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Nach 13 Jahren Großer Koalition wird klar, dass sich neben der Sozialdemokratie auch der Konservatismus und seine traditionelle politische Heimat, die CDU, in einer tiefen Identitätskrise befinden. Das zeigen nicht zuletzt das Aufkommen der AfD und ministeriale Revolutionsaufrufe gegen die vermeintliche liberale Kulturhegemonie. Erstaunlicherweise waren schon bei der Wahl der schwarz-gelben Kohl-Regierung 1983 ähnliche Töne zu hören: Gegen die Vorherrschaft der 68er-Ideen sollte eine »geistig-moralische Wende« dem Konservatismus wieder zu seiner rechtmäßigen Stellung verhelfen. Doch während…mehr

Produktbeschreibung
Nach 13 Jahren Großer Koalition wird klar, dass sich neben der Sozialdemokratie auch der Konservatismus und seine traditionelle politische Heimat, die CDU, in einer tiefen Identitätskrise befinden. Das zeigen nicht zuletzt das Aufkommen der AfD und ministeriale Revolutionsaufrufe gegen die vermeintliche liberale Kulturhegemonie. Erstaunlicherweise waren schon bei der Wahl der schwarz-gelben Kohl-Regierung 1983 ähnliche Töne zu hören: Gegen die Vorherrschaft der 68er-Ideen sollte eine »geistig-moralische Wende« dem Konservatismus wieder zu seiner rechtmäßigen Stellung verhelfen. Doch während zur gleichen Zeit Reagan und Thatcher die Gesellschaft nachhaltig umgestalteten, ist der geistig-moralische Aufbruch hierzulande fast völlig vergessen; grundlegende Strukturreformen blieben den rot-grünen Nachfolgern überlassen. Doch warum? In seiner Untersuchung der Erschöpfung des Konservatismus unternimmt Thomas Biebricher eine Reise in das politisch-kulturelle Klima der letzten Jahre der alten Bundesrepublik und der Wendezeit und beschreibt die wachsende Orientierungslosigkeit zwischen Neue Rechte und Neoliberalismus. Auf diese Weise erzählt er zugleich die Vorgeschichte des Zerfalls unseres klassischen politischen Koordinatensystems, dessen Zeugen wir heute werden.
Autorenporträt
Biebricher, ThomasThomas Biebricher, 1974 geboren, ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie. Nach seiner Promotion in Freiburg war er sechs Jahre als DAAD-Dozent an der University of Florida tätig, bevor er 2009 als Nachwuchsgruppenleiter an den Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen der Frankfurter Goethe-Universitat wechselte. In seinen Forschungsarbeiten beschäftigt sich Biebricher mit Fragen poststrukturalistischer und kritischer Theorie; in den letzten Jahren galt seine Aufmerksamkeit insbesondere einer kritischen Analyse neoliberaler Theorie und Praxis. Sein Neoliberalismus zur Einführung (Junius) erscheint 2018 in dritter erweiterter Auflage.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.01.2019

Es war einmal
Thomas Biebricher zeichnet präzise den Niedergang des deutschen Konservatismus nach.
Dies hat mit der Weltanschauung selbst zu tun, aber auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen.
Das birgt durchaus Gefahren
VON ISABELL TROMMER
Als Helmut Kohl am 13. Oktober 1982 seine erste Regierungserklärung hält, malt er ein Land in einer umfassenden Krise: Wachstumskrise, Beschäftigungskrise, Staatsfinanzkrise. In dieser Situation sei ein historischer Neuanfang nötig, der sich nicht in wirtschaftspolitischen Maßnahmen erschöpfen könne. „Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes“ seien gefragt. Er beschwört eine Koalition der Mitte; Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung müssten sich entfalten: „Wir vertrauen auf den Bürger, der seine Zukunft in seine Hände nimmt.“ Die Sozialpolitik hingegen brauche eine Atempause.
Helmut Kohl war lange an der Macht. Die „geistig-moralische Wende“ gilt als ein, wenn nicht das Motto seiner Kanzlerschaft. Auch wenn sie in seiner Erklärung nicht wörtlich auftaucht, war sie doch gegenwärtig. Sei die Tugendwende erst einmal geschafft, sei auch die ökonomische Wende nicht mehr fern. Er wollte den mit Wirtschaftswunder und Wiederaufbau verbundenen Geist von 1948, so deutet der Politologe Thomas Biebricher den Kanzler, gegen den Geist von 1968 mobilisieren. Da unklar blieb, was genau unter einer solchen Wende zu verstehen sei, weiß niemand zu sagen, ob sie stattgefunden hat. In jedem Fall kam Kohl so der konservativen Wählerschaft entgegen.
Biebricher befasst sich in seinem Buch „Geistig-moralische Wende“ mit dem deutschen Konservatismus seit den frühen Achtzigerjahren. Dabei verbindet er Parteien- mit politischer Ideengeschichte. Er untersucht sowohl die Politik der CDU von Kohl bis Merkel als auch das konservative Denken der Bundesrepublik. Zunächst aber setzt er bei Edmund Burke an, dem Stammvater des Konservatismus, der angesichts der Französischen Revolution die „natürliche Ordnung“, einen hierarchischen Gesellschaftsaufbau und die stabilisierende Kraft der Kirche hochhielt.
Der deutsche Konservatismus habe sich, so Biebrichers These, erschöpft. Seine inhaltliche Unbestimmtheit lasse sich dabei nicht, wie oft zu hören ist, allein auf die Person Angela Merkel (den Atomausstieg oder das Ende der Wehrpflicht) zurückführen, die Auszehrung habe vielmehr in den Achtzigern begonnen. Eine „Sozialdemokratisierung“ der Union und mangelnder Reformwille wurden bereits damals beklagt. Wie so vieles hat auch dieses Lamento seine Tradition.
Ein Teil des Problems liegt laut Biebricher in der Weltanschauung selbst begründet. Der Konservatismus konkretisiere sich in dem Moment, in dem er herausgefordert werde. Sein Anliegen sei recht kompliziert: in einer sich wandelenden Welt den Status quo zu bewahren. Im Grunde komme der Konservatismus immer zu spät. Er wolle das Bestehende retten, wenn es im Vergehen begriffen sei. Biebricher unterscheidet dabei zwei Dimensionen des Konservatismus, die sich in der Realität vermengen: Dem substanziellen Pol sei an der Verteidigung einer bestimmten Ordnung gelegen, der prozedurale erkenne den Wandel als unvermeidlich an, wolle ihn lediglich moderierend gestalten.
Kaum eine andere Partei ist so stark vom Wechselspiel zwischen Modernisierung und Tradition geprägt wie die CDU. Man wollte den Fortschritt, um dann kulturpessimistisch über die gesellschaftlichen Folgen zu klagen. Der Konservatismus der Achtziger habe zwar, so Biebricher, die Geschichte beschworen und Symbolpolitik betrieben, entscheidend sei aber gewesen, dass er sich endgültig „zum Anwalt der Modernisierung“ aufschwang.
Auch Kohl galt einmal als frischer Wind. Bevor die Rede vom Reformstau aufkam, war er der Reformer. Tatsächlich hatte er die CDU zu einer Mitgliederpartei gemacht. Zu Beginn der Achtziger war die Stimmung dann trüb. Die Ölkrisen wirkten nach, Strukturwandel, Waldsterben und Zukunftssorgen, Sicherheitsfragen, Debatten über die „Ausländerpolitik“ und eine Fülle an Skandalen prägten die Zeit.
Mit der Fiskalpolitik der sozial-liberalen Vorgängerkoalition habe Kohl, wie der Autor zeigt, nicht grundsätzlich gebrochen. Er verband, könnte man hinzufügen, Wertkonservatismus mit einer optimistischen Technik- und Zukunftsorientierung. Programmarbeit war nie die Königsdisziplin der CDU, und Kohls aufs Persönliche setzende Führung war nicht dazu angetan, das zu ändern. So senkte er zwar die Staatsquote und tat etwas für die Familien, eine Steuerreform kam dazu. Dennoch wirkte die Partei wirtschaftspolitisch unentschlossen. Der konservative Flügel war Mitte der Achtziger enttäuscht von der Regierungspolitik. Und auch konservative Intellektuelle beschwerten sich bald: Der Philosoph Günter Rohrmoser erklärte die Politik der „Wende“ 1984 für gescheitert.
In den späten Achtzigern geriet Kohls Kanzlerschaft in die Krise. Das Nebeneinander von altem Rechtskonservatismus (Dregger, Lummer, Jäger) und neuem Reformkonservatismus (Süssmuth, Geißler, Biedenkopf) gelangte an sein Ende. Eine andere Wende, die Wiedervereinigung, kam Kohl zur Hilfe und schon bald setzte die nachholende Neoliberalisierung der Christdemokratie ein. Den Höhepunkt erreichte sie unter Merkel auf dem Leipziger Parteitag 2003.
Biebricher macht deutlich, dass die Erschöpfung konservativer Positionen auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun hat: der Liberalisierung, der Entfremdung von zivilgesellschaftlichen Verbündeten wie den Kirchen, dem Verschwinden einst integrativ wirkender Feindbilder, dem Bedeutungsverlust konservativer Intellektueller. Während neokonservative Denker wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, die sich für institutionelle Stabilität und staatliche Autorität einsetzten, einst in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielten, sind solche Wortmeldungen seit Mitte der Neunziger kaum mehr zu vernehmen. Der intellektuelle Neokonservatismus war vielgestaltig. Auffällig ist, dass neben Klagen über Werteverfall und Fortschritt seit den Sechzigern Positionen an Bedeutung gewannen, die die Frontstellung gegenüber der Technik räumten. Weniger ambivalent als Vertreter eines technokratischen Konservatismus verkündete Kohl 1982, er wolle der „Anwendung moderner Techniken“ den Weg freigeben.
Wer sich Wachstum und dynamisches Unternehmertum auf die Fahnen schreibt, muss mit Auswirkungen auf traditionelle Lebensmodelle rechnen. Die Veränderung der Welt, wie der Konservatismus sie einst kannte, ließ eine auf Familie, Religion und Hierarchien setzende Ideologie an Plausibilität verlieren.
Heute scheint die Haushaltsdisziplin der letzte gemeinsame Nenner der Unionsparteien zu sein – hier sei Kohls Moralisierung des Ökonomischen erfolgreich gewesen, wie Biebricher resümiert. Solides Krisenmanagement sei nun ihr Markenkern. Wo der Konservativismus sich nicht erschöpft habe, sei er verflacht oder wirke aufgesetzt; das zeigt Biebricher am Beispiel von Jens Spahn. Nun könne die CDU den Weg eines prozedural verengten Liberalismus weiterverfolgen, ja zuspitzen und sich ganz der postideologischen Moderation verschreiben. Das habe aber auch Tücken: Ein zum Management verkommener politischer Betrieb könne die Menschen nicht an sich binden. Für die Demokratie sei das folgenschwer, und der AfD könne das zu weiterem Aufschwung verhelfen.
Thomas Biebricher verbindet in diesem Buch klug und elegant Zeit- mit politischer Ideengeschichte. Der größte Vorzug liegt darin, dass er auf Kontinuitäten und langfristige Entwicklungen verweist, die in der Hitze gegenwärtiger Debatten in Vergessenheit geraten sind. Nicht alles war schon einmal da und nicht alles folgt den gleichen Mustern – dennoch: Der unaufgeregte und lange Blick erstellt ein präzises Bild der Lage und ihrer Vorgeschichte.
Das macht dieses Buch so brisant. Nicht nur, wer mal konservativ war, es ist oder vorhat, es zu werden, sollte es lesen.
Angela Merkel, ist oft zu hören,
sei schuld an der Entkernung.
Doch das stimmt so nicht
Die Haushaltsdisziplin scheint
der letzte gemeinsame Nenner
der Unionsparteien zu sein
Macht den Weg frei: Angela Merkel gab im Dezember ihr Amt als CDU-Vorsitzende ab, nach 18 Jahren.
Foto: Regina Schmeken
Thomas Biebricher:
Geistig-moralische
Wende. Die Erschöpfung des deutschen
Konservatismus.
Matthes & Seitz,
Berlin 2018.
320 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Klug und elegant sieht Isabell Trommer von Thomas Biebricher Zeit- und Ideengeschichte verbunden, wenn der Politikwissenschaftler den Niedergang des Konservatismus nachzeichnet. Dessen Erschöpfung, erfährt die Rezensentin aus dem Buch, habe lange vor Angela Merkel eingesetzt, nämlich schon unter Helmut Kohl, auch wenn dieser bekanntlich die geistig-moralische Wende einleiten wollte. Doch nicht nur der Sieg der Reformkonservativen Kräfte um Rita Süßmuth und Heiner Geißler über die rechtskonservativen Haudegen wie Alfred Dregger und Heinrich Lummer in den achtziger Jahren, sondern auch wegen eines immanenten Widerspruchs konservativer Wirtschaftspolitik. Wer den technologischen und ökonomischen Wandel wolle, müsse sich nicht über Folgen für Familie und Tradition wundern. Da kann Trommer nicht widersprechen. Treffend findet sie auch, dass Biebricher an der Person von Jens Spahn ausmacht, dass der Konservatismus in der Union nur noch verflacht oder aufgesetzt wirke.

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