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Sieben Jahre sind vergangen seit Ivo aus ihrem Leben verschwunden ist. Ivo, ihr Halbbruder, ihr Spielgefährte aus Kindertagen und viel mehr als das. Denn Ivo und Stella, Wahlverwandte und Schicksalsgenossen seit frühester Kindheit, sind in leidenschaftlicher Liebe miteinander verbunden. Jeder Versuch, ohne einander zu leben, sich dem Reigen wilder erotischer Begegnungen und hasserfüllter Streite zu entziehen, ist zum Scheitern verurteilt; es ist eine namenlose Gier, die die beiden immer wieder zueinander treibt. Nino Haratischwilis Roman erzählt die Geschichte dieser großen Liebe und fatalen…mehr

Produktbeschreibung
Sieben Jahre sind vergangen seit Ivo aus ihrem Leben verschwunden ist. Ivo, ihr Halbbruder, ihr Spielgefährte aus Kindertagen und viel mehr als das. Denn Ivo und Stella, Wahlverwandte und Schicksalsgenossen seit frühester Kindheit, sind in leidenschaftlicher Liebe miteinander verbunden. Jeder Versuch, ohne einander zu leben, sich dem Reigen wilder erotischer Begegnungen und hasserfüllter Streite zu entziehen, ist zum Scheitern verurteilt; es ist eine namenlose Gier, die die beiden immer wieder zueinander treibt. Nino Haratischwilis Roman erzählt die Geschichte dieser großen Liebe und fatalen Leidenschaft und enthüllt dabei, Schritt für Schritt, Schicht für Schicht, ein Familiendrama, das wie ein Schatten über Ivos und Stellas Leben liegt.
Autorenporträt
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin. Ihr Roman »Mein sanfter Zwilling« (FVA 2011) wurde mit dem Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage ausgezeichnet. Für ihren 2014 erschienenen 1280 Seiten umfassenden Roman »Das achte Leben (Für Brilka)« erhielt sie u.a. ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und den Anna Seghers-Preis. Die Autorin lebt in Hamburg.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Gern erinnert sich Rezensentin Katrin Schuster an Haratischwilis Debütroman, in dessen Szenen und Dialogen theaterreif die Funken flogen. Neu an ihrem zweiten Roman "Mein sanfter Zwilling" ist nun das in Monologform ungebrochene "Pathos", wenn Stella, eine echte Borderline-Persönlichkeit mit allem, was dazugehört, das "Drama ihres Lebens" nicht bloß raunend erzählt, sondern geradezu auf die Bühne bringt. Aber, ach, seufzt Schuster, wäre es doch nur ein Bühnenstück! Was im Theater Kraft aus darstellerischer Präsenz schöpfen kann, gerinnt im Buchstabentext zur Behauptung, findet die Rezensentin, die auch literarisch einiges bemäkelt: Erfahrungen in der Fremde klängen wie einem Reiseführer entnommen, Ausbruchsversuche aus dem bürgerlichen Leben erscheinen ihr "banal". So hält Schuster es abschließend für nicht gänzlich ausgeschlossen, dass "Stellas Sprachlosigkeit" womöglich auch die der Autorin selbst ist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011

Der Tag, an dem du verstehst, warum du fühlst

Nino Haratischwili hat mit "Mein sanfter Zwilling" einen Roman in bester Cocteau-Manier geschrieben - Albtraum und Rausch in einem.

Von Anja Hirsch

Gute Dramen beginnen damit, dass jemand kommt, alles durcheinanderbringt und dann wieder geht. Ein Inspektor, ein Verwandter oder ein ehemaliger Geliebter. Das Erscheinen einer Figur ist ein so klassischer, wirkungsvoller Theatertrick wie das Nichterscheinen einer Figur. Und das muss nicht nur deshalb bemerkt werden, weil die in Georgien aufgewachsene, seit 2003 in Deutschland wohnende Nino Haratischwili, Jahrgang 1984, schon vierzehn uraufgeführte Theaterstücke geschrieben und deshalb genau dafür einen Blick hat. Es muss bemerkt werden, weil man sonst Gefahr läuft, ihren zweiten Roman in seiner kompositorischen Anlage zu unterschätzen.

"Mein sanfter Zwilling" erzählt von Stella und Ivo, die sich seit der Kindheit kennen. Ivos plötzliches Erscheinen ist wie ein Donnerschlag, der alle anderen Figuren dieses Romans gewaltig durchrütteln wird. Stella führt seit einigen Jahren eine leidenschaftslose Ehe in Hamburg mit einem freundlichen, verständnisvollen Ehemann, "Einzelkind von Akademikern", der in Stellas Augen "alles richtig gemacht" hat und hochkarätige Dokumentarfilme dreht. Er ist ehrlich und hat ein Wertesystem, das auch Stella trägt, die als Journalistin arbeitet, täglich stramm aufgespannt zwischen Schreiben und Kind. Sogar als Vater vom gemeinsamen Sohn Tom ist ihr Mann wunderbar, sein Körper gar "narbenlos". Kann man neben einem solchen Partner bestehen?

Nicht jedenfalls, als Ivo nach sieben Jahren Funkstille plötzlich wieder in Hamburg ist. Ivo ist aufregend. Er kennt "kein Gestern und Morgen" und verbreitet dieses Gefühl der Gegenwart, das Stella vielleicht selbst gerne hätte, aber nicht hat, weil sie den Alltag oder die Zukunft planen muss. Die Vergangenheit hatte sie ganz ordentlich weggepackt, für eine Weile funktioniert das gut. Jetzt aber will selbst Ivo nicht mehr nur von Moment zu Moment taumeln, sondern mit Hilfe von Stellas Gedächtnis die frühen gemeinsamen Jahre nacharbeiten. Heftige Jahre, mit viel Schmerz, Sehnsucht, später auch Drogen; ein Kapitel, über welches die ganze Familie in gemeinsamem Einverständnis einen Schleier gelegt hatte.

Die Kinderliebe beginnt, als Stellas Vater die Sechsjährige zum ersten Mal mitnimmt zu seinen Treffen mit Emma, seiner Geliebten. Sie wohnt in einem Häuschen mit Garten nahe dem Hamburger Hafen. Hier, eingehüllt vom salzigen Geruch des Meers und dem lauten Hupen der Frachtschiffe, lernt Stella Emmas Sohn Ivo kennen, einen eigensinnigen Jungen, der bestimmend sein Territorium einnimmt. Er durchschaut das Verhältnis der Erwachsenen. Eine Bürde, die sich leichter trägt, wenn man sie teilt, in diesem Falle mit der kleinen neuen Freundin.

Zu diesem Zeitpunkt zeigt der Roman nur Schnappschüsse, die noch keine Geschichte ergeben: Ivos Mutter, erschossen neben ihrem Hund; Ivos Vater als Täter im Gefängnis. Nino Haratischwili ist eine Meisterin im Zurückhalten von Informationen, die sie im Gleichschritt erst mit der sich neu entspinnenden Beziehung nachträgt. Sie lässt Stella ganz allein erzählen; launisch, gekränkt, verzweifelt, dann wieder so reflektiert, dass man ihr zutraut, in dieser über sie hereinbrechenden Lebenskrise "das Richtige" zu tun. Ihr Hin- und-hergerissen-Sein dramatisiert diesen Stoff, dunkelt ihn ein und hellt ihn wieder auf, bis er am Ende durch die vielen Worte leicht geworden zu sein scheint. So wie lange zurückliegende Liebesbeziehungen leicht werden, wenn man sie nacherzählt.

Ivo, so erfährt man, kam nach dem Drama in Stellas Familie, auch diese längst keine klassische Familie mehr - die Mutter wohnt inzwischen in Amerika, der Vater trinkt, die Kinder übernehmen eine Verantwortung, die sie nicht tragen können. "Mein sanfter Zwilling" hat freilich nicht die kalte Magie wie etwa Jean Cocteaus "Kinder der Nacht", aber es erwächst in seinen besten Teilen aus dem gleichen Gewebe. Wie Albtraum und Rausch gleichermaßen steigt in Stella diese einbalsamierte Zeit hoch, in der sie mit Ivo eine separate Welt erschuf, abgeschirmt von den Erwachsenen, die sie dankbar gewähren lassen: Stella nämlich ist die Einzige, die Ivo, der in der neuen Umgebung das Sprechen verweigert, versteht. Sie vermittelt nach beiden Seiten. Sie weint sogar für Ivo, als er hinfällt und eine Wunde hat, so tief geht ihre Bereitschaft, seine Gefühle zu übersetzen. Die verschiedenen Zeitebenen, auch die weit zurückliegenden, wirken alle erstaunlich präsent. Und so wird immer deutlicher die große Trauer spürbar, die das Fundament dieser komplizierten Beziehung zwischen Stella und Ivo bildet, einer stationsreichen Liebe, die "keiner Kategorie" angehört und die doch ums Überleben kämpft. Streckenweise übernimmt das auch der Text, wahrscheinlich der Grund dafür, warum vor dem Liebestod in szenischen Endlosspiralen ein neuer Komplex eröffnet wird: der Kaukasus-Konflikt. Stella, sich ihrer Abhängigkeit von Ivo bewusst, verlässt Mann und Kind und reist ihm dorthin nach, in eine andere, spiegelgleiche, traumatische Familiengeschichte, die sie ihm dort zu recherchieren hilft. Manchmal hilft es, den Standort zu wechseln. Der "kranke Kosmos" Georgien, das postkommunistisch brach liegt und von Krieg schmerzzerfurcht ist, zieht dem Roman eine brutale Wirklichkeit ein. Er relativiert und ergänzt Stella und Ivos Geschichte, die erst nach und nach ihre tragischen Konstanten entblättert.

Dem Bau nach folgt Nino Haratischwilis Roman Maßstäben antiker Dramen. Und das ist ein gutes Gegengewicht zur manchmal flanierenden, zu wenig beunruhigenden Sprache, die wie gespalten scheint in gute, ernsthaft die verschiedenen Farben der Liebe ergründende Passagen und fahrigere, gefühlsüberladene Stellen. Im großen Verlauf schmilzt das Bedauern darüber weg. Nino Haratischwili hat einen Roman geschrieben, der viel wagt und manchmal zu viel verpackt, aber mitzuziehen weiß.

Nino Haratischwili: "Mein sanfter Zwilling". Roman.

Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011. 379 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2011

Alle Liebe ist verflucht
Nino Haratischwilis zweiter Roman „Mein sanfter Zwilling“ hat die seltene Wucht einer klassischen Tragödie
Dies ist ein ödipales Buch. Ödipal nicht in jenem engen Sinn, den Sigmund Freud dem Wort gab, indem er einerseits nur eine ganz bestimmte familiäre Teil-Konstellation damit bezeichnete, andererseits das maßlose Königsdrama auf bürgerliche Maßstäbe herunterbrach. Eher meint ödipal hier den Sonderstatus, den Friedrich Schiller der Tragödie von Ödipus und seiner Familie einräumte: Alle anderen Dramen, sagte er, entwickelten sich erst im Lauf des Bühnengeschehens, seien also synthetisch; nur Ödipus verfahre analytisch, weil sich der Gang der Ereignisse im zunehmenden Begreifen dessen vollziehe, was damals eigentlich passiert sei. Das synthetische Drama mag tragisch sein, wahrhaft grässlich ist allein das analytische: Denn in ihm, das nichts tut als eine unwiderrufliche Vergangenheit langsam ans Licht zu bringen, ist jede Freiheit vorab vernichtet. Einsicht vermag nichts, als die Verblendung zutage zu fördern. Ödipus sticht sich nach Eintritt der vollen Erkenntnis die Augen aus. Freud hat das abschwächend allegorisch als verschobene Kastration gedeutet. Doch sollte man auf dem Schmerz des Buchstäblichen bestehen: Was diese Augen, endlich geöffnet, sehen, ist Nacht.
Eine solche Einleitung mag zunächst einem Buch unangemessen scheinen, das im Jahr 2011 als Roman antritt und durch seinen Titel „Mein sanfter Zwilling“ den Eindruck erweckt, als gehörte es einfach zu der unabsehbaren Reihe von Familienstorys, die gegenwärtig den belletristischen Markt bevölkern. Es beginnt harmlos genug. Die Ich-Erzählerin Stella, Mitte dreißig, hat vor etlichen Jahren einen Mann geheiratet, der ihr Sicherheit und einen Halt im Leben versprach. Gemeinsam haben sie einen lieben Sohn namens Theo, der demnächst seinen siebten Geburtstag feiern wird und von Schule und Fußball abgeholt werden muss. Sie arbeitet (nicht allzu intensiv, wie es aussieht) für die Kulturseiten einer Regionalzeitung. Hier haben wir sozusagen Ismene, die jüngere Tochter des Ödipus, die dem Schicksal ihres Hauses seitwärts in die Normalität zu entweichen sucht. Aus dieser Ismene tritt allmählich die Figur der älteren Schwester hervor: Antigone, die den blinden Vater an der Hand ins Exil führt und die darauf beharrt, den toten Bruder zu bestatten, selbst wenn es sie das Leben kostet; Antigone, die starr aufrecht steht und darum nur stürzen kann.
Der Bruder, Ivo, das ist jener „sanfte Zwilling“ im Titel des Buchs. Sanft ist er höchstens in dem Sinn, wie die Griechen die Furien verschleiernd als die Wohlmeinenden umschrieben. Charmant, ruhelos, verschlagen, ein durch die Krisengebiete der Erde jettender brillanter Journalist, scheint er das Leben der Menschen, denen er begegnet, mit Zähnen zerreißen zu wollen – und ganz besonders dasjenige seiner Spielgefährtin, Schwester und Geliebten Stella. Es genügt ein einziger Anruf von ihm, der erste des Treulosen nach sieben Jahren, um Stellas ängstlich wohlgeordnete Existenz sofort aus der Bahn zu werfen.
Worin ihr unauflösliches Band besteht, das schält sich Schicht um Schicht in Rückblenden heraus: Ihr Vater und seine Mutter hatten ein ehebrecherisches Verhältnis miteinander gehabt; der Vater nahm, um seine Abwesenheiten zu bemänteln, immer die siebenjährige Stella mit, und während die beiden Erwachsenen miteinander schliefen, mussten die beiden Kinder warten; ihre Einsamkeit verflocht sie geschwisterlich. Eines Tages, als sie auf einen Baum vor dem Fenster klettern, beobachten sie die Erwachsenen bei ihrem Tun.
„Ich dachte daran, wie ich zum ersten Mal ineinander verschlungene Körper, Körper, die verzweifelt nacheinander suchten und doch einzeln, getrennt, fern voneinander waren, einander nicht durchdringend, als Liebe erkannt hatte. Wie ich die Silhouetten durch den Vorhangspalt hindurch als Liebespaar identifiziert und wie ich seitdem den Schmerz in meiner Wirbelsäule mit Liebe gleichgesetzt hatte. Ich dachte daran, wie ich das erste Mal mit Ivo schlief und die Unmöglichkeit, ihn mir anzueignen, Liebe nannte. Ich dachte an meine Liebe zu Ivo, die wehtat und brannte, die verzweifelt war, gehetzt, verschwitzt und blutend auf der Jagd nach Nähe und die mehr und mehr zum Schmerz heranwuchs. Zum Urzustand der Liebe. (. . .) Wir sahen das Bild und verloren uns darin.“
Kurz darauf kehrt der Mann von Ivos Mutter zurück (er fährt einen blauen Mercedes) und erschießt seine untreue Ehefrau. Stellas Mutter, erst durch die Katastrophe ins Bild gesetzt, verlässt ihren Mann und ihre zwei Töchter und geht nach Amerika. Stellas Vater, der Situation nicht gewachsen, übergibt die Töchter und den völlig verlassenen Ivo an seine Tante Tulja. Alle Liebe in diesem Buch ist verflucht: die erotische zwischen Mann und Frau, die der Eltern zu den Kindern und der Kinder zu den Eltern; am tiefsten aber die zwischen Bruder und Schwester, die sich keinen Rat wissen, als sie zu formen nach der Urszene, jenem Bild, in das sie sich verlieren müssen. Von selbstloser Großmut erscheint allein die Liebe der Großtante (Stiefgroßtante für Ivo), die all die verwaisten Familienmitglieder in ihr Haus aufnimmt. Aber auch sie bricht, als sie Ivo und Stella zusammen in der Dusche erwischt und Stella in stolzer Nacktheit an ihr vorbeischreitet, in trostloses Weinen aus. Auch für sie gibt es keine Freiheit.
Von allen Formen der Liebe als die mieseste stellt sich die der Mütter dar. Stellas Mutter Gesi, Ivos Mutter Emma, Stella selbst entziehen sich der Forderung des einzigen Wesens, das sie auf der Welt wirklich braucht, vorangepeitscht von einer anderen, gnadenlosen Art der Liebe, in der Fürsorge keinen Platz hat. Über ihre Mutter sagt Stella, sie habe „aufgehört, aus Höflichkeit zu demonstrieren, dagegen Geschmack am Geld gefunden“. Für die gurrend überbeschützerischen Mutterinstinkten ihrer Schwester Leni jedoch hat sie gleichfalls nur Worte der Verächtlichkeit. Die beiden Protagonisten, siebenjährig erst, finden sich in eine tödliche Schuld verstrickt, aus der sie ihr ganzes Leben nicht loskommen sollen – worin sie genau besteht, soll hier nicht preisgegeben werden. Diese Erzählerin ist geradlinig und grausam auf eine Weise, wie man sie sonst in der deutschen Gegenwarts-Literatur nicht kennt.
Und Nino Haratischwili ist ja auch höchstens so eine Deutsche, wie die mörderische Zauberin Medea zur Griechin wurde. Beide stammen sie aus demselben Land, dem abgelegensten Winkel des Schwarzen Meeres: Kolchis, Georgien. Dorthin führt der kürzere zweite Teil des Buchs. Ivo will dort eine Reportage machen und nimmt Stella, ohne sie lang zu fragen, einfach mit. Es ist ein barbarisches Land, voll kriegerischer Zerstörung, zugleich aber erfüllt von einer unbedachten Lebenslust und Gastfreundschaft, wie Stella sie im grauen Hamburg nie erfahren hat. Die Handlung beginnt sich zu verdoppeln, da nämlich Ivo der Geschichte einer Familie auf der Spur ist, deren Schicksal, unter den Vorzeichen des Abchasien-Kriegs von 1992, ihm wie das Spiegelbild des eigenen vorkommt. Er scheint sich davon etwas wie Entsühnung zu versprechen. Natürlich geht es schief, alle Beteiligten, einschließlich Ivo selbst, kommen bei einem grauenhaften Unfall ums Leben. Denn Erlösung ist in der Welt von Nino Haratischwili nicht vorgesehen, und Verzeihung nur um den Preis des Todes. Ganz am Schluss sitzt Stella wieder am Meer, bei Hamburg zwar, aber als ob es das Schwarze wäre, die Urne mit der Asche Ivos in der Hand, und schließt ab mit ihrem Dasein, unter Zuhilfenahme eines scharfen Metallgeräts, so wie auch Ödipus es tat, allerdings ins Weibliche verwandelt.
„Ich schneide die erste Strähne ab, die zweite. Ich schneide die Spitzen, dann wandert die Schere, die ich aus Tuljas Küche mitgenommen habe, immer höher. Die Haare fallen, und der Wind bläst sie fort. Fast bis zum Wasser. Ich sehe den Wind die einzelnen Strähnen davontragen und freue mich. Ja, ich freue mich, dass mir immer weniger bleibt. (. . .) Ich begegne dir kahl, ich begegne dir nackt. Ich bin hier, Ivo, am Meer und bin jetzt jemand, auch ohne dich. Ich bin ich, Ivo, ohne den Nachmittag, ohne deine Liebe, ohne meine Familie, die nie eine war, ohne alles, was davor oder danach lag und liegt. (. . .) Ich sehe dich an.“
Als bedeutende Erzählerin hat die 1983 in Tiflis geborene Nino Haratischwili sich auch schon in ihrem ersten Roman „Juja“ bewiesen, aber da wurden ihre Qualitäten noch durch die Abstrusität des Plots (ein geheimnisvolles feministisches Buch treibt gefährdete Frauen in den Selbstmord) an ihrer vollen Entfaltung gehindert. Davon hat sie sich nun losgemacht. Es ist ein Buch des Schreckens, wie man es dem zeitgenössischen deutschen Roman nicht zugetraut hätte, ein großes und fremdes Buch; ein Buch, das nicht jeder Leser bis zum Ende aushalten wird.
BURKHARD MÜLLER
NINO HARATISCHWILI: Mein sanfter Zwilling. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt. 379 Seiten, 22,90 Euro.
Erlösung ist in dieser Welt
nicht vorgesehen, und Verzeihung
nur um den Preis des Todes
Die in Georgien geborene Schriftstellerin Nino Haratischwili. Foto: Yves Noir
Auf einer Recherche-Reise nach Georgien kommt der Journalist Ivo der Geschichte einer Familie auf die Spur, deren Schicksal, unter den Vorzeichen des Abchasien-Krieges, ihm wie ein Spiegelbild des eigenen vorkommt. Foto: laif
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