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900 Tage war Leningrad von der deutschen Wehrmacht eingeschlossen, bevor die Rote Armee am 27. Januar 1944 den Belagerungsring sprengte. Mehr als eine Million Bürger kamen in der Stadt um - ein Kriegsverbrechen, das noch immer nicht Teil der deutschen Erinnerungskultur geworden ist.Anders als viele Künstler und Intellektuelle, die sich evakuieren ließen, harrte Lidia Ginsburg in Hunger und Kälte aus, weil sie ihre alte Mutter nicht allein lassen wollte. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte sie ihre Aufzeichnungen eines Blockademenschen - ein Bericht, der weniger an ein Tagebuch als an die…mehr

Produktbeschreibung
900 Tage war Leningrad von der deutschen Wehrmacht eingeschlossen, bevor die Rote Armee am 27. Januar 1944 den Belagerungsring sprengte. Mehr als eine Million Bürger kamen in der Stadt um - ein Kriegsverbrechen, das noch immer nicht Teil der deutschen Erinnerungskultur geworden ist.Anders als viele Künstler und Intellektuelle, die sich evakuieren ließen, harrte Lidia Ginsburg in Hunger und Kälte aus, weil sie ihre alte Mutter nicht allein lassen wollte. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte sie ihre Aufzeichnungen eines Blockademenschen - ein Bericht, der weniger an ein Tagebuch als an die Arbeitsskizzen eines Verhaltensforschers denken lässt.Was ist ein Blockademensch? Es ist jemand, der langsam und in vollem Bewusstsein an Hunger und Kälte zugrunde geht: nicht im Lager, sondern in der Stadt, unter Arbeitskollegen, im Kreis der Familie, in den Wohnungen, wo »die Menschen wie erfrierende Polarforscher um ihr Leben kämpfen«.Wie der verhungernde Mensch seinen fremd werdenden Körper als sterbende Materie erlebt, wie er im Kreis zu rennen beginnt, wie seine Gereiztheit in Grobheit gegen seine Nächsten umschlägt, wie ihn die eigene Niedertracht quält und reut - das alles beschreibt Ginsburg mit einer Scharfsicht, die an Simone Weils logische Untersuchungen des Schmerzes erinnert. 2006 tauchte im Nachlass - eine Sensation - die »Erzählung von Mitleid und Grausamkeit« auf. Ein Text, der als narrativer Kern der »Aufzeichnungen« gelten kann. Nach den Lektüre-Erfahrungen mit Schalamow und Agamben liest man das Buch heute als ein weiteres Lehrstück in negativer Anthropologie.
Autorenporträt
Lidia Ginsburg, 1902 in Odessa geboren, 1990 in Moskau gestorben, war Literaturwissenschaftlerin und gehört als Schülerin von Sklovskij, Tynjanov und Eichenbaum zur zweiten Generation der einflussreichen russischen Formalisten. Christiane Körner lebt als Übersetzerin und Publizistin in Frankfurt am Main. Karl Schlögel, 1948 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören Moskau lesen, Petersburg 1909-1921. Das Laboratorium der Moderne, Im Raume lesen wir die Zeit und Moskau 1937. Sein 2017 erschienenes Buch Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Die Schreibenden sterben, und das Geschriebene bleibt", zitiert Rezensent Andreas Breitenstein bewegt die Autorin, deren Aufzeichnung aus dem belagerten Leningrad er zu einem unerlässlichen Bestand der "Bibliothek des bluttriefenden Jahrhunderts erklärt. Gut also, dass sie nun in einer Ausgabe zusammen mit Urtext, Fragmenten und einem hilfreichen Nachwort von Karl Schlögel vorliegen. Sehr nachdrücklich betont Breitenstein die Besonderheit von Lidia Ginsburg, die es als Literaturwissenschaftlerin und Psychologin ebenso innovativ wie tiefgründig zu beschreiben versteht, was die Belagerung mit den Menschen und der Stadt machte. Lakonie und Tiefenblick, statt Emphase und Empathie, unerbittliche Reflexion und analytische Distanz. Mit besonderer Bitterkeit liest Breitenstein auch, dass die deutschen Luftangriffe pünktlich jeden Abend kamen, und morgens "selten später als vier Uhr" der NKWD.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Lidia Ginsburg hat ein phantastisches Buch der Moderne geschrieben aus einer Zeit, die vergangen ist. Der Blockademensch ist eine Figur wie bei Beckett oder Camus, ist der Bruder von Sisyphus und Molloy.« Süddeutsche Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997

Wer hungert, hat keine Angst
Lidia Ginsburg über den Mangel / Von Ralph Dutli

Neunhundert Tage hat die Blockade Leningrads durch die deutschen Truppen gedauert, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Leben, durch Bomben, Artilleriebeschuß, Hunger und Kälte. Die meisten verhungerten im ersten Blockadewinter 1941/42. Hitler wollte die Stadt dem Erdboden gleichmachen, Stalin wollte sie - die Wiege der Oktoberrevolution und Namensträgerin des Staatsgründers Lenin - um jeden Preis halten. Nach dem Krieg wurde Leningrad der Titel "Heldenstadt" verliehen und der Nimbus hartnäckigen Widerstandes gegen die "Faschisten" gehörig instrumentalisiert.

Zeugnisse des Belagerungsalltags sind wertvolle Dokumente menschlicher Bewältigungskraft in Extremsituationen. 1992 legte Rowohlt eine Sammlung von Dokumenten und Essays zur Blockade vor, Suhrkamp veröffentlicht jetzt die "Aufzeichnungen eines Blockademenschen" der renommierten Literaturwissenschaftlerin Lidia Ginsburg (1902 bis 1990), die sich im Kreis der russischen Formalisten bewegte und ein Standardwerk über die psychologische Prosa des russischen Realismus geschrieben hat. Ihr schmales Buch über die Blockade reiht sich ein in die russische Tradition dokumentarischer Literatur, die mit Dostojewskijs Katorga-Schilderung "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" und Tschechows "Insel Sachalin" ihre eigenen Klassiker hat. Ginsburg kennt ihre "realistischen" Lehrmeister, verweist immer wieder auf Tolstojs "Krieg und Frieden" und zitiert Alexander Herzens Ausspruch "Wer überlebt hat, der muß auch die Kraft haben, sich zu erinnern."

Ginsburgs Bericht aus der später so benamsten "Heldenstadt" meidet alles Heroische, alles Rührselige und Verklärende. Über Fälle von Kannibalismus, Gewaltexzesse und rohe Behördenwillkür gibt es andere Zeugnisse. Effekthascherei ist nie Ginsburgs Motiv. Unsentimentale Nüchternheit und eine klare, kritische Intelligenz zeichnen sie aus. Nicht einmal von sich selber sprechen will sie, sondern schiebt unter der Chiffre N. einen anonymen Protagonisten vor für ihre subtile, erfahrungsgesättigte Studie über den Alltag in Angst, Kälte und Hunger.

Wer die Granate pfeifen hört, weiß schon, daß er selber nicht zu den Opfern gehören wird. "Es liegt ein himmelweiter Unterschied zwischen dem sicheren und einem beinahe sicheren Tod." An die Angst gewöhnt sich der Blockademensch merkwürdig schnell und stumpft ab. Die Kraft der Verdrängung ist groß, weil "der Tod empirisch nicht erfahrbar ist". Die Menschen, die es vom "Festland" nach Leningrad verschlug, waren fassungslos: "Warum hat bloß keiner von euch Angst? Was muß man tun, um keine Angst mehr zu haben? Man gab ihnen zur Antwort: Anderthalb Jahre hier leben, hungern, frieren . . ."

Am schlimmsten aber ist der Hunger: "Echter Hunger ähnelt bekanntermaßen keineswegs dem Verlangen, zu essen. Er trägt verschiedene Masken. Er konnte sich hinter Schwermut oder Gleichgültigkeit, hinter wahnsinniger Hast oder Grausamkeit verstecken." Und deshalb war der Hunger der stärkste Gegner der Widerstandskraft? Weil er - im Gegensatz zur Angst - etwas permanent Gegenwärtiges ist, weil er sich niemals abstellen läßt: "Er ist ständig anwesend und macht sich unaufhörlich bemerkbar; am qualvollsten, am schlimmsten ist er gerade während des Essens selbst; dann nämlich, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindigkeit seinem Ende nähert, ohne dabei den Hunger zu stillen."

Viele Seiten der "Aufzeichnungen eines Blockademenschen" drehen sich um das zermürbende stundenlange Schlangestehen um einen Bissen Brot, um die immer wiederkehrende Qual karger Mahlzeiten, um den "hungrigen Wahnsinn". Ob ein solches Buch je veralten kann? Jeder sollte es lesen, dieses kleine, klare, kostbare Buch.

Lidia Ginsburg: "Aufzeichnungen eines Blockademenschen". Aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 154 S., br., 16,80 DM.

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