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Die Wiederentdeckung der ostdeutschen Avantgarde
Weshalb ist die Erinnerung an die Kultur des Ostens stets zwischen politisierender Analyse oder apolitischer Ostalgie gefangen? Marko Martin entdeckt die ostdeutsche Avantgarde neu und zeigt, was sie uns heute noch alles sagen kann.
Die Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit scheint rettungslos zwischen Floskeln eingeklemmt. Weshalb finden sich die, die 89/90 den Umbruch mitgestaltet haben, mit ihren Jugendlektüren, intellektuellen Prägungen oder Musikvorlieben heute beinahe in einer Art bezugsloser terra incognita, während doch…mehr

Produktbeschreibung
Die Wiederentdeckung der ostdeutschen Avantgarde

Weshalb ist die Erinnerung an die Kultur des Ostens stets zwischen politisierender Analyse oder apolitischer Ostalgie gefangen? Marko Martin entdeckt die ostdeutsche Avantgarde neu und zeigt, was sie uns heute noch alles sagen kann.

Die Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit scheint rettungslos zwischen Floskeln eingeklemmt. Weshalb finden sich die, die 89/90 den Umbruch mitgestaltet haben, mit ihren Jugendlektüren, intellektuellen Prägungen oder Musikvorlieben heute beinahe in einer Art bezugsloser terra incognita, während doch gleichzeitig westliche 68er-Erlebnisse längst ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind? Dieses Buch hat nicht den Anspruch einer letztgültigen Alternativ-Geschichte der DDR, es versucht, einen neuen, unideologischen Blick zu eröffnen. Wie etwa sah im eingemauerten Land eine Literatur oder Filmkunst aus, die weder politisch-oppositionell noch staatstragend war, sondern sich ihre Freiheitsräume gewitzt eroberte? Welche Rolle hatten Jazz und Punk? »Die verdrängte Zeit« ist eine provokativ gut gelaunte Erinnerung an weltgewandte Kulturleistungen, die nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht waren - und die nicht wegen, sondern trotz des Regimes entstanden sind.
Autorenporträt
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. In der Anderen Bibliothek erschienen seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse, mit Die letzten Tage von Hongkong steht er auf der Shortlist des Kurt-Tucholsky-Literaturpreises 2023.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Stefan Locke taucht mit Marko Martin ein in die kulturelle Vielstimmigkeit der DDR. Nicht staatstragende Literatur, Kino, Musik lässt der Autor Revue passieren, laut Martin erfrischend frei von Nostalgie und Anklage. Die Geschichten, die der Autor zu Werken und Künstlern zu erzählen hat, machen Martin schmerzlich bewusst, mit welchem Verlust man es eigentlich zu tun hat, wenn wieder einmal vom "DDR-Winnetou" oder vom "Dieter Hildebrandt des Ostens" die Rede ist. Martins Wissen und Entdeckerfreude lassen Locke staunen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2020

Wir sind ja hier nicht in der Zone
Räume innerer Emigration: Marko Martin blickt unvoreingenommen auf die Kultur der DDR

Die DDR war noch nicht offiziell verschwunden, als auf den Deponien des kleinen Landes Bücherhaufen wuchsen. Buchhandlungen, Bibliotheken und Verlage räumten ihre Regale und schmissen nicht nur Parteiliteratur buchstäblich auf den Müllhaufen der Geschichte, sondern gleich alles, was die gut achtzig Verlage der DDR je publiziert hatten. Darunter waren neben in Leinen gebundenen Klassikern, mit denen sich auch Westdeutsche gern für billiges Geld eingedeckt hatten, "vor allem auch Kinder- und Jugendbücher, kluge, der Zensur abgerungene Alltagsromane, subtil-subversive Gedichtbände und Reiseberichte", schreibt Marko Martin. Zwei Generationen im Osten sind mit Büchern von Franz Fühmann, Benno Pludra, Ludwig Renn, Götz R. Richter, Alex Wedding oder Liselotte Welskopf-Henrich groß geworden. Bücher, die weder staatstragend noch ideologisch, sondern einfach schön und spannend zu lesen sind. "Weshalb es also schmallippig verschweigen?", fragt Martin. "Ja, es war ein Glück, mit solchen Büchern aufgewachsen zu sein."

Im gesamtdeutschen kulturellen Gedächtnis aber spielen sie kaum eine Rolle, weil dort die alte Bundesrepublik prägende Autoren und Filmemacher dominieren. So bleibt ein Fünftel der Bevölkerung, rund sechzehn Millionen Menschen, die mit diesen Werken sozialisiert wurden, praktisch ausgeschlossen. Martin, der im Frühjahr 1989 im Alter von neunzehn Jahren die DDR verließ, weil er den Kriegsdienst und die SED ihm daraufhin das Studium verweigerte, beschreibt das alles weder in einem anklagenden noch nostalgischen Ton. Vielmehr schöpft er, und das macht dieses Buch so erfrischend, aus einem überbordenden Erfahrungs- und Anekdotenschatz. Er erzählt Geschichten zur Entstehung der Werke und entreißt sie damit nicht nur dem Vergessen, sondern bringt sie vor allem aufs gesamtdeutsche Tapet. Diese Werke zeigen, was der Osten eben auch war: "Dass die faszinierendsten seiner Kulturleistungen nicht wegen des Parteiregimes oder dagegen, sondern trotz dessen strangulierender Wirkung zustande gekommen waren - als Bücher, Filme, Songs, Gemälde oder Fotografien."

In einem großen Panorama fächert Martin die Vielstimmigkeit der in Ostdeutschland entstandenen Kultur auf, kritisiert, dass sie bei der Frage der inneren Einheit bis heute kaum eine Rolle spielt, widerspricht jenen, die sie für belanglos halten, und beansprucht für sie einen Platz im heutigen Deutschland - ohne westdeutsche Pendants als Referenzrahmen. Der Kabarettist Peter Ensikat, der im Westen stets als "Hildebrandt des Ostens" vorgestellt wurde, hat mal gesagt, für ihn sei die deutsche Einheit erst vollendet, wenn Dieter Hildebrandt der "Ensikat des Westens" genannt werde. Die im Osten entstandene Kunst brauche keine Konturierung durch Abgrenzung, schreibt wiederum Martin; der Schauspieler Gojko Mitic sei ebenso wenig ein "DDR-Winnetou" wie Liselotte Welskopf-Henrich ein "Anti-Karl-May", im Gegenteil: "Als wären die eigentlichen Geschichten - Romane und Filme und das Leben derer, die damit verbunden sind - nicht bereits faszinierend genug und auf jeden Fall bigger than GDR."

Martin konzentriert sich vor allem auf die Literatur und schöpft dabei aus einem immensen Wissen. Es mag für manchen überraschend sein, aber es gab in der DDR auch ein Leben jenseits von Bevormundung und Stasi, erst recht in jenen oft mühsam abgerungenen Freiräumen für Kunst, die nicht selten Räume innerer Emigration waren. Mit beinahe kindlicher Entdeckerfreude gräbt der Autor Bücher, Schallplatten und Defa-Filme aus, schildert Lebenswege der Künstler auch in all ihrer Ambivalenz. Die Kehrseite vergisst er dabei schon aufgrund seiner eigenen Erfahrungen keineswegs, vielmehr bettet er das Thema immer wieder auch autobiographisch ein.

Martins Sympathie gehört eher Dissidenten wie Reiner Kunze, Utz Rachowski oder Günter Kunert als etwa dem populären Komponisten Günther Fischer. Der hatte den kongenialen Soundtrack zum Film "Solo Sunny" geschrieben und mit Manfred Krug umjubelte Auftritte hingelegt, bis ihn Krug nach 1990 in einem offenen Brief in der Zeitschrift "Der Spiegel" als Stasi-Zuträger entlarvte und die Freundschaft kündigte: "Du hast wohl gestaunt, was so ein bißchen Musikmachen einbringt", schrieb Krug an Fischer. "Nur daß Du auch gesungen hast, weiß bisher keiner so recht, was?"

Martin schildert das alles unvoreingenommen, und er fällt kein Urteil, sondern fragt auch mit Blick auf das eigene Erleben: "Welche Erinnerungen werden bleiben, welche Momente im Gedächtnis bewahrt?" Seine zurückhaltende Antwort, die man sich häufiger im Umgang nicht nur mit ostdeutscher Kultur, sondern in Bezug auf ostdeutsche Geschichte wünschte, lautet: "Vielleicht beginnt es ja damit, das Selbsterlebte weder ängstlich noch hochfahrend daran zu messen, ob es vermeintlich repräsentativ war." Dabei muss man gar nicht so weit gehen wie der einstige Punker Geralf Pochop, der 1987 aus politischen Gründen zu sechs Monaten Haft verurteilt worden war und im Buch resümiert: "Punk war das Beste, was uns in der DDR passieren konnte. Wir wurden diskriminiert, gejagt und willkürlich weggesperrt, trotzdem waren wir freier als alle anderen. Es war die intensivste Zeit meines Lebens."

Wie schwierig es nach wie vor ist, sich aufgrund des unterschiedlichen Erfahrungsschatzes zu verständigen, beschreibt Martin gleich eingangs anhand eines Gesprächs zwischen ost- und westdeutschen Freunden und Bekannten, die an einem See in der Berliner Umgebung auf Umweltliteratur zu sprechen kommen. Die Westler werfen "Die Wolke" von Gudrun Pausewang als ihre "Initiation" zum Thema ein, während ein Ostler Hanns Cibulka nennt, der als einer der Ersten die Umweltzerstörung in der DDR beschrieb. Ein anderer sagt, dass "Flugasche" von Monika Maron für ihn "das" Umweltbuch der DDR sei. "Hierauf", schreibt Martin, seinerzeit noch ahnungslos, wie aktuell der Fall im Herbst 2020 sein würde, "scheint nun ein westliches Fallbeil zu blinken: Aber sei ,die Maron' denn nicht inzwischen ,so rechts geworden'?" Doch stellt sich schnell heraus: "Selbst der Fragesteller hat ,nur mal irgendwie gehört, dass'." Die Runde kriegt die Kurve und endet im Konsens, der "Wir sind ja hier nicht in der Zone" lautet. Der Satz, schreibt Martin erleichtert, funktionierte an diesem Abend immerhin noch als Formel gegen jenen "deutschlandweit neorechten Sprech, nach dem man eben doch ,schon wieder meinungsmäßig in der DDR angelangt'" sei.

STEFAN LOCKE

Marko Martin: "Die verdrängte Zeit". Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens.

Tropen Verlag, Stuttgart 2020. 426 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020

Geschenke für den Kopf (Fortsetzung Seite 20)
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Das Buch des Jahres, diese Nachkriegsgeschichte des Geistes: Andersch, Heidegger, Adorno, Holthusen, Guggenheimer, Schelsky, Enzensberger, Ortega y Gasset und der eitle Sieburg, der seine Titelgeschichte im Spiegel gleich selber schreiben will. Spoiler: Man (Frau eher nicht) konnte damals vom Feuilleton leben!
Axel Schildt: Medienintellektuelle in der Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2020. 896 Seiten, 46 Euro.
EINE HILFE
Ein Reigen wie damals bei Schnitzler: Paula, Ludger, Detlev, Jorinde und die anderen. Als Dreingabe: „West und Ost waren Zeichen einer richtigen und einer falschen Lebensweise geworden.“
Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Roman. Diogenes, Zürich 2019, jetzt als Taschenbuch: 288 Seiten, 13 Euro.
EIN GENUSS
Als Begleitprogramm zu „Babylon Berlin“: Pflanzenarchitektur, Fotomalerei, Zeitungskunst und dazwischen Oskar Maria Graf, den Daumen im Hosenträger und zwei Bleistifte in der Jackentasche.
Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre. Hirmer, München 2019. 264 S., 39,90 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Die Geschichte des Guiness-Erben Tara Browne, der im Beatles-Song „A Day In the Life“ stirbt.
Paul Howard: I read the news today, oh boy. Picador, London 2016. 376 S., 18 Euro.
Reinhard J. Brembeck
EINE HILFE
...fürs Leben ist Michel Houellebecq immer, auch in dieser Textsammlung, in der er sich als sympathisch witziger Konservativer (nicht Reaktionär) feiert – gerade wenn er den französischen Staat und ein Krankenhaus anklagt, einen Wachkomapatienten letztlich umgebracht zu haben.
Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Essays. Dumont, Köln, 2020, 23 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
In diesem verpfuschten Beethoven-Jahr: die Live-Einspielung sämtlicher Streichquartette, weltumspannend aufgenommen auf allen fünf Kontinenten, und so gut wie von noch niemanden gespielt. Visionär, wild, zart, tyrannenmörderisch.
Beethoven Around the World. The Complete Stringquartets. Quatuor Ébène. Erato.
EIN GENUSS
Dieser witzige Roman von Mieko Kawakami liefert viel mehr, als sein verkaufsfördernder Machotitel verspricht: alles zwischen Hartz IV, Kapitalismus und Baby.
Mieko Kawakami: Brüste und Eier. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln, 2020. 494 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
...sind die 10370 Scholien, mit denen der radikal reaktionäre Privatgelehrte und Modernefeind Gómez Dávila (1913-1994) die ganze Welt in Aphorismen erklärt.
Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Thomas Knefeli u.a. Karolinger, Wien 2020. 920 Seiten, 48 Euro.
Susan Vahabzadeh
EIN GENUSS
Es ist nur ein schmales Bändchen, und doch öffnet Kristen Roupenian in ihrem Buch „Milkwishes“ die Fenster in drei Seelen. Es sind drei Kurzgeschichten, in denen es um Wahrnehmung und Erinnerung geht.
Kristen Roupenian: Milkwishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Vor dem wahren Genie liegt die Zukunft wie ein offenes Buch. Umberto Eco hatte solch seherische Fähigkeiten – das wird einem klar, liest man die Essays, die er in den Neunzigern geschrieben hat, beispielsweise jenes darüber, woran man einen wiederauferstehenden Faschismus erkennen wird. Er ahnte sogar, dass eine gewisse Verwirrtheit dabei im Spiel sein würde.
Umberto Eco: Der ewige Faschismus.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Hanser 2020, 80 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Filmstar Fabienne (Cathérine Deneuve) hat ihre Memoiren geschrieben, und dabei ist sie so großzügig mit den Tatsachen umgegangen, dass es ihre Tochter (Juliette Binoche) auf die Palme bringt. Hirokazu Kore-edas „La Vérité – Leben und lügen lassen“ ist komisch, rührend – und ein traumhaftes Spielfeld für zwei der ganz großen Damen des französischen Kinos.
La Vérité, mit Ethan Hawke und Ludivine Sagnier. Prokino, DVD oder Blue-ray.
Marie Schmidt
EIN LIEBESBEWEIS
Nancy Cunard, britisches Intello-It-Girl und Verlegerin der literarischen Moderne, verliebte sich 1926 in den schwarzen Pianisten Henry Crowder, war beeindruckt, was sie mit ihm erlebte und ruinierte sich nahezu durch diese Anthologie afroamerikanischer Kunst und Kultur. Hier stilvoll aktualisiert, übersetzt, bebildert.
Karl Bruckmaier (Hg.): Nancy Cunards Negro. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart.Kursbuch.edition, Hamburg 2020.227 Seiten, 24 Euro.
EIN VERMÖGEN
Eines ganzen, glamourösen, träumerischen, tragischen Lebens Geschichten, von gefühlvoll verstiegen bis parabelhaft präzise. Die kurze ist Clarice Lispectors größte Form: Diese famose Übersetzung neben Kafka ins Regal ordnen.
Clarice Lispector: Sämtliche Erzählungen. I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. II: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin, München 2019/20. 415 und 281 Seiten, je 24 Euro.
EINE HILFE
Für jeden Klassiker, den jeder schon gelesen hat, kommt der Moment, ihn auch selber zu lesen. Dieses Jahr ist es leider Zeit für Susan Sontags Gedanken, dass auch Viren keinen Sinn haben, aber trotzdem dauernd welchen produzieren.
Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Aus dem Englischen von Karin Kersten, Caroline Neubaur, Holger Fliessbach. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2003. 148 Seiten, 9,90 Euro.
Tobias Kniebe
EIN GROSSER SPASS
Die Lacher des Jahres steckten in dieser Verfilmung des halb autobiografischen Romans „How To Build A Girl“ von Caitlin Moran. Ein 16-jähriges Arbeiterklasse-Mädchen auf dem holprigen Weg zur scharfzüngigsten und lustigsten Feministin Englands. Mit Rock’n’Roll, Klassenkampf, Sex und Selbsterkenntnis. Da will man dann auch gleich die Vorlage lesen.
Johanna – Eine (un)gewöhliche Heldin. Regie Coky Giedroyc, mit Beanie Feldstein. Amazon Prime, iTunes etc., 4,99 Euro.
Caitlin Moran: All About A Girl. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson. Carl’s Books, 2015. 299 Seiten, 18,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mit diesem Buch von Ibrahim X. Kendi ergaben die ganzen wütenden Debatten über Rassismus und Cancel Culture auf einmal eine tieferen Sinn. Fast eine Autobiografie, aber nebenbei versteht man die philosophischen Grundlagen der neuen Anti-Rassismus-Diskurse, ihre Vorstellung von Macht – und warum sie aus Gründen der Kohärenz mit einem Fundamentalangriff auf das bisherige wissenschaftliche Denken einhergehen.
Ibrahim X. Kendi: How To Be An Anti-Racist. Aus dem Engl. von Alina Schmidt, btb Verlag 2020. 416 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Das Sortieren von Dingen in die wunderschönen, nachhaltig produzierten Ordner und Folder der Mappenmanufaktur hat im Lockdown für jene innere Klarheit gesorgt, die man sich von Kunst oft wünscht. Mappenmanufaktur.com
Andrian Kreye
EIN GENUSS
In einem normalen Jahr wäre der südafrikanische Jazz-Pianist Nduduzo Makhathini live mit seinen Band-Ritualen, hymnischen Harmonien und frenetischen Improvisationen ein Star geworden. Sein erstes internationales Album ist der Beweis.
Nduduzo Makhathini: Modes of Communication. Blue Note, CD ca. 15 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Ella Fitzgeralds Grundeinstellung war bis ins Alter „frisch verliebt“. Nicht im Backfischmodus des Pop in Jungs. Ins Leben, in die Musik. Und in Berlin. Das Live-Album, das die Sängerin dort 1960 aufnahm war ein Höhepunkt. Zwei Jahre später kam sie wieder. Die Aufnahme, die nun von diesem Abend herauskam gehört zum Bestgelaunten in der Geschichte des Jazz.
Ella Fitzgerald: The Lost Berlin Tapes. Verve, CD ca. 16, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Liebreiz und Streichersätze sind im Jazz eine Zumutung. Auch Gitarrist Pat Metheny hat damit Schindluder getrieben. Doch diesmal gelingt ihm damit Ultra-Ästhetik.
Pat Metheny: From This Place. Nonesuch, CD ca. 14, Vinyl ca. 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Fünfzig Jahre vor Black Lives Matter inspirierte Martin Luther King Herbie Hancock zu einem „politischen Statement aus Musik“ mit coolem Jazz-Nonett. Das gibt es nun als audiophile Neuauflage in der wunderbaren „Tone Poet“-Serie auf Vinyl.
Herbie Hancock: The Prisoner. Blue Note, Vinyl ca. 35 Euro.
Alex Rühle
EINE HERAUSFORDERUNG
Romane, die versuchen, den Klimawandel zu thematisieren, läppern sich meist zu Parsprotode – wie soll eine einzige Geschichte ein derart globales Problemkonglomerat veranschaulichen? John Freeman hat stattdessen 43 Autorinnen und Autoren gebeten, Essays, Erzählungen, Reportagen aus ihren jeweiligen Weltgegenden zu schreiben. Margaret Atwood schickt ein dystopisches Gedicht aus Kanada, in dem plötzlich extrem trockene Sommer die Ernten zu Staub verwandeln. Burundi, Island, Haiti, Nigeria. Laurent Goff, Sjón, Gaël Faye. Alle spüren sie längst den Wandel, und die kondensierten, jeweils lokal verortbaren Texte ergeben das Mosaik eines riesigen, winzigen blauen Tropfens Erde, der viel zu fragil für die Pandemie namens Mensch ist.
Tales of two Planets, hg. v. John Freeman. Penguin, London. 320 Seiten, 11,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Eine Kulturgeschichte der DDR, kundig und witzig, immer auf Seiten der Verdrängten, Verstummten, mit Blick fürs Skurrile (der Starindianer Gojko Mitić) wie Tragische. Selten so viele Namen notiert, die man jetzt aber unbedingt mal lesen muss: Erich Arendt. Chaim Noll. Oh, und die Gedichte von Inge Müller! Schatzkarte und Reiseführer in eine untergegangene Welt, zugleich ein Antidot gegen Ostalgie und die „Täternähe der deutschen Innerlichkeit“ (Hans Sahl).
Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens. Tropen, Berlin 2020. 426 Seiten, 24 Euro.
Felix Stephan
EIN LIEBESBEWEIS
Von Europa als Idee ist oft die Rede, von Europa als ménage à trois aber nur hier: Orlando Figes erzählt anhand dreier Biografien vom Urknall der Moderne als genuin europäischer Angelegenheit. Die Opernsängerin Pauline Viardot, ihren Ehemann Louis Viardot und Turgeniew gründen Europa gewissermaßen nebenbei.
Orlando Figes: Die Europäer. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin, Berlin 2020. 640 Seiten, 34 Euro.
EIN GENUSS
War Flaubert der größte Romancier aller Zeiten? Die Antwort ist womöglich hier zu finden, in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Éducation sentimentale“.
Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2020, 800 Seiten, 42 Euro.
EINE HILFE
Apropos „Lehrjahre der Männlichkeit“: Niemand schreibt derzeit so erhellend über sein Leben als Mann wie der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner.
Ben Lerner: Die Topeka Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp, Berlin 2020. 395 Seiten, 24 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
An den Skandal, dass die Gedichte von Elke Erb jahrelang praktisch vergriffen waren, hatte man sich fast gewöhnt. Jetzt gibt es endlich eine neue Sammlung.
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020. 210 Seiten, 20 Euro.
Claudia Tieschky
EIN LIEBESBEWEIS
Keiner kann ständig kochen. Gegen den Entzug hilft lesen. Bill Buford, früher Redakteur beim New Yorker, der 2006 seine Abenteuer als Küchen-Picaro in Italien („Hitze“) niederschrieb, zieht nun in „Dreck“ aus, um die französische Küche zu verstehen. Man könnte natürlich auch Alexandre Dumas’ irres „Wörterbuch der Kochkunst“ von 1873 lesen. Aber Bufords Mischung aus Erfahrungsgier und Snobismus ist amüsanter – und perfekt wiedergegeben übrigens in der Stimme von Wiglaf Droste, der „Hitze“ als Hörbuch einsprach.
Bill Buford: Dreck. Übersetzung von Sabine Hübner, Hanser. München 2020. 511 Seiten, 26 Euro. und Bill Buford: Hitze, gekürzte Lesung mit Wiglaf Droste, Hörverlag, München 2008. 4h 5min, 13,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses elegante, kalte Leben schreibender Großstädter der vordigitalen Zeit, erzählt im Jahr 1976 in umwerfend lakonischen Skizzen und Fragmenten. Dazwischen eine erinnerte Emigranten-Vergangenheit. Kann man bei klarstem Verstand irrlichtern, sich in ein anderes Foto von sich selbst denken? Aber ja.
Renata Adler: Rennboot. Aus dem Englischen von Marianne Frisch. Suhrkamp, Berlin 2014. 241 Seiten, 19,95 Euro.
EIN GENUSS
Glenn Gould: So you want to write a fugue? Sozusagen eine Anleitung zum Selbermachen. Weihnachtsmusik für dysfunktionale Zeiten: https://www.youtube.com/watch?v=HkxU6LdSGdY
Alexander Gorkow
EINE WIEDERENTDECKUNG
19 Jahre währte die Liebe zwischen Nadeschda und Ossip Mandelstam unter dem Terror Stalins, bis der Dichter in Sibirien starb. Die neue Übersetzung der „Erinnerungen“ Nadeschda Mandelstams durch Ursula Keller ist ein Schatz; er zeigt die Autorin in der Beobachtung der Schergen und Schleimer als große Reporterin. Nichts bleibt verborgen, auch nicht die mitunter im Schrecken zuckende Komik.
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 785 S., 44 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.“ Schmerzhaft, schön und klar erklärt Annie Ernaux in „Die Jahre“ das Wesen des Memoirs. Im nun nachgereichten Band „Die Scham“ glänzt Ernaux erneut in großer, genauer Lakonie.
Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 111 Seiten, 18 Euro.
EIN GENUSS
50 grandiose Miniaturen zur deutschen Dichtkunst; luzide, respektlos, immer wieder auch schwer zum Piepen. Die Zielgruppe ist gewaltig: Wer meint, nicht nur gerne zu lesen, sondern auch gut zu schreiben, sollte sich in dieses Buch versenken. #supportyourlocalbookstore
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur, Rowohlt, 650 Seiten, 34 Euro.
Sonja Zekri
EINE WIEDERENTDECKUNG
Burhan Qurbani verlegt den Fall des Franz Biberkopf als Flüchtlingsdrama in den Drogenkiez der Hasenheide. Drei Stunden dauert der Trip aus Farben, Musik und Männerliebe. Über allem: Albrecht Schuch als Reinhold, ein Psychopath mit Laktoseintoleranz.
„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani, DVD (Universal).
EIN AUFREGER
Zwanglos über Kannibalismus schreiben? Geht, die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata macht es vor. „Das Seidenraupenzimmer“ ist eine entgleiste Reise in die Kindheit und die Suche nach dem utopischen Ort Pohapipinpopopia.
Sayaka Murata: Das Seidenraupenzimmer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro.
EIN GENUSS
Ein Buch über Lotto, Südsee, Zucker, kurz, über das Begehren. Dorothee Elmiger fügt Literatur, Kino und Geschichte zu einem sinnlichen Tagtraum zusammen.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser, München 2020. 272 S., 23 Euro.
EINE HILFE:
So hängt das also alles zusammen: globales Geld und Häuserkampf, Rendite und Entmietungsschikane. Wolfgang Schorlaus Ermittler trifft in Berlin unter anderem auf eindrucksvolle Kleinsäugetiere.
Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 416 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»In einem großen Panorama fächert Martin die Vielstimmigkeit der in Ostdeutschland entstandenen Kultur auf, kritisiert, dass sie bei der Frage der inneren Einheit bis heute kaum eine Rolle spielt, widerspricht jenen, die sie für belanglos halten, und beansprucht für sie einen Platz im heutigen Deutschland - ohne westdeutsche Pendants als Referenzrahmen.« Stefan Locke, FAZ, 04. November 2020 Stefan Locke FAZ 20201104