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1977 erreichte der Linksterrorrismus der Roten Armee Fraktion in der Bundesrepublik eine bislang unbekannte Dimension. Mit den Morden an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung des Passagierflugzeugs »Landshut« tritt eine zweite, zu äußerster Brutalität entschlossene Generation der RAF auf den Plan. Zugleich setzt mit den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim die erste Generation einen die Republik erschütternden Schlusspunkt. Vor dem Hintergrund der…mehr

Produktbeschreibung
1977 erreichte der Linksterrorrismus der Roten Armee Fraktion in der Bundesrepublik eine bislang unbekannte Dimension. Mit den Morden an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung des Passagierflugzeugs »Landshut« tritt eine zweite, zu äußerster Brutalität entschlossene Generation der RAF auf den Plan. Zugleich setzt mit den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim die erste Generation einen die Republik erschütternden Schlusspunkt. Vor dem Hintergrund der Entstehung der Terrororganisiation und mit Blick auf die weiteren Anschläge bis zur Selbstauflösung erzählt Butz Peters die dramatischen Ereignisse des Schlüsseljahres 1977.
Die packende Geschichte, die Butz Peters in diesem Buch erzählt, endet nicht mit dem Jahr 1977, sondern reicht bis in unsere Zeit hinein: Erst im Lauf der Jahrzehnte stellte sich heraus, was damals tatsächlich geschah.Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vierzig Jahren die Justiz, und noch nie war die Quellenlage so gut wie heute. Grundlage für dieses Buch sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente: Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und -Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen sowie Publikationen. Auch die RAF-Stasi-Verbindung ab Ende Juli 1980 wird durchleuchtet. Aus vielen Mosaiksteinen ergibt sich so ein genaues Bild der Ereignisse von 1977, die die Geschichte der Bundesrepublik bis heute prägen.
Autorenporträt
Butz Peters, geboren 1958, ist Publizist und Rechtsanwalt und einer der führenden Experten zur Geschichte der Roten Armee Fraktion. Er war Leiter des Ressorts Rechtspolitik beim NDR, Moderator der Sendung »Aktenzeichen XY ... ungelöst« und schrieb drei Bestseller über die RAF. Nun hat er für das Porträt des deutschen Schicksalsjahres 1977 mit Zeitzeugen gesprochen und Zehntausende Seiten Quellenmaterial, teilweise erst seit Kurzem zugänglich, ausgewertet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2017

Zu viel über Täter, zu wenig über Opfer
Butz Peters schildert den Terrorismus der "Roten Armee Fraktion" im Jahr 1977

Das Jahr 1977 ging als Jahr des Linksterrorismus in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Die Chiffre "Deutscher Herbst" verweist dabei nur auf einen Teil der Ereignisse. Anlässlich des 40. Jahrestages dieser Terrorwelle hat der Journalist Butz Peters in seinem neues Buch "1977. RAF gegen Bundesrepublik" einen Überblick vorgelegt, in dem er die Verbrechen dieser linksterroristischen Gruppierung vorstellt.

Am Gründonnerstag ermordete die RAF in Karlsruhe Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster. Am 28. April 1977 wurden in Stuttgart-Stammheim führende Mitglieder der ersten Generation der "Roten Armee Fraktion" nach einem Rechtsgeschichte schreibenden und von Skandalen überschatteten Verfahren zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Am 30. Juli 1977 ermordete im hessischen Oberursel ein RAF-Kommando den Chef der Dresdner Bank Jürgen Ponto. Am 25. August überwältigten RAF-Terroristen in Karlsruhe ein Künstlerehepaar und versuchten, mit einer Art selbstgebautem Raketenwerfer einen Gebäudetrakt der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe anzugreifen. Am 5. September ermordete in Köln ein Terrorkommando die Begleiter des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und kidnappten den Wirtschaftsführer, um inhaftierte Linksterroristen freizupressen.

Da zwei Jahre zuvor ein Tausch Geisel gegen Häftlinge nicht zu einem Ende der Gewalt, sondern zu neuem Terror geführt hatte, entschied sich die Bundesregierung im Einvernehmen mit der politischen Opposition dafür, sich nicht erpressen zu lassen. Schließlich entführte die Volksfront zur Befreiung Palästinas zur Unterstützung der RAF-Forderungen und auf Wunsch der befreundeten westdeutschen Linksterroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut". Die palästinensischen Flugzeugentführer erschossen den Piloten der Maschine, bevor die bundesrepublikanische Antiterroreinheit GSG 9 auf dem Flughafen in Mogadischu die übrigen Geiseln befreien konnte. Als Reaktion darauf brachten sich in Stuttgart-Stammheim inhaftierte Mitglieder der Führungsriege der ersten Generation der RAF selbst um. Die Versuche der zweiten Generation der RAF, die Stammheim-Häftlinge mit Gewalt zu befreien, waren gescheitert. Die Linksterroristen ermordeten daraufhin den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.

Was wann wie passierte, rekonstruiert Butz Peters chronologisch durch das Jahr 1977 schreitend mit kurzen, erklärenden Rückgriffen und Ausblicken. Dabei stützt er sich vor allem auf die Unterlagen und Urteile zahlreicher Gerichtsverfahren. Peters Darstellung ist jedoch weit entfernt von Form und Duktus juristischer Texte. Vielmehr entwirft der Autor ein Kaleidoskop von Kurzreportagen, in denen er je einen inhaltlichen Aspekt thematisiert. So stellt er auch die Biographien der jeweils Handelnden kurz vor. Extremer Detailreichtum und Sprache erinnern den Rezensenten an manchen Stellen eher an einen Kriminalroman als an ein Sachbuch. Eine Reihe von Formulierungen erscheinen doch als dem Thema nicht angemessen, etwa wenn Peters die Terroristin Susanne Albrecht als "schusselige Heulsuse" bezeichnet.

Der Verdienst von Peters ist es, die Erkenntnisse über die damaligen Ereignisse, die Ermittlungsbehörden und Gerichte in vier Jahrzehnten zusammengetragen haben und die Zehntausende Seiten von Dokumenten füllen, in leicht lesbarer Form zu präsentieren. Dies bedurfte eines großen Rechercheaufwandes. Peters widerlegt damit implizit und oft explizit zahlreiche, in der Öffentlichkeit teilweise bis heute kursierende Fehldeutungen, ja Geschichtslügen zu den Ereignissen. Die Stärken dieses Ansatzes bedingen jedoch auch die Schwächen der Darstellung. Denn der gelernte Jurist Peters bleibt im Wesentlichen in den Denkschemata juristischer Wahrheitsfindung gefangen.

Die Geschichte der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, aber auch der Umgang mit dem SBZ/DDR-Unrecht haben deutlich gemacht, dass der juristische Blick auf die Geschichte klare Grenzen aufweist, zielt er doch auf den gerichtsfesten Nachweis strafrechtlich definierter Schuld einzelner lebender Individuen ab. Die zeithistorische Erforschung der entsprechenden Verbrechen führte (und führt) durch eine systematische Kontextualisierung der Taten, durch die Bestimmung von Handlungsspielräumen und durch die Herausarbeitung von gesellschaftlichen Prozessen und die Analyse der Rolle von Institutionen zu einem tieferen Verständnis etwa des Nationalsozialismus oder der DDR, zumal die Historiker auf vielfältigere Weise als Juristen Plausibilitäten nachweisen dürfen. In Peters' Buch schlagen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in den vergangenen Jahren Zeithistoriker und zeithistorisch arbeitende Soziologen und Politologen gewonnen haben, allenfalls punktuell nieder.

Den roten Faden der Darstellung von Peters, die in weiten Passagen täterfixiert ist, prägen sie nicht. So erscheinen bei Peters Ermittler als Antipoden der Terroristen und die zahlreichen Opfer werden nur kurz erwähnt. Dass auch der RAF-Terrorismus ein historisches Phänomen ist, das gesamtgesellschaftlich zu verstehen und zu interpretieren ist, dass die Terroristen mit zahlreichen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in Bezug zu setzen sind, das scheint bei Peters nur am Rande durch. Entsprechend der Perspektive der Gerichtsurteile werden etwa die Sympathisantenkreise für Peters erst dann interessant, wenn Sympathisanten Hilfe, Beihilfe zur Tat oder Tatverdunkelung leisten oder wenn aus Sympathisanten Terroristen werden.

Viel zu kurz kommt ferner das für jede Form des Terrorismus zentrale Thema mediale Öffentlichkeit(en). Das Kurzkapitel zur Nachrichtenpolitik im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung kann dieses Manko nicht kompensieren. Die Zeitgeschichtsforschung hat bei ihrem Blick auf den RAF-Terrorismus der 1970er Jahre den zeitgenössischen Vorstellungen von innerer Sicherheit und den Versuchen, Bedürfnisse nach Sicherheit und freiheitliche Grundrechte auszutarieren, viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dies sind nicht nur (bis heute) zentrale politische Themen, wie Folgen von globalen Migrationsbewegungen und islamistischer Terror uns tagtäglich zeigen.

In der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der RAF, insbesondere im Jahr 1977, wurden zahlreiche Grundlagen für unser heutiges Reagieren auf gegenwärtige Herausforderungen neu geschaffen oder weiterentwickelt. Doch leider bestimmen solche Aspekte nicht die Darstellung von Peters, sondern scheinen nur immer punktuell auf. So bleibt zu konstatieren, dass Peters zwar eine teilweise fast spannend zu lesende chronologische Darstellung des RAF-Terrorismus im Jahr 1977 geschrieben hat. Eine umfassende, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung des bundesrepublikanischen Linksterrorismus und seiner Einbettung in die jüngste Zeitgeschichte ist jedoch noch zu schreiben.

CHRISTOPHER DOWE

Butz Peters: 1977. RAF gegen Bundesrepublik. Droemer Verlag, München 2017. 576 S., 26,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2017

Die Bitternis der Staatsräson
Vor 40 Jahren trieb die Rote-Armee-Fraktion die Republik in einen dramatischen Kampf. Die Politik siegte. Doch um welchen Preis?
Anne Ameri-Siemens und Butz Peters beleuchten den Deutschen Herbst und seine Akteure – und finden viele, die das Geschehene bis heute verfolgt
VON TANJEV SCHULTZ
Das Erschreckende am Terrorismus ist nicht nur seine eigene Brutalität. Oft verführt er auch seine Opfer und Gegner zu unverhältnismäßigen Reaktionen, bis hin zur Barbarei. Guantanamo und die CIA-Folter sind Beispiele dafür. Die Erosion von Freiheitsrechten und Rechtsstaatlichkeit geschieht manchmal schleichend. Dann wird Schritt für Schritt der Datenschutz aufgeweicht, und „Gefährder“ sollen, obwohl keiner Tat überführt, auf unbegrenzte Zeit weggesperrt werden. Ein vermeintlich starker Staat macht die Bürgerrechte klein.
Es ist lehrreich, frühere Fälle zu studieren, in denen Terroristen den Staat herausforderten. In diesem Jahr jährt sich zum 40. Mal der Deutsche Herbst: 1977 trieb die Rote-Armee-Fraktion (RAF) die Bundesrepublik in einen dramatischen Kampf. Daran zu erinnern, ist mehr als nur eine zeithistorische Pflichtübung. Die Geschichte der RAF, das zeigen Neuerscheinungen zum Thema, ist noch immer brisant und bedrückend. Im Zentrum immer die Frage: Wie weit muss, wie weit darf der Staat im Kampf gegen den Terror gehen?
Butz Peters führt in einer lesenswerten Monografie die Gedankenspiele auf, die der Krisenstab anstellte, als die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer als Geisel hielt. Bundeskanzler Helmut Schmidt bat seine Berater auch um unkonventionelle Vorschläge. Dazu gehörten die Einführung der Todesstrafe für Terroristen und Drohungen gegen deren Familien. Hans-Jochen Vogel, damals Justizminister, wies solche Überlegungen zurück und rief zur verfassungsmäßigen Ordnung. Der Staat durfte das Recht nicht suspendieren.
Wie Schmidt trug indes auch Vogel die Linie mit, Stärke zu zeigen und unnachgiebig zu bleiben gegen die Forderungen der RAF, die ihre in Stammheim inhaftierten Mitglieder freipressen wollte. Die GSG 9 erstürmte in Mogadischu die entführte Lufthansa-Maschine Landshut und befreite die Passagiere. Die Stammheim-Häftlinge begingen Suizid, und die Terroristen ermordeten Hanns Martin Schleyer. Bei einem Staatsakt saß Helmut Schmidt neben Schleyers Witwe, die Hand im nicht endenden Entsetzen vor den Mund gelegt oder die Nasenwurzel greifend – ein Bild, das noch heute jeden ergreift, der ein Herz hat.
Peters erzählt ebenso sachlich wie eindringlich die Geschichte des Terrorjahres 1977. Er zeigt, wie die Lage vom Frühling bis in den Herbst eskalierte, sodass viele die Bundesrepublik in einem Ausnahmezustand wähnten, der besondere Mittel und besondere Härte verlangte. Im Bonner Regierungsviertel sah es zeitweise aus wie in einem Krieg. Gepanzerte Fahrzeuge blockierten die Straßen, Politiker verbargen sich hinter Sandsäcken und Stacheldraht. Die „Ouvertüre“ des Deutschen Herbsts, wie Peters es nennt, begann im Frühjahr, am Gründonnerstag. Die RAF ermordete Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter, und mit einem Schlag beherrschten die linken Terroristen die Agenda des Landes.
Das Buch hält sich zurück mit zugespitzten Thesen oder Theorien, es widersteht der Versuchung, den dramatischen Stoff zusätzlich zu dramatisieren. Es vertraut auf gesicherte Fakten und die vielen Gerichtsentscheidungen zum Thema. Kühl begegnet der Autor den Legenden und Verschwörungstheorien, die unter anderem zu den Haftbedingungen und den Selbstmorden der RAF-Mitglieder kursieren.
Peters, Rechtsanwalt und Publizist, hat schon mehrere Bücher über die RAF geschrieben, das neue nimmt Erkenntnisse und Entwicklungen der vergangenen Jahre auf, beispielsweise den Prozess um die Ex-Terroristin Verena Becker. Die RAF-Geschichte ist mittlerweile schon recht gut ausgeleuchtet, dennoch liegt manches weiterhin im Dunkeln. Die Wahrheitssuche war und bleibt schwierig. Frühere RAF-Mitglieder, die etwas wissen und sagen könnten, schweigen beharrlich oder reden, wie Peter-Jürgen Boock, mit zweifelhafter Glaubwürdigkeit. Boock selbst fasste die Situation einmal so zusammen: „Wir waren es, die von unseren Eltern Auskunft gefordert hatten über die NS-Zeit. Mir ist aufgefallen, dass wir mit unserer verkorksten Geschichte dasselbe machen, nämlich nichts sagen oder etwas Falsches sagen.“
Es sind solche Zitate und Passagen, die dem Leser immer wieder die Verstiegenheit und die Jämmerlichkeit der RAF vor Augen führen. Zugleich hütet sich Peters vor zu einfachen Urteilen und Verurteilungen. Er nennt das Auskunftsverweigerungsrecht, das den Ex-Terroristen ihr Schweigen ermöglicht, einen „Segen des Rechtsstaats“. Diesen Rechtsstaat wollten die Terroristen beseitigen – und dennoch oder gerade deshalb muss er ihnen nun die Rechte gewähren, die ihn auszeichnen.
Das Buch enthält biografische Skizzen, es zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Persönlichkeiten der Täter – und es eignet sich damit auch gut für Leser, die sich erstmals näher mit der Geschichte der RAF auseinandersetzen möchten.
Das gilt genauso für das neue Buch von Anne Ameri-Siemens. Vor zehn Jahren hat sie eine viel beachtete Geschichte der RAF aus Sicht der Opferfamilien geschrieben. Nun konzentriert sie sich auf den Fall Schleyer, bleibt ihrem Erzählprinzip aber treu. Ameri-Siemens lässt Betroffene und Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen, ergänzt deren Beiträge durch eigene Erklärungen und montiert die Berichte und Bekenntnisse so geschickt, dass beim Lesen ein fast filmischer Eindruck entsteht.
Die Autorin hat mit Politikern wie Hans-Jochen Vogel und Burkhard Hirsch gesprochen, mit Schriftstellern und Journalisten, einem früheren RAF-Anwalt, einem Justizvollzugsbeamten. Jan Philipp Reemtsma berichtet aus eigenem Erleben, wie es sich anfühlt, als Geisel ausharren zu müssen. Mehrmals lange zitiert wird auch Hanns-Eberhard Schleyer, der Sohn des Ermordeten. Er war 32 Jahre alt, als er versuchte, den Vater zu retten und die Regierung daran zu hindern, das Leben eines Menschen der Staatsräson unterzuordnen. Die letzte Hoffnung, die ihm blieb, war das Bundesverfassungsgericht. Dort stellte er am 15. Oktober 1977 einen Antrag im Eilverfahren, der die Politik zwingen sollte, einen Austausch der RAF-Gefangenen vorzunehmen. Der Antrag hatte keinen Erfolg.
Zu später Stunde entschieden die Richter, die Regierung dürfe nicht auf ein bestimmtes Handeln festgelegt und für die Terroristen kalkulierbar werden. Sie überließen es der Regierung zu entscheiden, wie sie auf die Forderungen der Entführer reagieren wollte. „Ausgeliefert war mein Vater in gewisser Hinsicht auch der Politik und der Justiz“, sagt Hanns-Eberhard Schleyer. „Allen gegenüber war er hilflos.“
Viele Bürger haben die Art und Weise, in der die Regierung versuchte, Stärke zu zeigen, bewundert. Auch einige von Siemens’ Gesprächspartnern halten ihr Vorgehen ebenso richtig wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts; andere artikulieren Zweifel. Hanns-Eberhard Schleyer sagt: „Verstanden habe ich das Urteil nicht, bis heute nicht.“ Über lange Passagen hätten die Richter deutlich gemacht, dass es die vornehmste Aufgabe des Staates sei, seine Bürger zu schützen – und dann habe es einen Bruch in der Argumentation gegeben. Das Abstrakte habe sich vor den Schutz des konkreten Menschen geschoben.
Hans-Jochen Vogel besuchte einen Tag nach dem Urteil aus Karlsruhe die Familie Schleyer. Es liefen bereits die Vorbereitungen für den Einsatz der GSG 9 in Mogadischu, was Vogel jedoch verschwieg. Sie hätten nicht viel gesprochen, erinnert sich Hanns-Eberhard Schleyer. Die Familie habe nun gewusst, dass der Krisenstab einem Austausch der Geisel niemals zustimmen würde – und dies auch nie gewollt hatte. „Mir war mit einem Schlag die Unehrlichkeit klar geworden, mit der die politisch Verantwortlichen unserer Familie bis dahin begegnet waren.“
Das Buch zeigt aber auch, wie nah die Situation den Politikern ging und wie sehr diese damit auch später noch gerungen haben. Die Frage, ob sie sich schuldig gemacht hätten, begleite ihn seit 1977, sagt Hans-Jochen Vogel. Das Ergebnis, zu dem er immer wieder komme: Er habe Schleyers Tod nicht verschuldet, „aber mitverursacht habe ich ihn doch“.
Hätte es Möglichkeiten gegeben, anders zu handeln? Hätte der Staat sich nicht doch auf ernsthafte Verhandlungen mit der RAF einlassen können, ja müssen? Hätte man die RAF-Gefangenen nicht ins Ausland fliegen lassen können? Wäre das ein Zeichen der Schwäche gewesen? Diese Fragen wirft dieses bewegende Buch auf, ohne eine definitive Antwort geben zu können.
Nicht nur für Schleyers Familie ist zudem das Wissen um die Pannen niederschmetternd, die bei der Suche nach dem Versteck der Geiselnehmer passierten. Schon am zweiten Tag nach der Entführung hatte die Polizei einen guten Hinweis auf die Wohnung bekommen, in die Schleyer verschleppt worden war. Der Hinweis und so auch die Wohnung wurden jedoch nicht weiter überprüft.
Die RAF hat ihre fehlgeschlagene „Offensive 77“ später als ihre „härteste Niederlage“ bezeichnet. Trotzdem kann man nicht sagen, dass der Staat als Sieger aus dem Terrorjahr hervorging. Der Sieg war zu bitter, vielleicht war es nicht einmal ein Sieg. Das Morden der RAF ging noch jahrelang weiter. Und in einem entscheidenden Moment hatte der Staat eine Härte bewiesen, die selbst jene, die dies für richtig hielten, tieftraurig stimmte.
Tanjev Schultz ist Professor für Journalismus an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Butz Peters hütet sich vor
zu einfachen Urteilen
und Verurteilungen
Hätte es Alternativen gegeben?
Nicht nur Familie Schleyer stellt
sich immer wieder diese Frage
Gezeichnet: Kanzler Helmut Schmidt zwischen Hanns-Eberhard und dessen Mutter Waltrude Schleyer bei der Trauerfeier im Herbst 1977.
Foto: Sven Simon / Imago
Anne Ameri-Siemens: Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer. Rowohlt-Verlag Berlin 2017, 320 Seiten, 19,95 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
Butz Peters: 1977. RAF gegen Bundesrepublik. Droemer-Verlag,
München 2017,
576 Seiten, 26,99 Euro.
E-Book: 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Butz Peters Chronik rekapituliert umfangreich und stark in den Details noch einmal den Terror, der das Land vor 40 Jahren in Atem hielt." Kulturzeit (3sat) 20170131