman, an dem er gerade arbeite, sei eine kulturpessimistischen Geschichte im Gewand eines pikaresken Romans. Glaubst du dir eigentlich, was du da schreibst, fragt der Sohn und der Autor reagiert bockig: „,Ich halte es für legitim, dass ein in heutiger Zeit gefertigtes Kunstwerk aussagt, wir seien durch die Kultur, die wir geschaffen haben, verkrüppelt, vor allem durch ihre populärsten Elemente‘, antwortet er. ,Und durch die Dummheit, die Ignoranz und die Heuchelei, ja.‘ ,Was hast du dagegen getan?‘, fragte Sohn. ,Was war dein Beitrag?‘“
Das ist keine private Frage, sondern die große Frage der Nachkommen, die jetzt als Klimademonstranten auf die Straße gehen. Eine Menschheitsfrage, die immer wiederkommt, wenn auf Hybris und Fortschrittsglauben Zeiten der Reue folgen. Solche Zeiten sind jetzt. Wobei man sagen könnte, dass gerade die Literatur es schon immer besser wusste: Von Michel Houellebeqc über Sybille Berg, von Kazuo Ishiguro über Margaret Atwood ist die Gegenwart dystopisch extrapoliert worden. In den Nachrichten scheinen sich die Voraussagen zu erfüllen: Populismus, Backlash, Selbstabschaffung zugunsten künstlicher Intelligenz, Klimakrise. „Es gab Momente“, schreibt Salman Rushdie über den „Bruder“ genannten fiktiven Autor in seinem Roman, „da meinte er, die ganze Welt sei ein Echo auf das Buch, das er gerade schrieb.“ Als erschrecke der Literat vor Geistern, die ausgerechnet er gerufen hat.
Der postmoderne Spaß daran, mit Sprache und Fiktion die Wirklichkeit ummodeln zu können, scheint in Selbstzweifel und Größenwahn umgeschlagen. Aus dieser Stimmung heraus erstehen jetzt zwei Gestalten des Kanons der Weltliteratur wieder auf: Bei Rushdie die Titelfigur des (Adorno zufolge) ersten bürgerlichen Romans überhaupt, „Don Quijote von der Mancha“. Ein Held, der übrigens schon im 1615 erschienenen zweiten Teil des Originals von Miguel de Cervantes über seinen Erfolg in der außerfiktiven Welt sinnierte. Metafiktionale Selbstkommentierung ist so alt, wie der moderne Roman selbst.
Im Roman „Frankissstein“ der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson kommt der Erfinder aus Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ wieder. Wobei weder Rushdie noch Winterson so tun, als müsse man die Klassiker im Lichte der Gegenwart neu schreiben. Auch das wäre Hybris. Vielmehr kommen in ihren Erzählungen die alten Typen als Wiedergänger vor. Zwischen den Fiktionsebene hindurch schlüpfen sie in die Gegenwart, wie Geister der Ahnen, die jemand gerufen hat, um nicht so allein zu sein. Und sich vor Augen zu führen, dass die Probleme der Gegenwart nicht neu sind.
Viktor Frankenstein, Erfinder aus dem Roman von 1818, der ein künstliches Wesen erschafft, menschenähnlich aber monströs, taucht bei Winterson im 21. Jahrhundert als „Viktor Stein“ auf: Fachbereich „maschinelles Lernen und menschliche Verbesserung“. In seinem Labor wird an intelligenten Prothesen geforscht und dem Auslesen der Daten aus Menschengehirnen. Das Ziel ist die Unsterblichkeit, zumindest des Bewusstseins, der Übergang in die „Transhumanität“: „Die Menschen machen eine Evolution durch. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir hier einen Teil unserer eigenen Evolution selbst denken und entwerfen.“ Stein trifft einen transsexuellen Arzt namens Ry Shelley: „Er hielt meine Hand fest: Sind wir uns schon einmal begegnet? Und die seltsame, für einen Sekundenbruchteil aufblitzende Antwort aus einer anderen Welt lautet: Ja.“
Offensichtlich ist Ry ebenfalls ein Wiedergänger, nämlich der der Schriftstellerin Mary Shelley. Wintersons Roman verfügt (wie Rushdies) über zwei Handlungsebenen, und die Metaebene gehört hier der Schöpferin des Ur-Frankenstein. Deren Geschichte beginnt Winterson mit einer der berühmtesten Szenen der englischen Literaturgeschichte: Mary Shelley und ihr Mann, der Dichter Percy Shelley, Lord Byron, dessen Arzt Polidori und Marys Stiefschwester Claire verbringen den Sommer 1816 am Genfer See. Die Leute der Umgebung haben Fernrohre aufgestellt, um die Freigeister im Auge zu behalten. Es regnet ununterbrochen. Man ist also ans Haus gefesselt, erzählt sich Geschichten, und genau da fällt Mary Shelley ihr „Frankenstein“ ein, der sie unsterblich machen wird.
Jeanette Winterson lässt es zwischen Ry Shelley und Viktor Stein, den Wiedergängern der Autorin und ihres Geschöpfs zu einer leise gruseligen Liebesgeschichte kommen. Im Hintergrund beschreibt sie die Lage der historischen Mary. Die Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft ist mit dem Dichter Shelley durchgebrannt. Von ihren fünf Kindern überlebt nur eins, der Tod ist ein Begleiter, gleichzeitig hört sie, wie Forscher versuchen mit Elektrizität tote Körper zu beleben. Sie sieht die Pauperisierung der Arbeiter in der Frühindustrialisierung. Die Fragen, die sie auf die Geschichte des Monsters bringen, das seinen Erfinder überwältigt, sind die bangen, existenziellen Fragen, die sich in Zeiten von KI und Spätkapitalismus immer noch stellen: Was ist der Körper? Sind wir Menschen an ihn gefesselt? Macht uns der technische Fortschritt unabhängig, abhängig oder überflüssig? Wie werden wir mit unseren Erfindungen zusammenleben?
Als Schriftstellerin ist Mary Shelley aber auch Ahnfrau der Schriftstellerin Jeanette Winterson, die sich da in eine Genealogie einschreibt. Dazu gehört auch Ada Lovelace, Tochter von Byron und frühe Programmiererin. Auf den verschiedenen Erzählebenen stellt Winterson Demiurgen aller Art nebeneinander: den Monster-Vater Frankenstein, die Schriftstellerin Mary mit ihrer unsterblichen Figur, Ada, Geist der Rechenmaschinen und Computer, den Transsexuellen, der sich den Körper nimmt, den er braucht und Stein, der mit seinen künstlichen Gehirnen eine neue Lebensform schafft. Weil sich die Geschichte immer auch als Farce wiederholt, gibt es dazu eine groteske Gegenfigur, einen im Sexroboter-Business beschäftigten Mann namens Ron Lord, der einsame Männern mit faltbaren Frauen beliefert.
Winterson erzählt all das in witzigen Dialogen und verlässt sich ziemlich umstandslos auf die Routine ihrer Leserinnen und Leser mit alternativen Realitäten und Fiktionsebenen. Die Pointe dieses Romans liegt im Dazwischen, in Analogien und Ähnlichkeiten. Ohne generalisieren zu dürfen, ergibt der Vergleich von Wintersons Roman mit Rushdies nicht minder in Zitaten und Metafiktionen verfangenem „Quichotte“: Die postmoderne Autorin Winterson solidarisiert sich mit ihren Vorgängerinnen gegen die Selbstabschaffung des Menschen. Der postmoderne Autor Rushdie begehrt auf gegen den eigenen Untergang zwischen den verschiedenen Schichten seiner Fiktion und schiebt Einfall um Einfall zwischen sich und eine Apokalypse, die er selbst heraufbeschwört.
Der Wiedergänger des „Ritters von der traurigen Gestalt“ in Rushdies „Quichotte“ ist offenbar auch ideeller Verwandter der Hauptfigur des amerikanischen Meisterwerks „Moby Dick“, denn er heißt Ismael, Ismael Smile: Ein alternder Pharmavertreter, der „angesichts seiner Liebe zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Lebenszeit im gelben Licht von geschmacklosen Motelzimmern verbrachte, wo er es bis zum Exzess schaute“. Nicht Ritterromane (wie dem Ur-Quichotte), sondern TV-Shows haben ihm die Wahrnehmung verzogen, seine Dulcinea ist eine medikamentenabhängige Talkshow-Moderatorin. Einen Sohn namens Sancho zaubert er sich in einem magischen Ritual herbei, und der taucht auf wie ein Hologrammbild.
Dieser Sancho ist die rührendste Figur des Romans, denn als imaginäres Geschöpf seines Vaters hängt er zunächst so hilflos von dessen wirren Bewusstsein ab, wie der Leser vom Rausch der Zitate, Nebenhandlungen, Anekdoten dieses Romans. Allerdings macht er sich („Werde real, Sancho“) unabhängig, während der Leser sich vor lauter Wiedererkennen mit einer Art quichottischen Paranoia ansteckt: Der von Cable News besessene Regierungschef, die Opioidkrise, absurde rassistische Übergriffe – das ist Amerika. Leute, die sich in Mammuts verwandeln, das sind Eugène Ionescos „Nashörner“, der Unternehmer und Millionär Evel Cent, der behauptet den Zugang zu einem parallelen Universum zu haben, ist eine Art zu Ende gedachter Elon Musk. Alles steht für etwas anderes und alles hängt mit allem zusammen.
Und die jeweils nächsthöhere Instanz im Weltwissen des Romans, etwa der Autor auf der Metaebene der Geschichte, ist nur selbst wieder verwickelt, in einen Agentenplot und eine traurige Familiengeschichte. Es scheint unter diesen Bedingungen kein außerhalb der Fiktion mehr zu geben, man muss es taumelnd genießen, wie einen der Roman zwingt, die Grenzen zwischen Realitäten, fiktiven und alternativen Welten und der Wirklichkeit zu übergehen, um seiner Quest folgen zu können. Die Zerstörung der Wahrheit durch Trolle und Cyber-Kriege, fragt sich der fiktive Autor einmal, „wie unterschied sich das von der Fiktion, die er machte und die ihn nun fest in der Schlinge hatte? Nur dass er nicht versuchte, die westliche Zivilisation zu Fall zu bringen, Entschuldigung. Das war ein kleiner Unterschied.“ Rushdie schreibt seinen „Quichotte“ gewissermaßen als bombastisches Werk des Trotzes gegen den Vorwurf, die stets an den Grenzen zwischen Fiktion und Realität manipulierende postmoderne Kultur, habe die Politik des Post-Truth-Zeitalters verursacht. Die Literatur hat das nur im aufklärerischen Sinne getan, demonstriert Rushdie. Dafür ist Quichotte sicher der richtige Gefährte, denn, wie Lord Byron über das Original schrieb, der „Held hat recht... seine Tugend macht ihn toll“.
Quichotte ist ein alternder
Pharmavertreter, dem zu viel
TV die Wahrnehmung verschiebt
„Nur dass er nicht versuchte,
die westliche Zivilisation zu Fall
zu bringen, Entschuldigung.“
Die Politologin Hadija Haruna arbeitet als Journalistin und Moderatorin.
Sie beschäftigt sich mit Migration und Rassismusforschung, unter anderem hat sie
mit dem „Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch“ eine Handreichung
für Medienmacher geschrieben, die helfen soll, Stereotype zu vermeiden. Ihr Leseort
ist der Frankfurter Hauptfriedhof mit seinen prächtigen Portalen und Mausoleen.

Jeanette Winterson: Frankissstein.
Eine Liebesgeschichte. Aus dem
Englischen von Michaela Grabinger
und Brigitte Walitzek.
Kein und Aber Verlag, Zürich 2019.
400 Seiten, 22 Euro.
Salman Rushdie: Quichotte.
Roman. Aus dem Englischen
von Sabine Herting.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019.
464 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Für Johannes Kaiser ist Salman Rushdies neues Buch sein bester Roman seit langem. Dass der Autor seine literarischen Mittel (Satire, Parodie, Persiflage) im Text selbst benennt, erleichtert Kaiser die Arbeit. Wie Rushdie in seiner Geschichte um einen pensionierten, indischstämmigen Pharmavertreter, der ruhelos die Welt durch das Fernsehen wahrnimmt, sich in eine TV-Moderatorin verliebt und auf der Suche nach ihr die USA mit dem Autor durchquert, Fakten, Fiktion und Autobiografisches vermischt, scheint Kaiser meisterlich. Die im Buch verhandelten aktuellen Themen Cyberkrieg, Rassismus, Fake-News sowie die Dauerbrenner Liebe, Vater-Sohn- und Geschwisterkonflikte, ergeben laut Kaiser zudem ein wenig schmeichelhaftes Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft - und atemberaubende Lektüre sowieso.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit Cervantes durch die USA von heute: eine witzige und scharfsinnige Road-Novel.« Die ZEIT