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Wie kann man nach der Entführung des Vaters unabhängig werden, wenn man ständig bedroht und bewacht wird?
Dieser Coming-of-Age-Roman ist eine Offenbarung: Nie ist auf so selbstironische und komische Art über den Wunsch nach Freiheit und Normalität geschrieben worden. Während zu Hause nichts mehr ist wie früher, aber keiner darüber spricht, kann Johann keinen Schritt vor die Tür tun, ohne ihn vorher anzukündigen. Sobald er im Freien ist, steht er unter Beobachtung. Genau diese Überwachung muss er aber vor Freunden, in der Schule, bei Nebenjobs und Dates und auf Partys verheimlichen. Das…mehr

Produktbeschreibung
Wie kann man nach der Entführung des Vaters unabhängig werden, wenn man ständig bedroht und bewacht wird?

Dieser Coming-of-Age-Roman ist eine Offenbarung: Nie ist auf so selbstironische und komische Art über den Wunsch nach Freiheit und Normalität geschrieben worden. Während zu Hause nichts mehr ist wie früher, aber keiner darüber spricht, kann Johann keinen Schritt vor die Tür tun, ohne ihn vorher anzukündigen. Sobald er im Freien ist, steht er unter Beobachtung. Genau diese Überwachung muss er aber vor Freunden, in der Schule, bei Nebenjobs und Dates und auf Partys verheimlichen. Das scheint sogar zu gelingen, er findet eine Freundin, probt mit seiner Band und bekommt einen Plattenvertrag. Aber er gerät ständig in groteske und peinliche Situationen, weil er gezwungen ist, unehrlich zu sein. Die Ausreden, Halbwahrheiten und Notlügen drohen ihn zu erdrücken. Kann er diesem Lügenleben entkommen?

»Berührend und mit lakonischem Witz« 3SAT "Kulturzeit"

»Eindringlich sagt man, wenn ein Buch noch lange nachhallt. Wenn man es nicht fassen kann, was einer da auf 329 Seiten zwischen zwei Buchdeckel packt.« WDR2 "Themen"
Autorenporträt
Johann Scheerer, geboren 1982, gründete mit fünfzehn Jahren seine erste Band, nahm mit »Score!« 1999 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. Nach dem Abitur bekam er einen Plattenvertrag für sein Soloprojekt »Karamel« und gründete 2003 das Tonstudio »Rekordbox«. Seit 2005 betreibt er das Tonstudio »Clouds Hill Recordings« mit angeschlossenem Label und Musikverlag "Clouds Hill".
Johann Scheerer arbeitet als Musikproduzent mit international renommierten Musikerinnen und Musikern wie Omar Rodríguez-López, At the Drive-In, Alice Phoebe-Lou, Gallon Drunk, Rocko Schamoni oder Peter Doherty. » It´s magic what this young German did to my songs. He saved my life.« Peter Doherty // The Libertines, Babyshambles.
2018 erschien sein hochgelobter erster Roman »Wir sind dann wohl die Angehörigen«.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2021

Erzählen, um zu leben
In seinem zweiten Buch verhandelt der Musikproduzent und Sohn Jan Philipp Reemtsmas weiter die Entführung seines Vaters
und geht der Frage nach, was es heißt, zum Opfer geworden zu sein. Ein Treffen in seinem Studio in Hamburg
VON VERENA MAYER
Johann Scheerer nimmt das Handy der Reporterin und richtet es so aus, dass bei der Tonaufnahme beide Stimmen gleich gut zu hören sind. Scheerer, 38, Jeanshemd, Bart, tätowierte Arme, weiß, was er tut. Er ist Musiker und Produzent und lebt davon, Dinge aufzuzeichnen. Schon als Teenager hatte er eine eigene Band, samt Plattenvertrag bei einem Major-Label, seit 16 Jahren betreibt er eines der größten Tonstudios in Deutschland, Musiker wie Pete Doherty oder Omar Rodríguez-López haben hier an ihren Songs gearbeitet. Wäre nicht Corona, würde Scheerer jetzt vielleicht nicht in einem schallisolierten Studioraum sitzen, sondern nach Los Angeles fliegen, um Deals abzuschließen. Alltag im Musikbusiness.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Scheerers Leben ist auch mit einem der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands verknüpft, der Entführung von Jan Philipp Reemtsma. Johann Scheerer ist der Sohn des Germanisten und Gründers des Hamburger Instituts für Sozialforschung, er war 13, als sein Vater vom Grundstück der Familie in Hamburg gekidnappt wurde und seine Mutter 33 Tage damit verbrachte, zusammen mit der Polizei und privaten Vermittlern eine Lösegeldübergabe zu organisieren. Über die quälende Zeit hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben, es heißt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ und rollt jenen Teil des Kriminalfalls auf, der in der Berichterstattung meistens untergeht: Was ein solches Verbrechen für diejenigen bedeuten, die damit leben müssen.
Auch sein zweites Buch handelt davon. „Unheimlich nah“ setzt dort ein, wo das letzte aufgehört hat, der jugendliche Protagonist muss jetzt mit den Folgen der Entführung zurechtkommen. Mit der ständigen Beobachtung durch die Medien, den Tuscheleien in der Schule und vor allem den Sicherheitsvorkehrungen, die seine Familie nach der Freilassung des Vaters trifft. Das Haus in Hamburg-Blankenese wird zur Festung umgebaut, Sicherheitsleute gehen aus und ein, der Junge darf keinen Schritt mehr alleine tun. Wenn er zur Schule geht oder mit dem Hund raus, sind immer Personenschützer dabei. Er muss lernen, sich gegen Angreifer zu wehren und seine Post auf Bomben zu untersuchen. Das zwar behütete, aber bis dahin ziemlich normale Leben des Ich-Erzählers ist auf den Kopf gestellt. „Und dann noch dieses neue Wort: Schutzperson. Im Klang dieses Wortes schwang so viel mit: Geborgenheit, Gefahr, Anonymität. Personenschutz und Schutzperson. Das war ja schon fast ein Kalauer. Fehlte nur noch Patronenschutz und Schutzpatron.“
Es sei ihm wichtig, diese Geschichte weiterzuerzählen, sagt Scheerer. Um den True-Crime-Storys etwas entgegenzusetzen, die es über den Fall Reemtsma gibt, gerade sei im ZDF wieder eine Doku herauskommen, „da erzählt nur die Polizei das übliche Blech“. Scheerer duzt einen nicht, wie das in der Musikbranche üblich ist, er spricht in wohlartikulierten Sätzen, denen man den bildungsbürgerlichen Hintergrund anhört. Das Aufwachsen mit einem Vater, den Scheerer als jemanden beschreibt, für den Bücher Lebensinhalt sind. Beim Skifahren hatte er ein Reclam-Heft im Anorak stecken, und selbst während seiner fünfwöchigen Geiselhaft schrieb er in Briefen an seinen Sohn die Bücher auf, die dieser lesen sollte.
Vor allem aber, sagt Johann Scheerer, entspreche es seinem Verständnis von Kunst, dorthin zu gehen, wo es unangenehm ist, ins Innere, in die eigene Schwäche. Er rate das auch seinen Künstlern. Wenn jemand wie Pete Doherty etwa den Ton nicht gut halten könne, dann wolle er, dass man genau das hört. Und bei ihm sei das nun mal die „Verbrechensgeschichte“, das Gefühl, zum Opfer geworden zu sein. Etwas, das die allermeisten Menschen nicht nachvollziehen können. Viele würden das, was er beschreibt, für ein Luxusproblem halten, sagt Scheerer. Er weiß noch, wie die Moderatorin bei einer Podiumsdiskussion einmal zu ihm sagte, es sei ja alles gut ausgegangen. „Aber wenn man Opfer wird, ist es per se nicht gut ausgegangen.“
Es gibt zahlreiche Bücher von Opfern von Entführungen oder deren Angehörigen. Natascha Kampusch erzählt in „3096 Tage“ über die acht Jahre, die sie in einem Keller gequält wurde. Die Journalistin Anne Ameri-Siemens lässt in „Für die RAF war er das System, für mich der Vater“ die Betroffenen des Terrors zu Wort kommen, unter anderem die Passagiere der entführten Lufthansa-Maschine Landshut. Auch Jan Philipp Reemtsma hat 1997 über seine Erfahrungen geschrieben, das Buch „Im Keller“. Oft geht es in diesen Texten darum, das Erlebte zu verarbeiten oder die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu erlangen. Scheerer geht noch einen Schritt weiter. Er nimmt das, was er erlebt hat, als Anlass zur Fiktion, als Stoff, aus dem man Literatur machen kann, in diesem Fall: einen Coming-of-Age-Roman.
Sein Erzähler ist ein typischer Teenager. Er will coole Musik hören oder selber machen, Alkohol ausprobieren, Mädchen (später auch Jungs) aufreißen und ganz generell möglichst wenig mit den Eltern zu tun haben. Er trägt Punk-Klamotten, hängt mit seiner Indie-Band ab und zieht nachts über die Reeperbahn. Scheerer gelingt es, einen ganz bestimmten Aspekt der Jugend einzufangen: Dass man sich selbst Bezugssystem genug ist. Was in der Welt, in der Familie passiert, ist weit weg und klein, jede Pore an sich selbst groß und wichtig. Der Ich-Erzähler scannt sich permanent bis ins letzte Detail ab, nimmt das Pochen in seinem Kopf wahr, den Geruch seiner Kleidung, das Gefühl, wie in dieser Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein alles irgendwie verrutscht ist. „Ich war mehr als gespalten, wenn es zu meiner Einstellung kam. Eher zersplittert. Es tobte ein Dreifrontenkrieg. Nicht nur optisch fühlte ich mich nicht richtig zusammengefügt. Meine Teile passten weder außen noch innen.“
Manche Dinge des Coming-of-Age-Genres bleiben dabei auf der Strecke, die Sprache kippt vom Hamburger Jugendslang hin und wieder ins Altkluge, und es fehlt dem Erzähler ein wenig von der aggressiven Nervigkeit, die seit Holden Caulfield zur Default-Einstellung jugendlicher Antihelden gehört. Dafür hat der Roman ein außergewöhnliches Setting. Wo andere Romanfiguren nur gegen Mauern der Innerlichkeit rennen, ist dieser Ich-Erzähler mit richtigen Mauern konfrontiert, mit Zäunen und Sicherheitsanlagen.
Das sei der schwierigste Teil beim Schreiben gewesen, erzählt Scheerer, all diese Security-Technik und Routinen der Personenschützer in ihren ermüdenden Abläufen darzustellen. Genau sie sind es aber, die den Roman so besonders machen. Allein die Bodyguards, mit deren Vorstellungen von Männlichkeit der Junge mithalten will. Er lässt sich ihre Waffen zeigen, ahmt ihren Slang nach, genießt es, sich wie in einem Kriegsfilm zu fühlen. Gleichzeitig will er diesem Apparat entfliehen, ein normaler Teenie sein.
Dieses Spannungsfeld ist einerseits ein Quell der Situationskomik, etwa, wenn der Erzähler im Kino knutscht und aus dem Augenwinkel immer abcheckt, ob ihn der Personenschützer in den Reihen hinter ihm beobachtet. Oder wenn beim Einparkenlernen in der Fahrschule jedes Mal schon ein Auto da ist, das anscheinend in dieselbe Parklücke will und der Fahrlehrer, der nicht weiß, dass es das Fahrzeug der Personenschützer ist, sich fragt, wie viel Pech man beim Autofahren eigentlich haben kann. Vor allem aber erzählt „Unheimlich nah“ von einer tiefen Zerrissenheit. Von den Schuldgefühlen, die einen überkommen, wenn man sich von zu Hause ablösen will, obwohl die traumatisierten Eltern mehr denn je einen normalen Familienalltag bräuchten. Vom zermürbenden Doppelleben, das man führen muss, wenn man bewacht wird wie ein Mafia-Staatsanwalt, das Umfeld davon aber so wenig wie möglich mitbekommen soll.
Dies sei ein Kapitel seines Lebens, über das er sehr lange die Unwahrheit gesagt habe, erzählt Scheerer, aus Sicherheitsgründen auch sagen musste. Wie sehr es seinen Alltag bestimmte, hat er an den Reaktionen auf sein erstes Buch gemerkt. Kollegen und Freunde seien erleichtert gewesen, dass es endlich raus sei, dieser „Elefant im Raum“, wie er es nennt, einen Namen hat, thematisiert werden kann. Hat er einen Rat für solche Situationen? „Nachfragen, was eigentlich genau passiert ist“, sagt Scheerer. „Natürlich gibt es Opfer, die nie wieder reden wollen, aber es ist trotzdem nicht schlimm zu fragen. Man kann ja auch fragen, ob man fragen darf. Das ist ein guter erster Schritt, denn Opfersein ist schambehaftet, egal, ob man in einer Prügelei war, das Handy abgezogen wurde oder Schlimmeres passiert ist.“ Und Opfersein hört nicht auf, es zerrüttet ein Leben auch dann noch, wenn die eigentliche Tat lange überstanden ist.
Scheerer steht auf und macht eine Führung durch sein Studio. Es liegt in einem ehemaligen Lagerhaus in einem Hamburger Arbeiterviertel, in dem man schon die ersten Spuren der Gentrifizierung sieht. Eine loftartige Etage, vollgepackt mit Designklassikern aus den Sechzigerjahren, Schlagzeug und leeren Bierkisten. In einem Schrank mit E-Gitarren hängt ganz links die rote Gibson ES-335, die Scheerer während der Entführung von seiner Mutter geschenkt bekam. Er nutzte sie, um sich mit Musik abzulenken, so wie er jetzt das Schreiben nutzt, um die Vergangenheit in die Fiktion zu bannen, dorthin, wo er sie am besten kontrollieren kann. Oder wie es die amerikanische Autorin Joan Didion einmal ausdrückte: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“
Und was sagt seine Familie eigentlich zu seinen Büchern? Sie finde sie gut, sagt Scheerer. Weil Bücher in der Familie alles sind, der Austausch über Bücher stattfinde. Und weil es fast schon Ironie des Schicksals sei, dass er diese Geschichte in Literaturform brachte, als Sohn eines Mannes, „der immer wollte, dass ich mir Dinge lesend aneigne“.
Der Junge muss lernen, sich
gegen Angreifer zu wehren und
Post auf Bomben zu untersuchen
Es entspreche seinem Verständnis
von Kunst, dorthin zu gehen,
wo es unangenehm ist
Opfersein hört nicht auf,
es zerrüttet ein Leben auch noch,
wenn die Tat überstanden ist
Verarbeitung eines
Lebenstraumas: In bisher zwei Büchern hat Johann Scheerer die Entführung seines Vaters thematisiert.
Foto: Matthias Haslauer/picture
alliance/Matthias Hasl
Johann Scheerer:
Unheimlich nah.
Roman.
Piper Verlag,
München 2021.
331 Seiten, 22 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Rezensentin Shirin Sojitrawalla begreift diesen autofiktionalen Roman als Fortsetzung des Debüts "Wir sind dann wohl die Angehörigen", in dem Johann Scheerer die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma verarbeitete. Für sie beschreibt der Autor hier eindrücklich, wie die präventive Dauerbewachung nach der Entführung seine Pubertät beeinflusste: auf der einen Seite das Verlangen nach Freiheit, auf der anderen das Bonding mit dem Sicherheitspersonal als Mittel zur Emanzipation von den Eltern. Die erzählerische und psychologische Kraft macht die Geschichte dieses außergewöhnlichen Aufwachsens zu Literatur, lobt die Kritikerin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2021

Frei sein im Kontrollraum

Johann Scheerer erzählt, wie nach der Entführung seines Vaters für ihn eine Jugend mit Personenschutz begann: "Unheimlich nah"

Wenn spektakuläre Verbrechen geschehen, wird im Nachhinein oft die Geschichte der Opfer erzählt. Oder die Geschichte der Täter rekonstruiert. Was die Öffentlichkeit seltener erreicht, sind die Geschichten der Angehörigen der Opfer, die davon berichten, in welcher Weise das Verbrechen ihr Leben verändert hat - manchmal für immer. Im Umgang mit den terroristischen Verbrechen der RAF war gerade deshalb das Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" der Journalistin Anne Siemens, das im Jahr 2007 erschien, ein Paradigmenwechsel. Die Mitglieder der RAF waren auf eine fast zynische Weise zu Berühmtheiten geworden, ihre Fotos zu Ikonen, während das Buch erstmals die Perspektive konsequent umdrehte, die Angehörigen der Opfer des Linksterrorismus in den Blick nahm und sie zu Wort kommen ließ. Jedenfalls jene, die sich äußern wollten. Die Witwe von Alfred Herrhausen, des ehemaligen Vorstandssprechers der Deutschen Bank, der 1989 bei einem Autobomben-Attentat ums Leben kam, zu dem sich wenig später die RAF bekannte, hatte sich 2001 schon geöffnet, als der Regisseur Andres Veiel für seinen Film "Black Box BRD" Herrhausens Geschichte nachzeichnete. Veiel erzählte parallel dazu aber auch die eines Täters, des RAF-Terroristen Wolfgang Grams, dem er genauso viel Platz einräumte.

"Wir sind dann wohl die Angehörigen" hieß vor drei Jahren das Buch eines jungen Autors, dessen Name nicht besonders berühmt klang und auch nicht berühmt klingen sollte. In der Musikszene in Hamburg kennt man den Musiker und Produzenten, der 2003 das Tonstudio Rekordbox, zwei Jahre später Clouds Hill Recordings gegründet hat, wo Pete Doherty, At the Drive-In oder Omar Rodríguez-López schon Alben produziert haben. Er heißt Johann Scheerer, trägt den Namen seiner Mutter - und ist der Sohn von Jan Philipp Reemtsma, dem Germanisten und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Er war dreizehn Jahre alt, als sein Vater am 25. März 1996 auf seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese entführt und 33 Tage in einem Keller festgehalten wurde. Reemtsma veröffentlichte 1997 das Buch "Im Keller" über diese Entführung und über seine Gefangenschaft. Einen "zerstörerischen Einbruch", eine "Vergewaltigung" und "Exterritorialität" nannte er darin den Keller, der in seinem Leben bleiben werde und doch nicht zu einem Teil des Lebens zu machen sei.

Knapp zwanzig Jahre später beschrieb sein Sohn Johann in "Wir sind dann wohl die Angehörigen" seine Version dieser 33 Tage. Er erzählte, wie sich sein Elternhaus in eine Einsatzzentrale, einen permanenten Konferenzraum verwandelte. Wie alle darauf warteten, dass etwas passierte. Dass das Telefon klingelte, die Entführer sich wieder meldeten, ein Lebenszeichen des Vaters eintraf, die Geldübergabe endlich glückte. Wie jedes Zeichen, jeder Buchstabe, der sie von dem Entführten erreichte, exzessiv auf mögliche Bedeutungen und Interpretationen abgetastet wurde. Und er beschrieb auch, wie mit der Entführung des Vaters so etwas wie Privatheit für ihn abhandenkam. Allerdings hielt man deren Wiedergewinnung, wenn davon auch nicht explizit die Rede war, am Ende nicht für ausgeschlossen. Zu Unrecht, wie sich zeigt.

Denn Johann Scheerer hat jetzt die Fortsetzung dessen geschrieben, was er vor drei Jahren begonnen hat. "Unheimlich nah" heißt das neue, in diesen Tagen erscheinende Buch, das nach der Entführung einsetzt. Die Familie - das sind der Vater, die Mutter und der Sohn - ist nach der Befreiung im April 1996 zunächst nach New York gereist. Amerika bietet ihnen Anonymität und die Gewissheit, nicht verfolgt zu werden, weder von Verbrechern, noch von Trittbrettfahrern, noch von Journalisten. Während ihrer Abwesenheit werden am Haus in Hamburg Blankenese bereits Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Objektschützer erwarten sie, als sie nach Hause zurückkehren. Und sind nicht allein. Es warten auch die neu eingestellten Personenschützer, auf die die Eltern Johann im Taxi in Manhattan bereits vorzubereiten versucht haben. "Ich würde jemand mit Bodyguards sein", hatte dieser gedacht und sich gefragt, was solche Sicherheitsleute wohl anhaben würden. Zurück in Hamburg, begreift er: "Die Personenschützer kommen mit, wenn ich mit dem Hund rausgehe, und die Objektschützer sitzen im Auto vor der Gartenpforte und begrüßen mich freundlich, sobald ich das Grundstück wieder betrete." Er fühlt sich wie zu Gast im eigenen Haus und stellt sofort die richtige Frage: "Konnte es sein, dass das hier für immer würde bleiben müssen?"

Johann Scheerer ist zu Beginn dieser neuen Erzählung vierzehn Jahre alt, er will raus, frei sein, ohne die Eltern los, und genau in diesem Moment des Aufbruchs beginnt die permanente Abschirmung, die er, sosehr er ihre Notwendigkeit in guten Momenten auch einsieht, nicht anders als Überwachung und Kontrolle empfinden kann. Schon die Wochen der Entführung hatten ihn mit der Mutter in einer Zeit eng zueinander gebracht, in der er viel lieber Abstand gesucht hätte. Sie verstanden einander, kommunizierten wortlos miteinander, doch war die Nähe auch eine Belastung, die er jetzt lieber abschütteln würde. Zur Schule wird er von nun an aber chauffiert. Sobald er das Haus verlässt, fährt ein schwarzer BMW vor. Jeder Nachmittag mit seinen Freunden wird zu einer Aufgabe mit Anleitung. Können die anderen gedankenlos und übermütig sein, kommt er sich vor wie ein Bedenkenträger. Und fährt die Familie nach Portugal in die Ferien, kommen nicht nur die nervigen Bücherkoffer des Vaters mit, mit denen dieser dann für den Rest des Urlaubs verschwindet, sondern auch die Security, die um sie herum scheinbar geheim kommuniziert.

"Wie übermächtig musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?", fragt Johann Scheerer. Er lässt sich von den Sicherheitsleuten ein Mofa frisieren und versucht, ihnen davonzufahren. Er gerät nachts beim Ausgehen in Prügeleien und weist die ihn stets beobachtende Security an, nicht einzuschreiten (oder nur kurz bevor er totgeschlagen würde). Er bittet die Bodyguards, ihm ein paar Selbstverteidigungstricks beizubringen ("Personenschützer unterrichtet Schutzperson in Selbstverteidigung. Diesen Satz musste man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen"). Er findet seine ersten Freundinnen, die ihn für verwöhnt und egozentrisch halten und sein Problem nicht sehen. Er fragt sich, wie viel Punk möglich ist, wenn vor jedem Auftritt seiner Band Sicherheitsleute mit Veranstaltern alles abklären. Und misstraut den Statistiken, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entführung in einer Familie steigt, wenn schon mal jemand entführt worden ist; bis er nachts nach Hause kommt, das Haus von drei Polizeiautos und einem Krankenwagen umstellt wie ein Tatort, weil ein Unbekannter über den Zaun geklettert ist, direkt vor dem Fenster seines Zimmers.

Frei sein im Kontrollraum, das ist sein Dilemma. Was Johann Scheerer dabei mit den Dramen anderer Angehöriger von Verbrechensopfern teilt - wie auch mit den Opfern selbst, die die Verbrechen überlebt haben -, ist, dass er die Entführung, "den Keller", wie sein Vater, nicht mehr loswird. Es ist ein Gefühl, gezeichnet zu sein, das in der eigenen Familiengeschichte noch einen anderen Echoraum hat und weiter zurückreicht als bloß in die neunziger Jahre. Jan Philipp Reemtsma ist der Sohn des Zigarettenfabrikanten Philipp Fürchtegott Reemtsma, der im Nationalsozialismus Wehrwirtschaftsführer war und sein Zigarettenimperium durch große Geldspenden an Hermann Göring abgesichert hatte. Der Vater starb, als Jan Philipp Reemtsma sieben Jahre alt war. Mit 26 durfte er über sein Erbe verfügen und verkaufte seine Anteile an der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH, zu der er seit 1980 keine Verbindungen mehr hat. "Immer schon, das wusste ich aus Zeitungsartikeln", schreibt Johann Scheerer in "Unheimlich nah", "war mein Vater der Erbe gewesen. Er konnte das Institut für Sozialforschung aufbauen, die Wehrmachtsausstellung auf die Beine stellen, Fachliteratur und Belletristik-Bestseller schreiben - in den Zeitungen war er Zigarettenerbe. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass er schon als Kind von Erwachsenen so behandelt worden war."

Johann kriegt solche Anspielungen auf dem Schulhof auch zu hören: "Ey, Reemtsma, warum rauchst du eigentlich nicht? Du bekommst doch bestimmt so viel Zigaretten wie du tragen kannst!" Es irritiert ihn. Die Verbindung zum "Keller" geht ihm aber erst auf, als der Vater sich im Gespräch mit dem Sohn endlich öffnet. Ob er sich daran erinnere, dass die Mutter sich bei den Entführungsverhandlungen gegen die Markierung des Lösegeldes entschieden habe, die das Geld und die Menschen, die damit in Kontakt kamen, verfolgbar gemacht hätte? So eine Art blaue Farbe an den Geldscheinen. Es gebe Momente, in denen er manchmal denke, dass es diese Markierung trotzdem gegeben habe, obwohl sie sie nicht haben wollten, lässt Johann Scheerer Jan Philipp Reemtsma in "Unheimlich nah" sagen: "Irgendwie hat sie auf uns alle abgefärbt. Wir gehen durch diese Welt und sind irgendwie markiert. Dieses Geld hat uns verfolgbar gemacht. Und sosehr du in seinem Alltag versuchst, die Spuren zu verwischen, wird es immer wieder Menschen geben, die während einer noch so wichtigen Unterhaltung nur auf deine blauen Hände schauen. Und nicht in deine Augen."

Während Johann Scheerers erstes Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen" ein Sachbuch war, das einen sehr literarischen Ton hatte, nennt sich "Unheimlich nah" nun Roman, was man, da alle so heißen, wie sie wirklich heißen, nicht genau versteht und dahinter den Schutz von Persönlichkeitsrechten vermutet. Für die Lektüre spielt die Frage, was genau fiktional ist und was nicht, aber keine besondere Rolle. Denn über die autobiographische Geschichte hinaus erzählt Johann Scheerer auch eine universelle: Er erzählt, was es bedeutet, als Angehöriger des Opfers eines Verbrechens "markiert" zu sein. Und das ist sehr beeindruckend.

JULIA ENCKE

Johann Scheerer: "Unheimlich nah". Piper Verlag, 329 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Freiheit ist ein relatives Gut, und Johann Scheerer zeigt den heranwachsenden Mann durchaus modern als fühlende, verunsicherte Person und nicht als hormongesteuertes Wesen.« VN Vorarlberger Nachrichten (A) 20210424
Frei sein im Kontrollraum

Johann Scheerer erzählt, wie nach der Entführung seines Vaters für ihn eine Jugend mit Personenschutz begann: "Unheimlich nah"

Wenn spektakuläre Verbrechen geschehen, wird im Nachhinein oft die Geschichte der Opfer erzählt. Oder die Geschichte der Täter rekonstruiert. Was die Öffentlichkeit seltener erreicht, sind die Geschichten der Angehörigen der Opfer, die davon berichten, in welcher Weise das Verbrechen ihr Leben verändert hat - manchmal für immer. Im Umgang mit den terroristischen Verbrechen der RAF war gerade deshalb das Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" der Journalistin Anne Siemens, das im Jahr 2007 erschien, ein Paradigmenwechsel. Die Mitglieder der RAF waren auf eine fast zynische Weise zu Berühmtheiten geworden, ihre Fotos zu Ikonen, während das Buch erstmals die Perspektive konsequent umdrehte, die Angehörigen der Opfer des Linksterrorismus in den Blick nahm und sie zu Wort kommen ließ. Jedenfalls jene, die sich äußern wollten. Die Witwe von Alfred Herrhausen, des ehemaligen Vorstandssprechers der Deutschen Bank, der 1989 bei einem Autobomben-Attentat ums Leben kam, zu dem sich wenig später die RAF bekannte, hatte sich 2001 schon geöffnet, als der Regisseur Andres Veiel für seinen Film "Black Box BRD" Herrhausens Geschichte nachzeichnete. Veiel erzählte parallel dazu aber auch die eines Täters, des RAF-Terroristen Wolfgang Grams, dem er genauso viel Platz einräumte.

"Wir sind dann wohl die Angehörigen" hieß vor drei Jahren das Buch eines jungen Autors, dessen Name nicht besonders berühmt klang und auch nicht berühmt klingen sollte. In der Musikszene in Hamburg kennt man den Musiker und Produzenten, der 2003 das Tonstudio Rekordbox, zwei Jahre später Clouds Hill Recordings gegründet hat, wo Pete Doherty, At the Drive-In oder Omar Rodríguez-López schon Alben produziert haben. Er heißt Johann Scheerer, trägt den Namen seiner Mutter - und ist der Sohn von Jan Philipp Reemtsma, dem Germanisten und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Er war dreizehn Jahre alt, als sein Vater am 25. März 1996 auf seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese entführt und 33 Tage in einem Keller festgehalten wurde. Reemtsma veröffentlichte 1997 das Buch "Im Keller" über diese Entführung und über seine Gefangenschaft. Einen "zerstörerischen Einbruch", eine "Vergewaltigung" und "Exterritorialität" nannte er darin den Keller, der in seinem Leben bleiben werde und doch nicht zu einem Teil des Lebens zu machen sei.

Knapp zwanzig Jahre später beschrieb sein Sohn Johann in "Wir sind dann wohl die Angehörigen" seine Version dieser 33 Tage. Er erzählte, wie sich sein Elternhaus in eine Einsatzzentrale, einen permanenten Konferenzraum verwandelte. Wie alle darauf warteten, dass etwas passierte. Dass das Telefon klingelte, die Entführer sich wieder meldeten, ein Lebenszeichen des Vaters eintraf, die Geldübergabe endlich glückte. Wie jedes Zeichen, jeder Buchstabe, der sie von dem Entführten erreichte, exzessiv auf mögliche Bedeutungen und Interpretationen abgetastet wurde. Und er beschrieb auch, wie mit der Entführung des Vaters so etwas wie Privatheit für ihn abhandenkam. Allerdings hielt man deren Wiedergewinnung, wenn davon auch nicht explizit die Rede war, am Ende nicht für ausgeschlossen. Zu Unrecht, wie sich zeigt.

Denn Johann Scheerer hat jetzt die Fortsetzung dessen geschrieben, was er vor drei Jahren begonnen hat. "Unheimlich nah" heißt das neue, in diesen Tagen erscheinende Buch, das nach der Entführung einsetzt. Die Familie - das sind der Vater, die Mutter und der Sohn - ist nach der Befreiung im April 1996 zunächst nach New York gereist. Amerika bietet ihnen Anonymität und die Gewissheit, nicht verfolgt zu werden, weder von Verbrechern, noch von Trittbrettfahrern, noch von Journalisten. Während ihrer Abwesenheit werden am Haus in Hamburg Blankenese bereits Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Objektschützer erwarten sie, als sie nach Hause zurückkehren. Und sind nicht allein. Es warten auch die neu eingestellten Personenschützer, auf die die Eltern Johann im Taxi in Manhattan bereits vorzubereiten versucht haben. "Ich würde jemand mit Bodyguards sein", hatte dieser gedacht und sich gefragt, was solche Sicherheitsleute wohl anhaben würden. Zurück in Hamburg, begreift er: "Die Personenschützer kommen mit, wenn ich mit dem Hund rausgehe, und die Objektschützer sitzen im Auto vor der Gartenpforte und begrüßen mich freundlich, sobald ich das Grundstück wieder betrete." Er fühlt sich wie zu Gast im eigenen Haus und stellt sofort die richtige Frage: "Konnte es sein, dass das hier für immer würde bleiben müssen?"

Johann Scheerer ist zu Beginn dieser neuen Erzählung vierzehn Jahre alt, er will raus, frei sein, ohne die Eltern los, und genau in diesem Moment des Aufbruchs beginnt die permanente Abschirmung, die er, sosehr er ihre Notwendigkeit in guten Momenten auch einsieht, nicht anders als Überwachung und Kontrolle empfinden kann. Schon die Wochen der Entführung hatten ihn mit der Mutter in einer Zeit eng zueinander gebracht, in der er viel lieber Abstand gesucht hätte. Sie verstanden einander, kommunizierten wortlos miteinander, doch war die Nähe auch eine Belastung, die er jetzt lieber abschütteln würde. Zur Schule wird er von nun an aber chauffiert. Sobald er das Haus verlässt, fährt ein schwarzer BMW vor. Jeder Nachmittag mit seinen Freunden wird zu einer Aufgabe mit Anleitung. Können die anderen gedankenlos und übermütig sein, kommt er sich vor wie ein Bedenkenträger. Und fährt die Familie nach Portugal in die Ferien, kommen nicht nur die nervigen Bücherkoffer des Vaters mit, mit denen dieser dann für den Rest des Urlaubs verschwindet, sondern auch die Security, die um sie herum scheinbar geheim kommuniziert.

"Wie übermächtig musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?", fragt Johann Scheerer. Er lässt sich von den Sicherheitsleuten ein Mofa frisieren und versucht, ihnen davonzufahren. Er gerät nachts beim Ausgehen in Prügeleien und weist die ihn stets beobachtende Security an, nicht einzuschreiten (oder nur kurz bevor er totgeschlagen würde). Er bittet die Bodyguards, ihm ein paar Selbstverteidigungstricks beizubringen ("Personenschützer unterrichtet Schutzperson in Selbstverteidigung. Diesen Satz musste man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen"). Er findet seine ersten Freundinnen, die ihn für verwöhnt und egozentrisch halten und sein Problem nicht sehen. Er fragt sich, wie viel Punk möglich ist, wenn vor jedem Auftritt seiner Band Sicherheitsleute mit Veranstaltern alles abklären. Und misstraut den Statistiken, dass die Wahrscheinlichkeit einer Entführung in einer Familie steigt, wenn schon mal jemand entführt worden ist; bis er nachts nach Hause kommt, das Haus von drei Polizeiautos und einem Krankenwagen umstellt wie ein Tatort, weil ein Unbekannter über den Zaun geklettert ist, direkt vor dem Fenster seines Zimmers.

Frei sein im Kontrollraum, das ist sein Dilemma. Was Johann Scheerer dabei mit den Dramen anderer Angehöriger von Verbrechensopfern teilt - wie auch mit den Opfern selbst, die die Verbrechen überlebt haben -, ist, dass er die Entführung, "den Keller", wie sein Vater, nicht mehr loswird. Es ist ein Gefühl, gezeichnet zu sein, das in der eigenen Familiengeschichte noch einen anderen Echoraum hat und weiter zurückreicht als bloß in die neunziger Jahre. Jan Philipp Reemtsma ist der Sohn des Zigarettenfabrikanten Philipp Fürchtegott Reemtsma, der im Nationalsozialismus Wehrwirtschaftsführer war und sein Zigarettenimperium durch große Geldspenden an Hermann Göring abgesichert hatte. Der Vater starb, als Jan Philipp Reemtsma sieben Jahre alt war. Mit 26 durfte er über sein Erbe verfügen und verkaufte seine Anteile an der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH, zu der er seit 1980 keine Verbindungen mehr hat. "Immer schon, das wusste ich aus Zeitungsartikeln", schreibt Johann Scheerer in "Unheimlich nah", "war mein Vater der Erbe gewesen. Er konnte das Institut für Sozialforschung aufbauen, die Wehrmachtsausstellung auf die Beine stellen, Fachliteratur und Belletristik-Bestseller schreiben - in den Zeitungen war er Zigarettenerbe. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass er schon als Kind von Erwachsenen so behandelt worden war."

Johann kriegt solche Anspielungen auf dem Schulhof auch zu hören: "Ey, Reemtsma, warum rauchst du eigentlich nicht? Du bekommst doch bestimmt so viel Zigaretten wie du tragen kannst!" Es irritiert ihn. Die Verbindung zum "Keller" geht ihm aber erst auf, als der Vater sich im Gespräch mit dem Sohn endlich öffnet. Ob er sich daran erinnere, dass die Mutter sich bei den Entführungsverhandlungen gegen die Markierung des Lösegeldes entschieden habe, die das Geld und die Menschen, die damit in Kontakt kamen, verfolgbar gemacht hätte? So eine Art blaue Farbe an den Geldscheinen. Es gebe Momente, in denen er manchmal denke, dass es diese Markierung trotzdem gegeben habe, obwohl sie sie nicht haben wollten, lässt Johann Scheerer Jan Philipp Reemtsma in "Unheimlich nah" sagen: "Irgendwie hat sie auf uns alle abgefärbt. Wir gehen durch diese Welt und sind irgendwie markiert. Dieses Geld hat uns verfolgbar gemacht. Und sosehr du in seinem Alltag versuchst, die Spuren zu verwischen, wird es immer wieder Menschen geben, die während einer noch so wichtigen Unterhaltung nur auf deine blauen Hände schauen. Und nicht in deine Augen."

Während Johann Scheerers erstes Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen" ein Sachbuch war, das einen sehr literarischen Ton hatte, nennt sich "Unheimlich nah" nun Roman, was man, da alle so heißen, wie sie wirklich heißen, nicht genau versteht und dahinter den Schutz von Persönlichkeitsrechten vermutet. Für die Lektüre spielt die Frage, was genau fiktional ist und was nicht, aber keine besondere Rolle. Denn über die autobiographische Geschichte hinaus erzählt Johann Scheerer auch eine universelle: Er erzählt, was es bedeutet, als Angehöriger des Opfers eines Verbrechens "markiert" zu sein. Und das ist sehr beeindruckend.

JULIA ENCKE

Johann Scheerer: "Unheimlich nah". Piper Verlag, 329 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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