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Botho Strauß erzählt, wovon er noch nie erzählt hat: von seiner Kindheit und Jugend in den 40er und 50er Jahren, von Naumburg und Bad Ems, den Orten, in denen er aufgewachsen ist, von seinen frühen, prägenden Erinnerungen. Mit diesem Buch findet er noch einmal zu einer ganz neuen Seite seines Schreibens: zum Ton des Erinnerns, der Vergewisserung über die eigenen Ursprünge. Die Jugend ist die Zeit, da die Zukunft einem noch bevorsteht; jetzt lässt Strauß eine lang zurückliegende Gegenwart wiedererstehen. Vor allem ist es der Vater, dessen Bild immer deutlicher hervortritt, liebevoll gezeichnet,…mehr

Produktbeschreibung
Botho Strauß erzählt, wovon er noch nie erzählt hat: von seiner Kindheit und Jugend in den 40er und 50er Jahren, von Naumburg und Bad Ems, den Orten, in denen er aufgewachsen ist, von seinen frühen, prägenden Erinnerungen. Mit diesem Buch findet er noch einmal zu einer ganz neuen Seite seines Schreibens: zum Ton des Erinnerns, der Vergewisserung über die eigenen Ursprünge. Die Jugend ist die Zeit, da die Zukunft einem noch bevorsteht; jetzt lässt Strauß eine lang zurückliegende Gegenwart wiedererstehen. Vor allem ist es der Vater, dessen Bild immer deutlicher hervortritt, liebevoll gezeichnet, doch ohne Selbsttäuschung. Botho Strauß' "Herkunft" ist das konzentrierte, reiche Werk eines großen Erzählers aus Deutschland.
Autorenporträt
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände "Mikado" (2006), "Die Unbeholfenen" (Bewußtseinsnovelle, 2007), "Vom Aufenthalt" (2009), "Sie/Er" (Erzählungen, 2012), "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (Aufsätze, 2012), "Die Fabeln von der Begegnung" (2013), "Kongress" (Die Kette der Demütigungen, 2013), "Allein mit allen" (Gedankenbuch, 2014), "Herkunft" (2014), "Oniritti Höhlenbilder" (2016), "zu oft umsonst gelächelt" (2019) und "Nicht mehr. Mehr nicht" (Chiffren für sie, 2021).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2014

Der Ermittler ohne Fall

Versuch, den Autor und sein Werk zusammenzudenken. Botho Strauß wird jetzt auch schon 70

Vor zwei Monaten erschien "Herkunft" von Botho Strauß, ein knapp hundertseitiger Bericht über sein Aufwachsen in der Stadt Bad Ems, und das Erstaunen der Leser ist seither groß über Tonfall und Sujet dieses schmalen Buches. Ein Schriftsteller, dessen Werk von Anfang an das lineare, kontinuierliche Erzählen problematisierte, dessen Verweigerung aller Einblicke ins Private oder Familiäre berüchtigt war, veröffentlicht plötzlich ein rückhaltloses Erinnerungsbuch, geschrieben in einer Sprache, der das Distanziert-Hochmütige, seit den neunziger Jahren auch manchmal Gespreizte seiner Texte vollständig fehlt. Ein wundersamer Prozess, der ein wenig an die Geschichte in Kleists "Marionettentheater" erinnert: Nach dem Durchmessen eines Kreislaufs äußerster ästhetischer Reflexion und Bezwingung scheint am Ende wieder eine unbefangene, beinahe naive Bewegung des Erzählens möglich.

Am 2. Dezember wird Botho Strauß siebzig Jahre alt, und unter dem Eindruck seines ergreifenden jüngsten Buches ist es vielleicht folgerichtig, dieses Datum mit einem Blick auf die schriftstellerische, intellektuelle Herkunft des Autors zu verbinden. Wo liegen die heute nur noch selten beleuchteten Anfänge seines Schreibens? Aus welchem Milieu, aus welchem Kontext entstand ein Werk, das sich schon bald durch die Abtrennung allen zeitgenössischen Kontexts ausweisen sollte?

Botho Strauß veröffentlichte seine ersten Texte am Ende der sechziger Jahre in der Zeitschrift "Theater heute", brillante Kritiken und Aufsätze, die in einem seit langem vergriffenen Band mit dem Titel "Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken" erschienen sind. Den gleichnamigen Essay von 1970, eine Art Bilanz seiner Kritikertätigkeit, könnte man auch als Ausgangspunkt seiner eigenen Literatur begreifen, genau auf der Schwelle von poetischem Schreiben und gesellschaftlicher Utopie. Strauß' "Versuch" umkreist den kurzen Zeitraum zwischen Benno Ohnesorgs Tod am 2. Juni 1967 und dem Mai 1968, jenem "Ende der Nachkriegszeit", wie er schreibt, in dem Politik und Ästhetik für einen Augenblick unentwirrbar ineinander verschränkt schienen.

Literatur oder Theater ließen sich plötzlich nicht mehr als von gesellschaftlichen Ereignissen unberührter Kunstgenuss betrachten; und umgekehrt hatten die politischen Proteste selbst zum ersten Mal den Charakter von Performances. Diese elektrisierende Synthese war aber nur von geringer Dauer, bevor sich die beiden Sphären wieder voneinander entfernten: Die gemeinschaftliche politische Energie verpuffte in unzähligen verfeindeten Splittergruppen, und die neue, offene Ästhetik des Happenings erstarrte, indem sie von institutionalisierten Kunstformen eingegliedert wurde (eine Entwicklung, die Peter Handke zur selben Zeit auf die schöne Formel brachte: "Für das Straßentheater, wider die Straßentheater").

"In der folgenden Entwicklung", heißt es in Strauß' Essay ernüchtert, "sind Theater und Revolution bzw. Protestbewegung nicht wieder in eine solch aktuelle Verbindung getreten": ein Bruch, der vielleicht sein ganzes weiteres Schreiben, seine intellektuelle Existenz geprägt und geschärft hat. Seither ging es dem Autor in zunehmender Konsequenz eher darum, ästhetische und politische Ereignisse auseinanderzudenken, als Graben, der den distanzierten, hochempfindsamen Dichter von der Meute des "herunterdemokratisierten, formlosen Gesellschaftsbewusstseins" scheidet, wie es schon 1981 in Strauß' Meisterwerk "Paare, Passanten" heißt.

Man kann diese Absage ans Kollektiv, die sich innerhalb eines Jahrzehnts, zwischen seinen Anfängen und seinem bis heute berühmtesten Buch radikalisiert hat, an zwei kleinen Textstellen über politische Demonstrationen veranschaulichen. Im "Versuch" ist vom Sternmarsch auf Bonn im Mai 1968 die Rede, der auf denselben Tag fiel wie die Uraufführung von Handkes Stück "Kaspar" in Oberhausen und Frankfurt. Hier ist die zeitliche Kongruenz der Ereignisse noch Symptom einer Hoffnung auf eine neue Politik und eine neue Literatur. Ein Jahrzehnt später, in einem Fragment aus "Paare, Passanten", reiht sich der Erzähler noch einmal in einen Demonstrationszug ein, vom Wittenberg- zum Nollendorfplatz, "in der Menge der Hausbesetzer und ihrer Freunde". Doch er hält es nicht mehr lange aus: "Aber nein, hier muss ich umkehren. Kann nicht Mitläufer sein bei den Jungen. In Strömen kommen sie mir noch entgegen, da ich als einziger Passant in Gegenrichtung zurückgehe."

Biographie und literarisches Werk von Botho Strauß, diesem Virtuosen des Rückzugs, stellen heute in erster Linie die Frage nach der Position des Schriftstellers. Was besagt es ästhetisch, wie welthaltig oder weltabgewandt sich das Leben dessen vollzieht, der schreibt? Mit "Paare, Passanten" gab der Autor vor gut dreißig Jahren sein weiteres Programm vor: "Wie möchte man sich immer mehr von diesen Menschen der Stunde, den ganz und gar Heutigen, unterscheiden. Dazugehörig sein in der Fläche der Vernetzung ist an die Stelle der zerschnittenen Wurzeln getreten." Doch die Frage lautet, ob dieser Standort, hinabschauend auf die ihn umgebenden "Gegenwartsnarren", seinem Schreiben gutgetan hat. Denn im Rückblick ist es (genau wie bei Handke) gerade das Frühwerk, das, in der Reibung eines zur Erhabenheit neigenden Temperaments mit der Welt, außerordentliche Texte hervorgebracht hat.

Man muss sich nur die Schauplätze und das Personal der Prosabücher von Botho Strauß in Erinnerung rufen: Die Erzählung "Die Widmung" von 1977 und "Paare, Passanten" spielen in West-Berlin, und die gesammelten Textfragmente (auch die "Widmung" ist, geleitet vom kargen Plot einer Liebesgeschichte, nichts anderes als eine solche Anthologie) sind fast ausnahmslos an öffentlichen Orten der Großstadt angesiedelt, in Restaurants, Bars, Cafés, Varietés, Kinos, Supermärkten. Gerade die urbanen Räume und Menschengruppen aber reizen das Gespür des am Rande stehenden Diagnostikers. Die späteren Fragmentsammlungen, geschrieben in der selbstgewählten Einsamkeit der Uckermark, sind von diesen Orten und Protagonisten mehr und mehr bereinigt, es geht nun allein um Lektüren und Naturerkundungen, und gerade die fehlende Opposition einer flirrenden Außenwelt droht diese Bücher - trotz der einzigartigen Sprachkunst ihres Autors - selbstgenügsam, esoterisch und träge zu machen. Nicht mehr "Paare, Passanten", sondern "Pappeln, Platanen".

Rainald Goetz, der 1981, noch vor Erscheinen seines ersten eigenen Romans, im "Spiegel" voller Bewunderung Botho Strauß rezensierte, hat sich immer wieder, so hellsichtig wie kein anderer, über die heikle Position des Schriftstellers geäußert. In seinem Tagebuch "Klage" von 2008 heißt es einmal über die Kategorie des "Textes": "Er muss zum Sozialen, dem er sich verdankt, ein ungekünstelt fundamentales Destruktionsverhältnis unterhalten. Text ist hier: die aus der Sprache lebende Literatur. Und es ist interessant und entmutigend zu sehen, dass die Autoren, die diese Art sprachgenerierte Literatur machen oder gemacht haben, eigentlich immer, zwangsläufig in der Isolation, im sozialen Abseits und damit kurz über lang in der Verblödung irgendwelcher abgedrehter Individualkosmen, im Schwachsinn gelandet sind. Privatroman, Langsame Heimkehr, Bocksgesang." Goetz meint mit dieser "Entmutigung" natürlich seine einstigen Vorbilder Peter Handke und Botho Strauß; das letzte Wort dieses Eintrags ist auf den berüchtigten Aufsatz von 1993 bezogen, in dem Strauß jene programmatische Feier des "Reaktionären" zelebrierte.

Doch auch wenn die Abkehr von den frühen Utopien, diese nie entkräftete Triebfeder seines Schreibens, in den letzten 25 Jahren manche Verstiegenheit hervorgebracht haben mag: Bücher wie "Die Widmung", "Paare, Passanten" oder die frühen Essays und Theaterstücke lösen beim Wiederlesen augenblicklich ein Gefühl des Geborgenseins und der Zugehörigkeit aus, einen oft erschütterten Glauben an etwas, das man die Notwendigkeit der Literatur nennen könnte. Wie viele zeitgenössische Prosawerke - historische Romane, Liebes- und Familiengeschichten - könnten heute nicht genauso gut einer anderen Gattung angehören, könnten ein Sachbuch sein oder ein Film oder eine TV-Serie? Man hat es mit wohlarrangierten Handlungsgängen und Figurenkonstellationen zu tun, die sich im Grunde indifferent zu ihrer spezifischen Ausformung verhalten.

Die Texte von Botho Strauß kennzeichnet dagegen ein unauftrennbarer Zusammenhang von Schreibweise und Gehalt. Und hat nicht jeder Leser dieser Texte sofort einen genaueren Blick auf die Wirklichkeit, die ihn umgibt, so als würden sie eine bis dahin verborgene Grammatik der Gesten und Gefühle sichtbar machen? Man muss nur längere Zeit in einem Botho-Strauß-Buch lesen, dann erkennt man später im Gedränge der Straßen plötzlich in jedem Gesicht, in jedem Dialog verborgene Zwischenräume und Zeichen; es ist ein wenig wie bei dem staunenden Watson, nachdem Sherlock Holmes ihm aus einer Fülle scheinbar bedeutungsloser Einzelheiten eine Indizienkette und die Lösung des Verbrechens hervorgezaubert hat. Nur dass es in den Büchern von Botho Strauß so gut wie keine Kriminalgeschichten zu lösen gibt. Er ist, wie vielleicht alle großen Dichter, ein Ermittler ohne Fall.

In dem Buch "Herkunft", mit dem noch einmal ein ganz neuer Abschnitt in diesem Schriftstellerleben zu beginnen scheint (auch wenn überraschend viele Motive schon in "Paare, Passanten" angedeutet waren), gibt es eine Stelle über den Nachnamen des Erzählers. Strauß schreibt von seiner leidvollen Erfahrung, dass eines Morgens ein neuer Mitschüler gleichen Namens in der Klasse aufgetaucht sei und ihm das "Stigma der Verwechselbarkeit" aufgedrückt habe. Ein überraschender Befund. Denn war es als junger Leser von Botho Strauß, nach dem Entdecken der ersten dtv-Bände mit dem Regenbogen auf dem Titel, nicht genau umgekehrt? Die Strenge, die von dieser kunstvollen Sprache ausging, messerscharf und zärtlich zugleich, wurde nicht allein von dem immergleichen Porträtfoto hinten im Buch bestärkt, mit dem gesenkten Kopf und der eckigen randlosen Brille, sondern zuallererst von dem bis dahin nie gehörten Vornamen. "Botho", fremdartige Verstärkung des ohnehin schon merkwürdigen "Bodo". Niemand anderes hieß so (der Fontane-Bezug erschloss sich erst später), es war ein Vorname, der alles zu erklären schien, die Aura des Hochmuts, die Zurückgezogenheit, das "Stigma der Unverwechselbarkeit". Wer so hieß, musste alleine sein.

Aber wie schrieb Botho Strauß in einem seiner letzten Bücher, mit einer dieser Formulierungen, die man nie mehr vergisst: "Allein, Diminutiv von All."

ANDREAS BERNARD

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Peter Iden würdigt in seiner Rezension von Botho Strauß' "Herkunft" einen alten Freund, den er als "szenischen Erfinder" beschreibt, der den Kritikern über Jahre hinweg den Glauben an die Relevanz des Theaters erhielt. Gerne erinnert sich Iden an die Inszenierungen an der Berliner Schaubühne, die Strauß gemeinsam mit Peter Stein und Luc Bondy verantwortet hat und die beträchtlich zum Ruhm der Bühne beitrugen, er lobt die "Insistenz auf das Subjekt", das dem Ordnen seiner Welt gewachsen ist. Wahrscheinlich ist es Strauß' "abständige Nähe" zur Gegenwart, in der sich dieses Subjekt behaupten muss, die seinen so besonderen Reiz ausmacht, vermutet der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2014

Einzelkind
Noch ein Buch über den Ersten Weltkrieg? Das auch.
Vor allem aber ist Botho Strauß‘ „Herkunft“
über seine Kindheit und Jugend eines seiner schönsten
Bücher. Nie zeigte sich der große Einzelgänger
der deutschen Literatur so nahbar wie hier
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Sieben Türen“ heißt ein Theaterstück von Botho Strauß. Kein Zimmer besitzt so viele Ein- und Ausgänge, sondern nur ein Flur. Und in der Tat liefern die Türen nur die verbindenden Scharniere für einen Szenenreigen, der die Boulevard-Mechanik ironisiert und zugleich ins Metaphysische überführt. Menschen treten auf einen Korridor, und sie treten dabei für einen Moment aus ihrer Biografie aus, um in einem undefinierten Zwischenreich spielerische Selbstdistanz zu gewinnen. Der Flur als Dispens vom Identitätszwang.
  Dass es für diese sieben Türen ein lebensgeschichtliches Vorbild gibt, ist eines der Dinge, die man aus Botho Strauß’ neuem Buch „Herkunft“ erfahren kann, das am kommenden Montag erscheint. Strauß schreibt hier zum ersten Mal über seine Kindheit und Jugend – und das ist für sich genommen bereits eine kleine Sensation. Gehört Botho Strauß doch zu den großen Einzelgängern der Literatur, ein Unberührbarer, der kaum Interviews gibt und sich schon früh aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Den „hortus conclusus“ intellektueller Absonderung hat er einmal als sein Soziotop bezeichnet. Der Dichter ließ so wenig durchsickern von seiner Vergangenheit wie ein Schraubverschluss. Denn der Geist sollte in der Flasche bleiben.
  Dieses Pathos der Unverfügbarkeit aber ist nicht nur individuelle Eigenart, sondern auch die Signatur der vatermörderischen, unmittelbaren Nachkriegs-Generation, der Botho Strauß angehört und die sich Herkunftslosigkeit geradezu zum Programm gemacht hatte. Man wollte sich aus der belasteten Geschichte exmatrikulieren und tauschte das Stammbuch gegen die Schriften Adornos. Ein Adornit war auch der junge Botho Strauß, aber „nie ein fröhlicher Waisenknabe der Rebellion“, schreibt er in „Herkunft“, aber das sagt einer, den die Portalfiguren seines Lebensweges „immer nur gefördert und niemals unterdrückt“ haben.
  Dass er nun kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag doch zurückschaut auf seine Anfänge, hat nichts mit Altersmilde zu tun. Im Gegenteil: Strauß gibt seinem schmalen Band einen doppelten Zeitrahmen. Zwischen die Gegenwart des Erinnerns und die Vergangenheit des Erinnerten legt sich eine weitere Schicht der Reflexion, datiert auf das Jahr 1990, als der Vater starb, die Mutter ins Altersheim übersiedelte und „meine Kindheit entrümpelt“ wurde. Statt die Schleusen zu öffnen hat Botho Strauß, der Sohn eines Chemikers, seine Erinnerungen durch zwei Filter zur Essenz destilliert. Trotzdem bezichtigt er sich immer wieder im Buch der Sentimentalität, für ihn ein endogenes Rauschmittel.
  Versteht man unter Sentimentalität klebrige Gefühligkeit, dann gibt es kein unsentimentaleres Buch als dieses, das Botho Strauß nun geschrieben hat. Ihm geht es nicht um Rückschau als Vergangenheitsbewältigung, sondern als Vergangenheitsüberwältigung, „Kontra-Aufwallung“ zu einem vorherrschenden traditionsfeindlichen Präsentismus, um „Damals-Ekstasen“ und rückwärtige Selbsterweiterung. „Einst-Weh“ nennt er das auch. Womit wir wieder bei den sieben Türen wären, welche die Türen der elterlichen Etagenwohnung im Kurbad Bad Ems sind, einem ortlosen Ort – passend zum entwurzelten Milieu, dem Botho Strauß entstammt: abgesunkenes Bürgertum, die Einrichtung altdeutsch, der Lebensstil trocken wie der sonntägliche Marmorkuchen.
  In Naumburg war der Vater Mitinhaber einer Fabrik gewesen. Nach Enteignung und Übersiedlung in den Westen fängt er mit über sechzig noch mal neu an, als Gutachter für die pharmazeutische Industrie. Ein einziges Buch hat er verfasst „Nicht so früh sterben!“, den Geburtstagsartikel zum 75. in der Apothekerzeitung muss er sich selber schreiben. In seiner Freizeit gibt er eine satirische Zeitschrift heraus, deren einziger Autor er zuletzt selbst ist. Der Erste Weltkrieg, in dem er ein Auge verlor, hat aus ihm einen Pazifisten und Pamphletisten gemacht.
  Die Entstellung kompensiert der Vater mit übertriebener Körperpflege, tadellos in Aussehen und Manieren. Eiserne Disziplin und „häuslich-heroische Selbstbehauptung“ halten ihn aufrecht. Der Sohn schämt sich für seinen kriegsversehrten Vater, verleugnet ihn gelegentlich sogar und beutet in seiner „jugendlichen Habgier“ dessen Unterlegenheitsgefühle nach Kräften aus. Mit Luftgewehr, Fotokamera und bunt bedrucktem „Texas“-Hemd lässt sich der kleine Botho seine Kronprinzenrolle vergüten. Selbst für den Griechisch-Unterricht, die „ertragreichste Investition meines Lebens“, verlangt er Bargeld: Zehn Mark pro Doppelstunde, in den Fünfzigerjahren ein stolzer Preis.
  Der Künstler beschreibt den jungen Mann, der er war, als hoffärtigen, altklugen Stutzer im Glencheckanzug, von der Mutter verhätschelt, vom Vater materiell verwöhnt, ein typisches Einzelkind, das Botho Strauß ja als Schriftsteller bis heute geblieben ist. Seine Theaterleidenschaft, überhaupt seine rezeptiven Interessen muss er sich unter Provinz-Bedingungen und oft gegen den Vater ertrotzen, Fernsehinszenierungen von Bühnenstücken, die es damals noch gab, und Gastspiel-Aufführungen läutern ihn „vom Bravo-Leser zum Tristan-Schwärmer“. Mit fünfzehn „kritzelt“ er seinen ersten Roman.
  Man erkennt ihn schon wieder und lernt den Autor doch besser verstehen, wenn man weiß, woher er kommt. Der multioptionalen Gesellschaft, die sich frei fühlt von Milieu und Beschränkung, hält er den Stolz der kleinen Verhältnisse entgegen. Dieses so ungeschützte Buch, es versöhnt auch ein Stück mit einem Autor, der irgendwann dazu überging, weniger als erlauchter Stilist denn als politischer Wirrkopf von sich reden zu machen.
  Botho Strauß, der sich vom Charlottenburger Zivilisationsfaun zum uckermärkischen Orakel entwickelt hat, konnte schon ziemlich enervieren mit seiner verstiegenen Esoterik und seiner koketten Demokratiefeindlichkeit. Zudem fanden sich immer häufiger Stilblüten unter seinen essayistischen Blumen des Bösen. Zusammen mit „Herkunft“ erscheint ein von Sebastian Kleinschmidt herausgegebener Band mit ausgewählter Prosa von Botho Strauß unter dem Titel „Allein mit allen. Gedankenbuch“ ( Hanser, München. 352 Seiten, 21,90 Euro, 16,99 Euro ). Der umstrittene Essay „Anschwellender Bocksgesang“ ist unter den wie Erbauungsliteratur gruppierten Texten im Kapitel „Von der Erziehung“ verscharrt.
  Wie gut oder wie „wohl“, würde Botho Strauß sagen, tut die biografische Rückbindung seiner Sprache. Strauß übt sich in dem, was er als Ideal eines Lebens in der Kunst skizziert: sich in „namenloser Neugier“ aufzulösen, „bis man irgendwann mit großen Augen untergeht“. „Herkunft“ ist nicht nur eine aufwühlende Hommage an den Vater, die fast einer Abbitte gleichkommt, sondern auch ein betörendes Stück Reflexionsprosa über die Macht der Erinnerung, dem einzigen Feld, auf dem wir „noch expandieren, reicher werden“ können. Die konventionelle Vorstellung, derzufolge wir in der Jugend noch ganz im Bannunserer Prägungen stehen und uns allmählich erst von ihnen befreien, findet sich hier umgekehrt. Die Vergangenheit holt uns mit zunehmenden Jahren ein. „Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht“, schreibt Strauß. Es legt die Spur frei, das Relief unserer Herkunft.
  Nicht ohne Erschrecken stellt er dabei fest, dass er seinem Vater im Alter zunehmend ähnlich wird. Der junge Strauß fühlte sich abgestoßen von dessen „reaktionären Bosheiten“ und „törichten Verblendungen“, seinen „läppischen Empörungen und Irrtümern“. Auch diese klaren Worte kann man als eine Art Abbitte verstehen.
        
Botho Strauß: Herkunft. Carl Hanser Verlag, München 2014. 96 S., 14,90 Euro. E-Book 11,99 Euro.
Der Künstler Botho Strauß
als junger Mann ist ein altkluger
Stutzer im Glencheckanzug
Hommage an den Vater
und Meditation über Erinnerung
vereint diese Reflexionsprosa
Vom Charlottenburger Zivilisationsfaun zum Orakel aus der Uckermark:
Botho Strauß, im Februar 2004.
Foto: Jens Rötzsch/OSTKREUZ
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"Selten hat Botho Strauß so anmutig, so leichthändig und berührend erzählt." Ulrich Greiner, Die Zeit, 11.12.14

"Prosa-Pointillismus vom 'Meister des Gedankenfragments'. Ein Lesebuch, das beim Denken hilft und zeigt, was Formulierungskunst auf kleinstem Raum vermag." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.14

"Ein ruhiges, gelassenes Buch, das zugleich ein Porträt des Künstlers als jungen Mannes zeichnet." Thomas Schmid, Die Welt, 04.12.14

"Er ist der Deuter unserer Tagträume ... Ein Dichter für das 21. Jahrhundert." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.14

"Er inszeniert Erinnerung nicht, er erfährt sie. Mit seinem reichen Wortschatz und der intellektuellen Durchdringung sind ihm genaue Differenzierungen möglich. 'Herkunft' ist sein intimstes Buch geworden." Volker Hage, Der Spiegel, 01.12.14

"Erinnerungsbilder und Reflexion gehen aufs Schönste ineinander." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 01.12.14

"Ein intellektuelles Vergnügen." Guido Kalberer, Tages-Anzeiger, 14.11.14

"Ein anrührendes kleines Buch. ... Nie hat Botho Strauß mehr von sich preisgegeben. Plötzlich ist er uns ganz nah. Und wir lesen seine Werke im Licht dieser Konfession ganz neu." Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 02.11.14

"Es ist ein kleines, ein schmales Buch, und es ist ein großes Buch, weil Botho Strauß darin nicht nur von seiner eigenen Kindheit erzählt, sondern das Erinnern schlechthin behandelt, indem er zeigt, dass es uns Menschen so nötig und unentbehrlich ist wie Nahrung, Liebe, Schlaf." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.14

"'Herkunft' ist ein berührendes Buch wegen der Schutzlosigkeit, mit der Strauß von seiner Vatersehnsucht erzählt. Es ist aber auch ein Buch, dessen Sprache so rein, klar und elementar wie Quellwasser wirkt, das einem allen Phrasenstaub aus den Ohren spült." Ijoma Mangold, Die Zeit, 01.10.14

"Dieses Buch ist eine Befreiung - die Befreiung aus einer Strengführung des Denkens, die jeder kennt, der zu lange fern der Welt und mit seinen Gedanken allein war. ... Ein erstaunlich schonungsloser Blick auf sich selbst, auf das eigene Leben und die eigene Kunst, deren Genius und Grenzen - auf das Erbteil, das in ihm steckt und den Sohn des ernsten, letztlich scheiternden Vaters zur Wiederholung drängt." Wolfgang Büscher, Welt am Sonntag, 28.09.14

"Eines seiner schönsten Bücher. Nie zeigte sich der große Außenseiter der deutschen Literatur so nahbar wie hier. ... 'Herkunft' ist nicht nur eine aufwühlende Hommage an den Vater, die fast einer Abbitte gleichkommt, sondern auch ein betörendes Stück Reflexionsprosa über die Macht der Erinnerung, dem einzigen Feld, auf dem wir 'noch expandieren, reicher werden' können. " Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 27.09.14

"Botho Strauß blickt milde und versöhnt zurück, ohne etwas zu verklären. Das ist das Berührende." Heide Soltau, NDR, 1.12.14

"Einem hochpoetischen Buch, in dem das Erzählen sich wie von selbst ereignet." Jörg Magenau, Cicero, 1/2015

"Selten hat Botho Strauß so anmutig, so leichthändig und berührend erzählt." Ulrich Greiner, Die Zeit, 11.12.14
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