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Fast alle seiner zahlreichen Bücher hat Iain Sinclair erwandert und dem Boden abgerungen. Dabei hat er zahlreiche Beobachtungen insbesondere von Stadtlandschaften gemacht und deren Veränderung dokumentiert. Zentrum seiner in England längst Klassiker gewordenen psychogeografischen Bücher ist London. Ein Buch aber bildet die Ausnahme: In Der Rand des Orizonts verlässt er die Stadt und macht sich gemeinsam mit seiner Frau auf, eine tief bewegende Wanderung zu unternehmen. Er durchmisst Flucht und Leid des Dichters John Clare, der sich mehr als 150 Jahre vor den beiden auf derselben Strecke von…mehr

Produktbeschreibung
Fast alle seiner zahlreichen Bücher hat Iain Sinclair erwandert und dem Boden abgerungen. Dabei hat er zahlreiche Beobachtungen insbesondere von Stadtlandschaften gemacht und deren Veränderung dokumentiert. Zentrum seiner in England längst Klassiker gewordenen psychogeografischen Bücher ist London. Ein Buch aber bildet die Ausnahme: In Der Rand des Orizonts verlässt er die Stadt und macht sich gemeinsam mit seiner Frau auf, eine tief bewegende Wanderung zu unternehmen. Er durchmisst Flucht und Leid des Dichters John Clare, der sich mehr als 150 Jahre vor den beiden auf derselben Strecke von seiner Schwermut und der Sehnsucht nach seiner drei Jahre zuvor verstorbenen Ehefrau zu heilen versuchte, aus der Nervenheilanstalt ausbrach und in einem Gewaltmarsch in sein Heimatdorf zurückwanderte. Die physische Anstrengung Sinclairs, das Erleben der über die Zeiten veränderten Landschaft, die Lektüre Clares in Gedanken machen diese autobiografisch-biografische Recherche zu einem tief bewegenden Erlebnis.
Autorenporträt
Iain Sinclair, geboren 1943 in Cardiff, ist ein britischer Schriftsteller und Filmemacher. Mit seinen frühen, v. a. lyrischen Veröffentlichungen in den 1960er- und 70er-Jahren bewegte er sich im Umkreis der britischen Avantgarde. Breitere Aufmerksamkeit erfuhr erstmals sein Roman Downriver (1991), der im selben Jahr mit dem James Tait Black Memorial Prize und 1992 dem Encore Award ausgezeichnet wurde. Zentraler Gegenstand sowohl seines literarischen wie auch filmischen Werkes ist London. In London Orbital (2002) etwa unternahm er entlang des Londoner Stadtautobahnrings eine vollständige Umrundung der Themsemetropole. Er gilt als Hauptvertreter der Psychogeografie, einer zeitgenössischen Variante des modernen Flanierens. Bei Matthes & Seitz Berlin ist Der Rand des Horizonts erschienen. Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, lebt in Berlin und in Battonya/Ungarn, nahe der Grenze zu Rumänien und Serbien. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u. a. Henry D. Thoreau, Lob der Wildnis). 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis. In dem Essayband Fremdsprechen (2013) reflektiert sie das Verhältnis von Texten und ihren Übersetzungen. Seit 2010 sind drei Gedichtbände erschienen: die ungerührte schrift des jahrs (2010), Aufbruch nach Patagonien (2012) und Naturschutzgebiet (2013). 2014 veröffentlichte sie den Roman Am Fluß, der ebenso wie ihr Roman Banatsko (2011) auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, und 2015 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Sie bekleidet im Wintersemester 2017/2018 die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin 2015 wurde ihr der Kranichsteiner Literaturpreis zuerkannt. Aus der Preisbegründung: »Am Fluß ist ein Roman von packender Intensität. Mit behutsamer Präzision nimmt Esther Kinsky armselige Geschäfte, schäbige Reihenhäuser, Stadtbrachen und sumpfige Treidelpfade in den Blick, entwirft die Topographie eines Londoner Vororts und stößt auf Spuren der eigenen Vergangenheit. Durch ihre bildhafte Sprache gewinnt sie den Randbezirken der Wirklichkeit, die zu Abbildern eines seelischen Zustandes werden, poetische Facetten ab. Ihre mäandrierenden Erkundungen folgen den Ausläufern des River Lea und spülen Geschichten von seltsamer Schönheit an die Oberfläche.« 2020 wurde sie mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2017

Vom Gehen
in der Natur
Zwei Bücher über das Leben und die Reisen
des englischen Romantikers John Clare
VON TOBIAS LEHMKUHL
John Clare zählt neben Samuel Taylor Coleridge, John Keats, Percy Bysshe Shelley und Lord Byron zu den bedeutendsten Dichtern der englischen Romantik. Dass er hierzulande kaum bekannt ist und seine Gedichte nicht übersetzt sind, liegt womöglich daran, dass es für ihn in Deutschland kein rechtes Pendant gibt. Ist die Naturdichtung eines Joseph von Eichendorff oder eines Novalis doch vor allem von der Sehnsucht nach der Natur geprägt, und hat die Natur selbst in der deutschen Romantik immer etwas märchenhaft Irreales, so speist sich die Lyrik John Clares aus unmittelbarem, auch recht handfestem Erleben.
In den nun von Esther Kinsky übersetzen Selbstzeugnissen berichtet Clare davon, wie er immer wieder die Orte aufsuchte, an denen ihm die besten Verse gelangen, wie er während der Arbeit mit Hacke und Pflug zwischendurch das eine oder andere notierte und wie er es erst nicht wagte, seine Gedichte der Familie vorzulesen und sie als Erzeugnisse anderer ausgab.
Irgendwann aber war er sich seiner doch so sicher, dass er einen Buchhändler suchte, der ein erstes Buch von ihm publizierte. Die „Poems Descriptive of Rural Life and Scenery“ wurden ein großer Erfolg, und Clare reiste das erste Mal nach London. Dort traf er einige der Literaturbetriebsgrößen seiner Zeit, Charles Lamb und William Hazlitt zum Beispiel. Thomas De Quincey widmete er ein kurzes Porträt: „Ein kleiner arglos & schlicht erscheinender jemand beinah wie ein zu gros geratnes kind gekleidet in einen blauen mantel & in ein schwarzes halstuch wunderlich mit dem hut in der hand so stiehlt er sich ganz leise in der geselschaft umher & sieht sich mit einem lächeln scheu im raume um - das ist de Quincey der Opium Esser & dieser abstruse denker in Logik & Metaphysik“.
Als Verweigerer der zunehmend standardisierten Schreibweisen, erklärt Esther Kinsky in ihrem Vorwort, scherte sich Clare nicht um Orthografie und verzichtete gänzlich auf Interpunktion. Die Phonetik war ihm wichtiger und wohl auch der natürliche Rhythmus des Sprechens. Wie Kinsky dieses Englisch ins Deutsche bringt, frei von jeglichem Manierismus und voller Einfallsreichtum, wäre unbedingt preiswürdig.
Der Autor Iain Sinclair nennt Clare heute einen „Improvisator, einen Free Jazzer, wenn es um Schreibung geht“. Der durch geopoetische Erkundungen Londons vor allem in der britischen Hauptstadt bekannt gewordene Sinclair hält sich zwar an grammatische Regeln, seinem Reisebericht „Am Rand des Orizonts. Auf den Spuren von John Clare ‚Reise aus Essex‘“, der zeitgleich mit Clares Erinnerungen und ebenfalls in der Übersetzung Esther Kinskys erscheint, ist allerdings auch etwas sprunghaft Unberechenbares zu eigen.
Bei der titelgebenden „Reise aus Essex“, die Iain Sinclair im Jahr 2000 auf die Spur des romantischen Dichters bringt, handelt es sich um einen Fußmarsch, den John Clare an vier Julitagen des Jahrs 1841 unternommen hat. Da war sein Erfolg längst vergessen, er verbitterte zusehends und verfiel in Depressionen. Seit vier Jahren bereits lebte er in einer psychiatrischen Anstalt nördlich von London. Aus der brach er schließlich aus, um die Heimreise anzutreten zu seiner eingebildeten Ehefrau Mary.
Etwa hundert Meilen ging er zu Fuß, wobei er schon am zweiten Tagen eine Schuhsohle verlor und nur noch humpelnd und hüpfend vorwärtskam, ohne Geld und Verpflegung, am dritten Tag so ausgehungert, dass er Gras aß und sich in einen Graben zum Schlafen legte: „beim niederlegen & und aufstehen sprach ich ein kurzes gebet für meine zwei frauen & ihre beiden fammilien & wie ich an vergagne schwierigkeiten in derlei lagen dachte konnte ich nicht anders als auch die Königin zu segnen“. Seine eigentliche Frau Patty klaubte ihn schließlich von der Straße auf und brachte ihn nach einigen Monaten in einer nahe gelegenen Anstalt unter, wo er 23 Jahre später starb.
Clares Wanderung, schreibt Iain Sinclair in „Am Rand des Orizonts“, sei der letzte Akt geistiger Klarheit gewesen. Die Faszination für den Dichter, eine mögliche Verwandtschaft der Ehefrau Sinclairs mit Clare und nicht zuletzt der Namensgleichklang haben ihn schließlich zu seiner Nachreise veranlasst. Sinclairs Bericht allerdings beginnt mit dem Ende der eigenen Reise, um dann eine Weile in die Biografie des Dichters einzutauchen, danach die ersten Reisetage zu rekapitulieren und schließlich bei Samuel Beckett und James Joyce zu landen (dessen Tochter, einst mit Beckett liiert, saß in derselben Anstalt ein wie John Clare).
Dieses Durcheinander hat durchaus Charme, und vor allem die Passagen „on the road“, entlang der „Great North Road“ nämlich, sind zuweilen äußerst witzig. Ohnehin birgt ein viertägiger Fußmarsch gemeinhin nicht allzu große Schrecken, auch wenn man schon über Sechzig ist wie Sinclair und „jahrelanges Schleppen von Bücherkisten und Kindern unter jedem Arm“ seine Spuren hinterlassen hat.
Die Landschaft besitzt freilich nichts mehr von der Anmut, die noch John Clare begegnet ist: Hektarweise Industriebrache und gelegentlich „ein pflichtschuldiger Reiher, der blutleer aus abgestorbenen Bäumen kippt wie ein schlecht zusammengebauter Drachen“. Auch die Zigeunerlager, die John Clare so gerne aufsuchte, sind längst verschwunden. Nur der Geist des Zigeunerlebens, die Lust am Aufbruch, ist geblieben.
John Clare: Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2017. 176 S., 22 Euro.
Iain Sinclair: Am Rand des Orizonts. Auf den Spuren von John Clare „Reise aus Essex“. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes und Seitz 2017, 272 S., 26 Euro.
John Clare wurde 1793 in dem Dorf Helpstone geboren. Neben dem Schreiben arbeitete er in einer Vielzahl von Berufen, unter anderem als Erntehelfer, Kalkbrenner und Anwaltsgehilfe.
Foto: Mauritius
John Constables „Der Heuwagen“, 1821 (Ausschnitt). Die Natur wurde von den Romantikern stark idealisiert.
Foto: Imago
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2017

Der ewige Fremdling

Diagnose "poetisches Posieren": John Clares "Reise aus Essex" konfrontiert den Leser mit einem so eigensinnigen wie tragischen Dichterleben.

Sollen wir uns diesen Mann als einen glücklichen Menschen vorstellen? In aller Frühe war er aufgebrochen, zu Fuß, allein, ohne Verpflegung und ohne ordentliche Schuhe, nur mit ein paar Büchern im Gepäck. Er war auf der Flucht. Hinter ihm lag die Anstalt, in die er wegen Irrsinns eingewiesen worden war, vor ihm die Hoffnung, nach vier Jahren endlich wieder in sein Heimatdorf Helpston zu kommen. Mehr noch als nach Frau und Kindern sehnt er sich nach einer Jugendliebe namens Mary; in unzähligen Gedichten hat er sie besungen und verklärt. In der ersten Fluchtnacht träumt er schon wieder von ihr: "mir dünckte ich hörte beim aufwachen jemanden sagen ,Mary' doch niemand war in der nähe". Zum Schlafen hat er sich gewissenhaft mit dem Kopf nach Norden hingelegt, um sich morgens gleich die Richtung für den weiteren Weg zu weisen. Hier verlässt sich jemand ganz auf sich und seine Selbstressourcen.

Vier Tage war John Clare im Juli 1841 unterwegs, lief mehr als hundert Meilen von Essex nach Northamptonshire, ernährte sich von Gras, das er so lange kaute, bis es ihm wie Brot vorkam, mied sämtliche Gesellschaft und gelangte schließlich, hungernd und zerschunden, an sein Ziel. Kaum zu Hause, war das Erste, was er tat, das Journal, das er stets bei sich führte, fortzusetzen und die Eindrücke von seiner Wanderung festzuhalten. So entstand die "Reise aus Essex", ein knapper, skizzenhafter Text, der zusammen mit den anderen autobiographischen Fragmenten, die von Clare überliefert sind, zu den eigentümlichsten und spannendsten Selbstzeugnissen zählt, die man je gelesen hat.

Das Schreiben war für diesen Autor nichts weniger als Existenzvergewisserung, ein Rettungsring, an den er sich mit unglaublicher Kraft und desto fester klammerte, je heftiger das Alltagsleben mit ihm umsprang. Und es gab viele Umschwünge und schicksalhafte Wendungen, die ihm zu schaffen machten. Mit Leidenschaft, fast manischer Besessenheit hat er versucht, sie allesamt in Sprache oder Versen zu fixieren und sich auf diese Art zugleich seine ganz eigene, bessere Welt zu erschreiben. So war für ihn das Dichten immer sowohl Rettungsversuch wie auch der Treibsatz neuen Wahns. Fünf Monate nach seiner Flucht wurde Clare erneut in eine Irrenanstalt eingewiesen; zur Frage nach der Vorgeschichte seiner Geisteskrankheit findet sich in den Akten der vielsagende Vermerk: "andauerndes poetisches Posieren". Offenkundig war der aufnehmende Arzt kein Lyrikfreund.

Zwei Jahrzehnte zuvor war John Clare noch die Sensation der Londoner Literatenszene: ein Bauernjunge ohne nennenswerte Schulbildung, ein Tagelöhner, Gärtner, Viehhirte und Fiedler, der berückende Naturgedichte schrieb, das Landleben in wunderbare Verse fasste und sogar formgerecht Sonette produzieren konnte - ganz der Geschmack der Zeit! Der romantischen Ästhetik, die das Naturgenie erfunden hatte und Dichtung für den Ausfluss volkstümlich-ungelehrter Inspiration hielt, gab dieser junge Mann das beste Lebendbeispiel solcher Kunst: ein edler Wilder aus der mittelenglischen Provinz. 1820 erschien die erste Sammlung seiner Verse im Druck, drei weitere folgten.

Doch diese Zeit des Ruhms - Clare war Mitte zwanzig - ging rasch zu Ende. Das literarische London mit seinen Matadoren und Rankünen, von denen er im Journal mit Verwunderung berichtet, blieb ihm vollständig fremd; dazu verstrickte er sich in Geschäfte, die ihn überforderten: "Wie der arme im fegefeuer gefangne der griechischen mythologie habe ich nunmehr neun jahre lang hofnungen auf diesen berg der verheisungen gerollt welche sich mir zu anfangs in freundlichen andeutungen boten & oftmals wollt es scheinen dass ich den gipfl endlich erreicht bis alle hofnungen doch wieder mitsamt allem anderen zu tale rolten", notiert er in seiner ganz eigenen Schreibweise; "& immer noch bin ich blos ein fremdling in einem fremden land".

Umso inbrünstiger entwirft er seine Vision eines idealen Landlebens, die von Erinnerungen ans verlorene Paradies der Kindheit zehrt. Wie alle großen Romantiker war Clare in erster Linie Selbstverteidiger. Eigentlich entdeckt wurde er im zwanzigsten Jahrhundert, seine überragende Bedeutung für die Literatur der Moderne ist unbestritten. Das kurze Gedicht aus der Anstalt beispielsweise (das den vorliegenden Band beschließt), wo er mehr als zwei Jahrzehnte in Gefangenschaft, wie er es empfand, verbringen musste, bis er 1864 starb, steht den größten dieser Art wie Oscar Wildes "Ballade vom Zuchthaus zu Reading" nicht nach. Knapp zehntausend Manuskriptseiten sind von ihm überliefert, erst zum Teil überhaupt entziffert und veröffentlicht. Jetzt erscheint erstmals eine Auswahl auf Deutsch.

Der Herausgeberin und Übersetzerin Esther Kinsky ist das Kunststück geglückt, uns diesen faszinierenden Sonderling auf eine Weise nahezubringen, die seiner Fremdheit nicht die Würde nimmt, ihn also nicht eilfertig vereinnahmt und doch plastisch vermittelt. Wie alle, die Clares Schriften für den Druck bearbeitet haben, steht sie vor der Grundsatzfrage, ob sie das Rauhe, Regionale oder schlichtweg Idiosynkratische seiner seltsamen Sprachgebung abschleifen oder erhalten und damit ausstellen soll. Hierbei hält sie wunderbar Balance in einer deutschen Kunstsprache, die das Eigentümliche sehr klar markiert, ohne zu exotisieren.

Dazu gibt es als Komplementärband eine weitere Entdeckung: Der britische Kulturschriftsteller Iain Sinclair (Jahrgang 1943, hier ebenfalls erstmals ins Deutsche übersetzt), der vor allem durch seine Erkundungen der Londoner Großstadtwirklichkeit bekannt wurde, begibt sich auf die Spurensuche von John Clare und bietet sich als Fremdenführer in der versunkenen Welt des romantischen Vorgängers an. Die Route von Clares Flucht aus Essex wandert Sinclair erneut ab und hält in seinem Buch die Eindrücke, Beobachtungen, Assoziationen, Lektüren und Gedanken fest, die aus dieser Unternehmung folgen. Was dabei herauskommt, ist eine durchaus einnehmende, aber auch ziemlich wirre Mischung aus Reisebericht, Literatur- und Landeskunde, Geschichtsreflexion sowie allfälliger Zivilisationskritik. Das Grundprinzip ist Abschweifung, und meistens folgt man ihm ganz gern. In den stärksten Passagen mag man sich an W. G. Sebalds Wallfahrt durch Ostengland in "Die Ringe des Saturn" erinnern.

Auf seiner Reise 160 Jahre früher fand John Clare nie das eigentlich ersehnte Ziel. Bei der Ankunft in Helpston sagte man ihm, was er erst nach langem Zögern glauben wollte: dass Mary schon seit Jahren tot war. "so also bin ich nun hier heimatlos in meinem heim & halb zufrieden zu empfinden dass ich an jedem orte glücklich sein könnte". So schließt der Bericht. Seither gilt uns das Glück als seinen Lesern.

TOBIAS DÖRING

John Clare: "Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse".

Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 172 S., geb., 22,- [Euro].

Iain Sinclair: "Der Rand des Orizonts". Auf den Spuren von John Clares ,Reise aus Essex'.

Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 272 S., geb., 26,- [Euro].

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