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Um Himmelswillen, wo bleibt der Junge? Als ihr kleiner Enkel Bruno nicht zum Essen kommt, meint Elisabeth, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ihre Tochter Cornelia hat sich von ihrem Mann getrennt und nimmt eine »Auszeit« in Pennsylvania. Stella, Brunos hinreißende ältere Schwester, treibt sich mit ihren Peers irgendwo in der Stadt herum. Und Bruno ist einfach weg. Unerreichbar. Einmal noch wollte Elisabeth Verantwortung übernehmen, Cornelia vier Wochen lang alles abnehmen, ohne Wenn und Aber. Doch seit dem Schlaganfall ihres Mannes ist der alte Schwung hin, und helfen kann ihr…mehr

Produktbeschreibung
Um Himmelswillen, wo bleibt der Junge? Als ihr kleiner Enkel Bruno nicht zum Essen kommt, meint Elisabeth, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ihre Tochter Cornelia hat sich von ihrem Mann getrennt und nimmt eine »Auszeit« in Pennsylvania. Stella, Brunos hinreißende ältere Schwester, treibt sich mit ihren Peers irgendwo in der Stadt herum. Und Bruno ist einfach weg. Unerreichbar. Einmal noch wollte Elisabeth Verantwortung übernehmen, Cornelia vier Wochen lang alles abnehmen, ohne Wenn und Aber. Doch seit dem Schlaganfall ihres Mannes ist der alte Schwung hin, und helfen kann ihr keiner.

Anna Katharina Hahn entfaltet ein weites Panorama zwischen den Generationen, die einander immer weniger zu sagen haben. Da sitzt Elisabeth mit ihren Enkeln in Stuttgart, dessen Überfluss nicht mehr zu den Nöten der Menschen in ihrer Umgebung zu passen scheint. Auf der anderen Seite meldet sich ihre Tochter aus dem flirrenden Manhattan oder den Weiten eines provinziellen Hinterlands. Durch Bilder und Textnachrichten, die um die halbe Welt geschickt werden, scheint das alles irgendwie zusammenzuhängen. Doch was nützt das, wenn ein Kind nicht nach Hause kommt? Aus und davon ist der Familienroman des 21. Jahrhunderts.

Autorenporträt
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage. Ihr zweiter Roman, Am schwarzen Berg, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit Das Kleid meiner Mutter hat sie 2016, so Denis Scheck, 'ein großes europäisches Tableau' entworfen. Ihr Roman Aus und davon erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2020

Die Taubenpost ist elektronisch

Man reist im Handumdrehen um die ganze Welt und kommt doch niemals voneinander los: "Aus und davon", der vierte Roman von Anna Katharina Hahn, schildert die märchenhaften Schicksale einer Stuttgarter Familie in all ihrer befremdlichen Alltäglichkeit.

Elisabeth Geiger hat mit der Organisation von Fremdheitserlebnissen ihr Brot verdient. Mit ihrem Mann betrieb sie ein Reisebüro in der Stuttgarter Innenstadt. Jetzt ist ihr die eigene Stadt fremd geworden. Um sie herum sind zu viele Frauen mit Kopftüchern und langen Hosen. Dabei steht ihr das gruseligste Erlebnis noch bevor, ein paar Tage und 240 Romanseiten später: Ihre eigene Enkelin Stella wird sich den fremdartigen Mitbürgerinnen anverwandeln und in der Hitze eine weite, breit geschnittene Hose und ein langärmeliges Shirt tragen. Mit diesem Schnappschuss könnte sich der vierte Roman von Anna Katharina Hahn auf den letzten Seiten noch in die Horrorgeschichte eines Mädchens verwandeln, das sich aus Liebe zu einem syrischen Flüchtling in die Gefängniswelt einer fundamentalistischen Lebensform hineinziehen lässt.

Aber das Schauermärchen wird nicht Romanwirklichkeit, bleibt eine phantastische Variante der tatsächlichen Handlung - was nicht daran liegt, dass aus Märchen nie Wirklichkeit würde. Die Selbstverständlichkeit, mit der den Figuren des Romans die Märchen aus der Kindheit in den Sinn kommen, verrät im Gegenteil, dass die Wundergeschichten von der zeitweiligen Umkehrung aller Verhältnisse, vom plötzlichen Überfluss und von endlich einmal gerechter Belohnung, ein Korrelat in der Erfahrungswelt haben.

Hamid, Stellas Angebeteter, verlässt Stuttgart und lässt seine Freundin zurück, einem Befehl seiner Mutter folgend. Von dieser in Aleppo zurückgebliebenen Zahnärztin heißt es, dass sie in Stuttgart immer mit dabei gewesen sei. Das Personal des Romans schließt eine ganze Reihe solcher Über-Ich-Instanzen ein, die für das geistige Auge sichtbar sind. Bei Elisabeth Geiger, der Reisekauffrau im Ruhestand, deren Herkunftswelt der schwäbische Pietismus ist, also eine fundamentalistische Spielart des Christentums, sind es zwei Missionsschwestern aus Fellbach, die ihr immer noch ins Gewissen reden, wenn sie vom Weg ins Himmelreich abzukommen droht.

Die Einsicht, dass solche Instanzen trotz himmelweit unterschiedlicher Autorisierung oft sehr ähnliche Maximen vertreten, liegt nicht jenseits des Horizonts der Figuren. Stellas Großmutter stimmt mit Hamids Mutter, "dieser fremden Frau", darin überein, "dass Familie das Wichtigste ist". Wenn in jeder Familie Abwesende mit am Tisch sitzen, so laufen umgekehrt die Anwesenden Gefahr, übersehen zu werden, und zwar auch und gerade dann, wenn ihnen ohne Unterlass die liebevollste Aufmerksamkeit zuteilwird.

Eine Familie, das sind mehrere Personen, die sich als unzertrennliche Einheit empfinden. Was wird leicht übersehen an einer Person, die aus dieser Konstellation nicht wegzudenken ist? Dass sie Augen im Kopf hat: eine eigene Perspektive auf das Ganze der Familie und dessen menschliche Teile. Der Leser, den Anna Katharina Hahn an den Küchentisch in der Stuttgarter Ostendstraße einlädt, wo Elisabeth Geiger aushilfsweise für ihre beiden Enkel kocht, sieht das, weil die Erzählperspektive abwechselt. So sehen wir die Großmutter mit den Augen des kleinen Bruno. "Eli-Omi ist speziell. Sie fällt auf, wenn man mit ihr unterwegs ist, denn sie ist groß und dünn, redet laut, trägt fast immer lange Hosen und Anzugjacken und hat graue Haare, die wie ein Helm frisiert sind."

Das denkt sich jemand, der selbst speziell ist, der jämmerlich darunter leidet, dass er auffällt, wenn man mit ihm unterwegs ist. Bruno ist dick. Ihm kommt der Gedanke nicht, der sich dem Leser aufdrängt, dass lange Hosen im Straßenbild von Stuttgart-Ost doch gar nichts Auffälliges sind. Für den Jungen bezeichnet die eigene Mutter die Norm. Und Cornelia Geiger-Chatzis, Physiotherapeutin und geschiedene Frau eines in die Heimat seiner griechischen Vorfahren verzogenen Physiotherapeuten, trägt Shorts.

Sie ist nach New York gereist und lässt sich von ihrer Mutter am Herd vertreten, weil sie für ihre Regeneration eine Auszeit zu benötigen meint. In ihrem Reisetagebuch führt sie über ihren Zustand so unbarmherzig Buch, wie sie es in der Praxis gelernt hat. Der Eskapismus ihres Projekts liegt dergestalt offen zutage, und sie könnte sofort umkehren - was sie nach dem Eingang der ersten aufs Handy übermittelten Hiobsbotschaft aus der Alten Welt auch tut. Ein Augenblick genügt, um größte Entfernungen zu überwinden: Dank der Technik ist die Erfüllung dieses Versprechens der Märchen in unserer Zeit (noch) Alltag.

Cornelia kann in New York nicht alle Orte aufsuchen, die ihr aus Filmen und Büchern vertraut sind. So lässt sie den Besuch im American Museum of Natural History fort, den sie zu Ehren von Holden Caulfield geplant hatte, dem Helden von "Der Fänger im Roggen". Aber gerade indem sie der Trägheit nachgibt, tut sie es Holden gleich, der in Salingers Roman seinen Kindheitsort auch nicht wieder betritt, sondern sich mit dem Schwelgen in Erinnerungen begnügt.

Auf dem Weg zum Museum kommt Holden im Central Park an Kindern bei einer Wippe vorbei. Eines der Kinder ist dick, darum gesellt sich Holden hinzu, um dem einen Ende der Wippe sein Gewicht zu leihen. Im Hinterhof der Familie Geiger-Chatzis ist eine solche Geste des diskreten Ausgleichs alltäglich. Dort ist zwischen Sonnenschirm und Kastanienbaum eine Hängematte gespannt, und wenn Bruno hineinklettert, setzt Stella sich auf den Schirmfuß. Flüsternd hat sie das den Großeltern erzählt, "mit Verschwörermiene", als dürfte Bruno nichts merken vom Geschwisterliebesdienst. Wenn jemand seinen Platz räumt, sich davonmacht, ist das Gleichgewicht in der Familie nicht so einfach wiederherzustellen, obwohl das Schicksal sich bisweilen wiederholt: Nach Cornelia wurde auch Elisabeth von ihrem Ehemann und lebenslangen Geschäftspartner verlassen. Die alte Dame schämt sich ihres Unglücks und möchte es für sich behalten.

Ein Familiengeheimnis, das Elisabeth Geigers Mutter betrifft, deckt Cornelia in Amerika absichtslos auf, während Elisabeth auf der anderen Seite des großen Meeres gleichzeitig zum ersten Mal davon erzählt, indem sie eine Gute-Nacht-Geschichte für ihren Enkel aufschreibt. Sie kann erzählen, indem sie eine Erzählinstanz einschiebt: die von ihrer Mutter geerbte, aus Lumpen genähte Puppe. Ein genialer Einfall Anna Katharina Hahns: Dieser Linsenmaier, benannt nach seiner Füllung, ist keine Über-Ich-Figur; seine Objektivität stammt daher, dass die Ereignisse, von denen er berichtet, ihn in Mitleidenschaft gezogen haben.

Wieder, wie in den drei früheren Romanen von Anna Katharina Hahn, geht es um die Familie als das vielköpfige Wesen, das die Kräfte zu zerreißen drohen, die es zusammenhalten. Als Zaubermittel, das Distanzen ständig aufhebt und dadurch offenlegt, ist die elektronische Kommunikation hinzugekommen. Für das Befremdliche am ultimativen Näheverhältnis der Familie findet die Autorin eine Kette intensiver Bilder, von der Beschreibung des Ekels, den alltäglichste Verrichtungen auslösen können, bis zur tröstlichen literarischen Anspielung.

Das Totemtier der Geigers ist die Taube. "Eigenartig, wie diese Vögel an ihrer Heimat kleben, obwohl sie genug Flügelkraft und Intelligenz besitzen, um Hunderte von Kilometern zu fliegen und auch wieder zurückzufinden." Von den Vögeln im Museum, den ausgestopften und den an die Wand gemalten, denkt sich Holden Caulfield, dass sie alle so aussähen, als flögen sie nach Süden. Und stelle man sich auf den Kopf und betrachte sie von unten, wirke ihre Eile noch größer. In dieser Untersicht zeigt uns Anna Katharina Hahn die Familie.

PATRICK BAHNERS

Anna Katharina Hahn: "Aus und davon". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 308 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2020

LITERATUR
Scheidung auf schwäbisch
Gerade gibt es wieder Rückschläge bei der Verteilung der Fürsorgearbeit.
Anna Katharina Hahns Familienroman „Aus und davon“ zeigt, warum
VON MEIKE FESSMANN
Da kommt ein Roman daher, er heißt „Aus und davon“, es handelt sich um einen ganz normalen Familienroman, und trotzdem denkt man: das ist der Roman der Stunde. Klingt seltsam? Dann liegt es vermutlich daran, dass wir die alltägliche Reparatur gesellschaftlicher Kollateralschäden nicht so richtig ernstnehmen. Die Literatur war schon immer ein guter Seismograph für gesellschaftlichen Wandel, gerade dann, wenn sie ihn nicht bei den Hörnern packen wollte. Die alte Frage von Ferne und Nähe, Immaterialität und Leiblichkeit stellt sich zum Beispiel in der Corona-Pandemie mit neuer Dringlichkeit, auch jenseits von Virologie und Ansteckungsgefahren.
Der Roman beginnt mit einer zerbrochenen Ehe. Cornelia und Dimitrios kannten sich seit Kindertagen. Dimitrios Chatzis, in Stuttgart geboren, zieht es jetzt nach Griechenland, auch wenn es nach der Finanzkrise schwierig ist, dort als Physiotherapeut Geld zu verdienen. Sie verkaufen die nicht abbezahlte Wohnung. Cornelia zieht mit den beiden Kindern in eine Mietwohnung nach Stuttgart-Ost. Sie nimmt ihm die Trennung nicht übel, sie versteht ihn sogar. Doch der Ganztagsjob als Physiotherapeutin schlaucht sie ebenso wie die Kindererziehung. Stella, mitten in der Pubertät, lässt die Jungs tanzen und die Mutter abblitzen. Bruno, der ursprünglich unkomplizierte Jüngere, hat sich eine Fettschicht angegessen. Er wird gehänselt und gemobbt. Cornelia traktiert ihn mit Gewichtskontrollen und Ernährungsplänen. Sie fühlt sich als Versagerin: eine alleinerziehende Physiotherapeutin mit übergewichtigem Sohn.
Sie muss mal raus, das ist klar. Also plant sie eine Reise in die USA. Ihre Eltern, die früher ein Reisebüro in der Innenstadt hatten, versprechen einzuspringen. Dann bekommt ihr Vater einen Schlaganfall. Die Mutter will ihrer Tochter trotzdem helfen und manövriert sich in eine Überlastungssituation hinein, wie sie absolut gewöhnlich ist für weibliche Lebensläufe.
Anna Katharina Hahn, seit ihrem 2009 erschienenen Debütroman „Kürzere Tage“ Spezialistin für abgründige Familienromane, erzählt hier, was das heißt: Sorge, Fürsorge, Pflege, wenn sie weder in der „Regenjacke“ der Religion noch als Erwerbsarbeit stattfinden.
Stuttgart und der schwäbische Pietismus mit seiner Mischung aus Innerlichkeit, Pflicht, Verzicht und Wohltätigkeit sind zentral für Handlung und Bildwelten des Romans. Seine Gegenwart ist der Sommer 2017, er erzählt aber eine vielstimmige Familiengeschichte, die bis in die 1920er Jahre zurückgeht. Cornelias Großmutter, während der Hyperinflation als Dienstmädchen zu ausgewanderten Verwandten nach Meadville, Pennsylvania, geschickt, lernt auf dem Schiff ihren späteren Mann kennen, der aus einer streng pietistischen Familie stammt. Unterwegs tauscht sie auch ihre kostbare Porzellanpuppe gegen eine selbstgemachte Stoffpuppe: der „Linsenmaier“ ist ein großer Tröster. In der Tradition Hauffscher Märchen bekommt er eine eigene Erzählstimme.
Cornelia reist in „Auf und davon“ also nach New York und macht sich auf die Suche nach ihren Verwandten. Ihre Mutter Elisabeth ist zu den Kindern gezogen und befindet sich auch sonst in einer Ausnahmelage. Mit ihrem lebenslustigen Mann Hinz, einem aus Mainz stammenden Katholiken, wäre die Sache zu stemmen gewesen. Nachdem er sich vom Schlaganfall erholt hat, offenbart er ihr aber, dass er eine „Pause“ will. In den Turnschuhen, die sie ihm gekauft hat, damit er hinter dem Haus gehen üben kann, mit dem schicken Hemd, das er aus einem Breuninger-Prospekt ausgesucht hat, und der Krücke, die sie im Sanitätshaus für ihn besorgte, schlurft er freudig davon. Im Taxi erkennt sie den Schatten einer Frau. Sie heißt Annemarie, wie wir erfahren, wenn Hinz seiner Tochter stolz Selfies in die Staaten schickt. Er hat sie in der Reha kennengelernt. „Sie hat mich wirklich gesehen, alles an mir, als sei ich ein ganz anderer, ein neuer...“
Die bürgerliche Fassade der Wohlanständigkeit amalgamiert Hahn virtuos mit dem abwertenden Vokabular, das als Sediment des säkularisierten Pietismus in so mancher Schwabenseele schlummert. In erlebter Rede fängt sie ein, welche Ausdrücke Elisabeth durch den Kopf gehen, während sie stoisch ihren Mann, dieses „Schaf mit Alzheimer“, versorgt oder den „fetten Enkel“. Per WhatsApp ist die Tochter in den USA in den Ehekrieg der Eltern involviert. Die Fotos, mit der die Mutter zeigen will, dass sie alles im Griff hat, sind nicht beruhigend. Eine Pause vom Familienleben sieht anders aus.
Anna Katharina Hahn entfaltet ihre Themen erzählend, nicht diskursiv. Das trifft auf ihren mit Mörike-Motiven spielenden Roman „Am Schwarzen Berg“ ebenso zu wie auf „Das Kleid meiner Mutter“, mit dem sie 2016 die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Spanien schilderte und eine Art Generationen-Scharade ersann. Tiere spielen in ihren Büchern eine große Rolle. Das hat etwas mit ihrer auffordernden Präsenz, der Körperlichkeit, dem Taktilen zu tun, das begriffslos eine Antwort verlangt. Die Physiotherapeuten-Tätigkeit überhöht die 1970 geborene Schriftstellerin weniger als Brigitte Kronauer in ihrem Roman „Gewäsch und Gewimmel“ (2013). Aber auch Cornelia liest das Leiden der Anderen an deren Körpermalaisen ab.
Im Pietisten-Haushalt, aus dem ihre Mutter stammt, wurden immer Kranke gepflegt. Elisabeths Mutter hat Eltern und Schwiegereltern, Tanten, selbst Nachbarinnen klaglos und liebevoll versorgt. Sie tat es für einen höheren Zweck. Bei Elisabeth ist nur noch das Pflichtgefühl geblieben. Sie glaubt weder an Gott noch an Liebesdienste. „Sie war keine gute Pflegerin“, weiß sie über sich selbst, während ihre Tochter in der unbekannten Annemarie eine „Kümmerin“ vermutet.
Bis heute können sich Frauen dem Appell an ihre Verantwortung in Sachen Fürsorge schlechter entziehen als Männer, egal. Dimitrios macht sich ebenso selbstverständlich auf die Suche nach dem Glück (und findet eine griechische Ferienfreundin), wie Hinz die Gelegenheit beim Schopf packt, am Ende seines Lebens neu anzufangen, mit einer Frau, die ihn bewundert und fürsorglicher erscheint als die eigene. Frauen dagegen sind „in widersprüchlicheren Strategien von Anhänglichkeit und Distanzierung gefangen“, schreibt die Soziologin Eva Illouz in „Warum Liebe wehtut“ (2011). Wenn die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung Jutta Allmendinger kürzlich von einer „entsetzlichen Retraditionalisierung“ sprach, der Frauen durch die Corona-Krise ausgesetzt sind, hat das nicht nur miteinem meist geringeren Einkommen zu tun, sondern auch mit dieser Kopplung: Frauen lassen sich leichter in die Pflicht nehmen, wenn es um Fürsorge geht, auch wenn sie wissen, dass eine gerechtere Aufteilung unbezahlter Sorgearbeit wünschenswert wäre.
Die Digitalisierung erscheint in der Krise als Allheilmittel, mit dem sich die körperliche Distanzierung kompensieren lässt. Beim großen Aufwind, den sie gerade erfährt, ist es umso wichtiger, deutlich zu machen, warum Berufe und Tätigkeiten als systemrelevant gelten, die mit körperlicher Anwesenheit verbunden sind. Das gilt auch für jede Form häuslicher Pflege. Die Leiblichkeit des Menschen anzuerkennen, bedeutet auch zu sehen, dass sie Anwesenheit fordert. Dazu braucht es ein anderes Menschenbild, den Tieren näher als den Androiden, wie es Anna Katharina Hahn in ihrem klugen Roman zeichnet.
Anna Katharina Hahn: Aus und davon. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 308 Seiten, 24 Euro.
Abwertendes Vokabular tönt
als Sediment des säkularisierten
Pietmus in den Köpfen fort
Pflege braucht Anwesenheit. Und
ein Menschenbild, das näher bei
den Tieren als den Androiden ist
Anna Katharina Hahn, Jahrgang 1970, lebt in Stuttgart, ist hier aber vor dem Mainzer Dom zu sehen.
Foto: Eßling/imago
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»Ja, eine pietistisch und feministisch inspirierte Familiengeschichte ist Aus und davon auch, aber vor allem ist der Roman eine böse, satirische, schwarzromantische Fantasie in Callots oder eben hoffmannscher Manier. Zubereitet mit viel Mehl, Milch und Hefebrocken und größter Könnerschaft.« Hubert Winkels DIE ZEIT 20200702