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'Etwas Seltenes überhaupt' nannte der Journalist Rudolf Olden Gabriele Tergit, die mit ihrem Roman 'Käsebier erobert den Kurfürstendamm' berühmt wurde. Zweifelsfrei gehört sie zu den bemerkenswertesten und mutigsten Frauen des 20. Jahrhunderts. Als erste weibliche Gerichtsreporterin der Weimarer Republik machte sie anhand scheinbar unbedeutender Fälle auf die großen Problematiken ihrer Epoche aufmerksam. Aus der Position einer sozialkritischen Beobachterin heraus beschrieb sie die Gewalt und den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten. Diese setzten Gabriele Tergit ganz oben auf die Liste…mehr

Produktbeschreibung
'Etwas Seltenes überhaupt' nannte der Journalist Rudolf Olden Gabriele Tergit, die mit ihrem Roman 'Käsebier erobert den Kurfürstendamm' berühmt wurde. Zweifelsfrei gehört sie zu den bemerkenswertesten und mutigsten Frauen des 20. Jahrhunderts. Als erste weibliche Gerichtsreporterin der Weimarer Republik machte sie anhand scheinbar unbedeutender Fälle auf die großen Problematiken ihrer Epoche aufmerksam. Aus der Position einer sozialkritischen Beobachterin heraus beschrieb sie die Gewalt und den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten. Diese setzten Gabriele Tergit ganz oben auf die Liste politischer Gegner, was sie schließlich, nachdem sie in der Nacht ihres 39. Geburtstags von einem SA-Trupp bedroht wurde, zur Flucht aus Deutschland zwang.Ihr zweiter Roman 'Effingers', der das Schicksal einer jüdischen Familie in Berlin schildert, erschien im Jahr 1951. Eine Sammlung ihrer Gerichtsreportagen wurde erst posthum publiziert, ebenso ihre eindrücklichen Erinnerungen 'Etwas Seltenes überhaupt'. Diese erschienen erstmals ein Jahr nach ihrem Tod - und nun in einer lang erwarteten, von Nicole Henneberg neu edierten und mit einem Nachwort versehenen Neuausgabe.
Autorenporträt
Gabriele Tergit (1894¿1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London. Von 1957 bis 1981 war sie Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Ihre Gerichtsreportagen machten sie berühmt und markierten den Beginn ihrer literarischen Karriere.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2018

Wortmeldungen aus der Absenkungslücke
Kronzeugin einer untergegangenen Welt: Die Erinnerungen der Reporterin und Autorin Gabriele Tergit erscheinen erstmals ungekürzt

Es gibt ein Gedicht von Hans Sahl, des Schicksalsgenossen Gabriele Tergits, das am Anfang seines Romans "Die Wenigen und die Vielen" über das Leben einer Generation von Schiffbrüchigen zu finden ist, der Schiffbrüchigen nicht nur der Literatur, sondern der des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt. Es beginnt so: "Wir sind die Letzten. / Fragt uns aus." Dann geht es mit Nonchalance und leiser Trauer fort: "Wir sind zuständig / Wir tragen den Zettelkasten / mit den Steckbriefen unserer Freunde / wie einen Bauchladen vor uns her."

Gabriele Tergit, 1894 geboren in eine bürgerlich-liberale jüdische Familie des alten Westens am Berliner Tiergarten, war so eine "Trägerin von Zettelkästen". Die Autorin ist eine der noch zu entdeckenden Kronzeugen einer untergegangenen Welt - oder wie es Sahl so treffend ins Bild brachte: Tergit, eine "Trödlerin des Unbegreiflichen".

Wer an die Fraglichkeit dieser Erinnerungen herankommen möchte, für den lohnt sich ein Blick in einen am Ende des Buches abgedruckten Brief. In diesem fragt Tergit Erika Mann nach biographischen Hinweisen für die Sammelbiographie des damaligen Exil-PEN-Zentrums. Sie hält Ausschau nach Details über jene Generation, meist jüdischer Autoren, die im Exil lebten oder verstarben, als verschollen galten oder es - wie Benjamin und Hessel - zwischen 1933 und 1945 nicht mehr aus der Falle Mitteleuropa schafften: "Ich persönlich", erklärt sie lakonisch, "habe noch den Wunsch, eine Liste der Toten beizufügen."

Tergits Erinnerungen, die sie nach ihrer ersten Wiederentdeckung um 1980 verfasste, sind mehr als das: Das Buch liest sich als würde man eine Truhe mit versprengten Lebensläufen des Weimarer Lebens öffnen. Man begegnet dort den Rätseln des von totalitärer Gewalterfahrung geprägten zwanzigsten Jahrhunderts und damit der Schlüsselfrage: Wie konnte es passieren , dass eine ganze Gesellschaft ins Rutschen geriet, bis sie sich in Gewaltexzessen verzehrte?

Durch Tergit wird der Leser mit jenem Phänomen vertraut, das Robert Musil hellsichtig auf den Begriff einer "kulturellen Absenkungslücke" brachte, die im Zentrum der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts haust. Tergit ist Musils Schwester im Geiste, wenn sie davon spricht, "dass dreimal, nämlich im Jahre 600, im Jahre 1200 und im Jahre 1800, ein Höhepunkt der deutschen Literatur" gewesen sei, der jäh in einem Tiefpunkt versank. Tergit fügte aus eigener Erfahrung hinzu: "Wir Älteren waren Zeugen, wie ein solches Tief herbeigeführt wurde."

Tergits Erinnerungen, die nach der Ullstein-Ausgabe von 1983 erstmals ungekürzt, ungeschliffen und in ihrer bisweilen witzigen wie zerrissenen Sprache erscheinen, fügen sich dabei keineswegs zu einem einheitlichen Bild. Sie lesen sich vielmehr wie ein unruhiges Zeit-Mosaik. Es ist der Trümmersplitt eines nie ausgestellten, aber untergründig verletzten Lebens. Dieses Bild setzt sich aus rasanten Zeit- und Raumsprüngen zusammen: zwischen der Vor- und Nachkriegswelt, zwischen Londoner Exil und Stippvisiten auf der exterritorialen Nachkriegsinsel Berlin. Tergits atemlose Sprache gleicht hierbei einem dem Leser hingehaltenen gesprungenen Spiegel, der die Erfahrungen ihrer Epoche spürbar werden lässt.

Das Panorama umspannt ihre Herkunft aus dem Berliner Westen, den man einst das "innere Berlin" der Geheimräte nannte, streift ihre Promotion als Schülerin des Historikers Friedrich Meinecke, geht über ihre Anfänge als Feuilletonistin und Gerichtsreporterin, zur später bekannten Romanautorin am Ende der Weimarer Republik. Sie gibt Einblick ins Entstehen des noch heute lesenswerten "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", jenem Zeitungsroman über eine hohl drehende und gefährliche Blasen schlagende Berliner Gesellschaft.

Sie schildert darin die plötzliche Emigration 1933 - Tergit stand wegen ihrer Prozessberichte über die Machenschaften der Nazi-Oberen, ihrer Berichte über Rechtsbeugungen der Justiz ganz oben auf der Liste der SA. Der Leser folgt ihrer Flucht über ein unsicheres tschechisches Exil, über einen unglücklichen Aufenthalt in Palästina, wo sie zwischen die Fronten der Zionisten und Liberalen gerät, bis sie im Londoner Exil, in der gemäßigten Klimazone der britischen Kultur, ihren Ankerpunkt findet. Von dort wagte sie ihre Annäherungsversuche an das Deutschland nach 1945.

Tergit, die in die Schule des Theodor Wolff gegangen war, ist eigentlich eine Meisterin der kleinen Form, die in Miniaturen die Existenzlage ihrer Umwelt erfassen konnte. An diese Tradition versuchte sie nach dem Krieg anzuknüpfen, schrieb Feuilletons für den "Tagesspiegel" und die alliierte "Neue Zeitung", verfasste stereoskopische Ansichten zwischen zwei Welten. Diese Zeitungsfeuilletons, wie sie als Zitatmontagen im Buch zu finden sind, dienten ihr zugleich als Echolot auf der Suche nach verschollenen Bekannten im Schutt Berlins. Es sind eindringliche Beschreibungen der leeren Zentrale Berlin: "Ich hätte meine Verdächte", schrieb sie einmal nach London, "wegen Pompeji, die Ruinen des Tiergartens sähen genau so aus."

Neben solchen Scherbengängen, über die Kraterlandschaft am Potsdamer Platz, finden sich subtile Porträts der deutschen Psyche zur Stunde Null. Sie liefert ein Psychogramm der eigentümlichen Apathie jener Jahre, eine Gemütsverfassung zwischen Taumel und Betäubung, zwischen Desillusionierung und Ressentiments. Ihre Begegnungen mit Verlegergrößen wie Suhrkamp, Rowohlt oder Springer gewähren zugleich Einblicke in die literarische Leere, in die man damals ebenso schaute. Tergits anderer großer Roman, "Effingers", eine jüdische Familiengeschichte, wurde zwar noch herausgebracht, ging aber wegen der heiklen Thematik und des verlorenen deutsch-jüdischen Publikums unter.

Tergit hatte gleichwohl das, was nach Harry Graf Kessler den fruchtbaren Chronisten auszeichnet - das Ethos eines weißen Raben; hierauf spielt der Titel "Etwas Seltenes überhaupt" an. Sie war das, woran die Literatur der Nachkriegszeit so arm war: Sie war eine "vertraute Fremde". Sie besaß jenen Blick, der einst die deutsch-jüdische Kultursituation ausmachte: den Blick durch den "doppelten Spiegel".

Ihre Erinnerungen bilden einen gelungenen Auftakt zu einer verdienstvollen Wiederentdeckung durch den Schöffling Verlag. Einiges - Feuilletons sowie das Manuskript eines Romans über die jüdische Diaspora im zwanzigsten Jahrhundert - schlummert laut Herausgeberin Nicole Henneberg noch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Es liegt in jenem "Bücherhades", wie Tergit selbst einmal in an Heine gemahnender "göttlicher Bosheit" das Archiv nannte. Es sei ihr vergönnt, dass der Weg aus dem Schattenreich ihrer heute so aufschlussreichen Schriften nicht wieder ein halbes Jahrhundert dauern wird.

TILL GREITE

Gabriele Tergit: "Etwas

Seltenes überhaupt".

Erinnerungen.

Hrsg. und mit einem

Nachwort von Nicole

Henneberg.

Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2018.

424 S., Abb., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2018

Zwischen Capri-Bar und Moabit
Die Berliner Feuilletonistin Gabriele Tergit in ihren Erinnerungen
Fünfzehn Jahre nach ihrer Flucht vor der SA reiste Gabriele Tergit in den „Schutthaufen bei Potsdam“ (Brecht), der einmal ihre Heimat gewesen war. Sie lief „aufgeregt durch Berlin, der eigene Schritt das einzige Geräusch.“ Sie streifte vorbei an den „gebombten“ Häusern, fand in den vertrauten Gegenden des alten Westens den Weg nicht, sah, „wie der Hunger haust“, ging ins Kriminalgericht Moabit, das halbwegs stehen geblieben war.
In den Zwanzigerjahren war sie oft hier gewesen, seit Theodor Wolff sie als Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt verpflichtet hatte. Das war nicht irgendeine Zeitung, sondern im Kaiserreich die wichtigste, auflagenstärkste und in der Weimarer Republik eine liberale Bastion. Die Zeit beim Berliner Tageblatt, vom 1. Januar 25 bis 33 – das waren für die erste Gerichtsreporterin der Republik, die unter dem Pseudonym Gabriele Tergit schrieb, „die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation“.
Als sie Millionen Tote später, im Mai 1948, wieder ins alte Gerichtsgebäude ging und die Tür eines Verhandlungszimmers öffnete, erkannte der Wachtmeister sie und grüßte „Guten Tag, Frau Tergit“. Es ging gerade um „einen Diebstahl unter kleinen Leuten. Ein goldener Ring mit einem Halbedelstein. Ich dachte, dafür dieser Aufwand? Ankläger, Richter, Gefängnis, Polizei. Hunderte, Tausende, Hunderttausende von goldenen Ringen waren in der ganzen Welt gestohlen worden, silberne Schüsseln, Gemälde und Teppiche gebombt, verbrannt und in den halbzerstörten Häusern von Soldaten aller Armeen, von den lieben Nachbarn geraubt worden. Beute.“
Gabriele Tergit, 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren, hatte Hitler und Goebbels vor Gericht und die „wilde Soldateska“ der SA in den S-Bahn-Wagen, auf den Straßen erlebt. Sie kannte die lange Geschichte der Terrorakte und politischen Morde vor 1933, hatte sich mit ihrem Mann und ihren Sohn ins Exil gerettet, nach Prag, Palästina, schließlich nach London, wo sie blieb.
Im Nachkriegsberlin fragte sie sich, ob man so die Gerechtigkeit wieder aufbauen könne, indem man „ein halbes Dutzend Menschen“ beschäftige, „weil ein goldener Ring mit einem Halbedelstein den Besitzer ohne Bezahlung gewechselt hatte? En gros war erlaubt? Detail verboten? ... Wo hatte man anzuknüpfen? Wer konnte sie vor Gericht ziehen, die SA-Leute, die in den letzten Tagen jeden, der nicht weiter schießen wollte, erschossen hatten? Die Generäle, die in längst verlorenen Schlachten neue Opfer zu den alten schickten? Wo waren Millionenwerte an gestohlenen Bildern, Schmuck, Möbeln? Ein goldener Ring mit einem Halbedelstein. Lächerlich!“ Diese Fragen und Zweifel bestimmen Aufbau und Ton der Erinnerungen Gabriele Tergits. Sie hätte es sich einfacher machen können, aber das wollte sie nicht. Statt die Leser mit einem Reigen komischer und schrecklicher Geschichten einzulullen in der Sicherheit des „Es war einmal“ und des „Es wird schon wieder“, erzählt sie mit Blick auf den Zivilisationsbruch des Dritten Reiches. Deswegen beanspruchen Porträts der Freunde, kulturgeschichtliche Assoziationen und historische Parallelen, Briefe alter Bekannter aus Ost-Berlin einen ebenso großen Raum wie das Persönliche. Deswegen springt sie zwischen den Zeiten, die Gegenwart der Erinnernden, die Siebzigerjahre, sind ebenso präsent wie die Beispiele für die „weltweite Geistesverwirrung“. Deswegen zitiert sie Carl von Ossietzky, für dessen Weltbühne sie schrieb: „Der Stalinismus in seiner Unfähigkeit, die demokratisch-republikanischen Traditionen Europas zu verstehen, hat überall auf den faschistischen Nationalismus gesetzt.“
Gabriele Tergit starb 1982 in London, ein Jahr später erschienen ihre Erinnerungen bei Ullstein, allerdings in einer verstümmelten Form, stilistisch geglättet, um Wichtiges gekürzt. Im Nachwort der neuen, textgetreuen Ausgabe informiert Nicole Henneberg über die damalige „Bearbeitung“. Man hatte die Autorin wohl eher schützen als verstehen wollen. So fielen für Tergit wesentliche Thesen fort, etwa zur Kooperation zwischen Hitler und Stalin, die Tergit mit der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee nach dem 1922 geschlossenen Vertrag von Rapallo beginnen sah. Der „Volksfront“, dem „Klassenkampf“, Glorifizierungen der bolschewistischen Revolution stand sie skeptisch, ablehnend gegenüber.
Mit großer Sympathie schildert sie ihre Journalistenkollegen, etwa den Feuilletonisten Walther Kiaulehn, der in den Fünfzigerjahren ein klassisches Buch der Berlin-Nostalgie verfasste. Damals saß er mit ihr und Rudolf Olden, der zugleich Journalist und Rechtsanwalt war, am Stammtisch erst im Café Adler, dann zu Mittag bei „Capri“ in der Anhaltstraße. Dort besprachen sie auch Tergits ersten Roman, der 1931 bei Ernst Rowohlt erschien: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (SZ vom 2. April 2016). Er erzählt eine Geschichte des großstädtischen Ruhms. Ein Sänger namens Käsebier wird von Journalisten, Immobilienunternehmern und der Unterhaltungsindustrie zur Werbung für eigene Zwecke genutzt, bis der Hype vorüber und viel Geld versenkt ist. Rudolf Olden wollte das Buch mit dem Gruß des Stammtischs betiteln: „Heil und Sieg und fette Beute“. Der Roman hatte Erfolg, er gehört in eine Reihe der erstaunlichen Werke aus den letzten Jahren der Weimarer Republik, neben Falladas „Kleiner Mann – was nun?“, neben Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ oder Mascha Kalékos „Das lyrische Stenogrammheft“.
Käsebier stand auch am Beginn der Wiederentdeckung Gabriele Tergits in den Siebzigern. Ohne den späten Erfolg, ohne ihren großen Auftritt bei den „Berliner Festwochen“ 1977 hätte sie das Erinnerungsbuch wohl nicht vollendet. Es ist ein Gespräch mit den Lesern. Tergit nimmt sie sehr ernst, verlangt ihnen Aufmerksamkeit ab, meidet die abgenutzten Formulierungen und emotionalen Routinen. Larmoyanz und Sentimentalität hat sie sich verkniffen. Das Porträt ihres Sohnes endet mit einem Satz ungeheurer Sachlichkeit: „Peter heiratete eine entzückende Frau und wurde 35 Jahre alt von einem Stein in den Dolomiten getötet.“
Die Tergit sei „etwas Seltenes überhaupt“, meinte ihr Kollege Rudolf Olden. Die Erinnerungen zeigen eine kluge, mutige Frau voller Witz und Menschenkenntnis. Sie wecken wie jedes gute Buch Lust auf mehr. Tergits Roman „Effingers“, die Geschichte einer jüdischen Familie, fand 1951 nur wenige Leser und wurde für spätere Ausgaben gekürzt. „So war’s eben“ heißt ihr bis heute unveröffentlichtes Hauptwerk. Nicole Henneberg charakterisiert es als „Gesellschafts-Panorama, das 1898 beginnt und in der New Yorker Emigration in den 1960er-Jahren endet“. Das will man doch lesen.
Und dann sind da die zahlreichen Artikel, für das Berliner Tageblatt, den Berliner Börsen-Courier oder nach dem Krieg für den Tagesspiegel. Dessen Herausgeber Erik Reger besuchte Gabriele Tergit während ihrer Berlin-Reise im Mai 1948, er war wie sie ein Rowohlt-Autor des Jahres 1931. Sie wunderte sich, wie groß sein Büro, wie beengt das Zimmer der Sekretärinnen: „eine merkwürdige Gefühllosigkeit gegen die Angestellten“. Von den journalistischen Arbeiten gibt es wenigstens einige Auswahlbände, aber noch immer fehlt Gabriele Tergits Korrespondenz. Einige Beispiele sind in dieser Ausgabe ihrer Erinnerungen abgebildet, etwa eine Postkarte von Mascha Kaléko aus Jerusalem. In den Archiven in Marbach, Potsdam und Frankfurt am Main liegt Weiteres und harrt der Herausgabe – das wäre etwas Wünschenswertes überhaupt.
JENS BISKY
Ihr Roman „Käsebier erobert
den Kurfürstendamm“ eroberte
1931 nicht nur den Ku’damm
Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Herausgegeben und mit
einem Nachwort von Nicole Henneberg. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 424 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Eine glasklare Sicht auf die Dinge, ein sprühender Geist, ein Mutterwitz vor dem Herrn.« Joachim Scholl, Deutschlandfunk Kultur »In ihrem von Nicole Henneberg neu herausgegebenen Erinnerungsbuch [...] versucht sie rückblickend zu ergründen, wie die Nazi-Diktatur möglich wurde.« Gisa Funck, Deutschlandfunk Büchermarkt »Es ist ein Gespräch mit den Lesern. Tergit nimmt sie sehr ernst, verlangt ihnen Aufmerksamkeit ab, meidet die abgenutzten Formulierungen und emotionalen Routinen.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung »Tergit sichert in diesem Buch die Spuren der alten Freunde. (...) Es ist eine Art von Liebesdienst, zugleich ein unversöhntes Resümee ihrer Zeit.« Susanne Mayer, Die Zeit »Tergits Erinnerungen [...] in ihrer bisweilen witzigen wie zerrissenenen Sprache [...] lesen sich wie ein unruhiges Zeit-Mosaik.« Till Greite, Frankfurter Allgemeine Zeitung »In Gabriele Tergits Erinnerungen lebt das Berlin der 1920er Jahre wieder auf, mit allen Kuriositäten und Absurditäten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und großen menschlichen Tragödien.« Harald Loch, Neues Deutschland »Keine deutschsprachige Journalistin der 20er Jahre beobachtete genauer und formulierte treffender ... Ein weiblicher Alfred Polgar - nur leidenschaftlicher.« Michael Bauer, Focus »Ein unschätzbares, farbiges Dokument, (...) kämpferisch, natürlich parteinehmend, hellwach und das rare Beispiel eines literarisch anspruchsvollen Journalismus - eben 'etwas Seltenes überhaupt'« Harald Loch, Jüdische Allgemeine »Als kluge und sozialkritische Beobachterin registrierte sie schon früh die zunehmende Destabilisierung der politischen Verhältnisse.« Nicole Hoffmann, Missy Magazine »Lebendig geschriebene, interessante Erinnerungen an ein nicht alltägliches Leben einer bemerkenswerten Frau.« Sabine Roeske, ekz »Bücher wie dieses machen wieder sichtbar, was verschwunden ist.« Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Diese kluge, politisch denkende Frau (...), eine besondere Journalistin.« Juliane Ziegler, Chrismon »Wer wirklich erfahren will, was mit der Weimarer Republik durch den Nationalsozialismus verlorenging, muss Gabriele Tergit lesen.« Gerrit ter Horst, Zeilensprünge »Atmosphärisch ungeheuer dicht und temporeich (...) mit eigenwilligen Formulierungen und typisch berlinerischer Lakonie, trotz oder gerade wegen seiner Leichtigkeit ernsthaft und tiefgründig.« Ruth Roebke, kommbuch »Mal scharfzüngig, mal ironisch, mal liebevoll, mal skurril, mal bitter, mal kritisch, aber immer echt berlinerisch.« Beate Fischer, schreiblust-leselust.de »Tergit ist mehr Reporterin und Zeitbeobachterin als Autobiografin. Sie schreibt lieber über ihre Freunde und Kollegen als über sich selbst. Wobei ihr eindrückliche Impressionen gelingen.« Nadine Lange, Tagesspiegel »Eine (...) hervorragend edierte und kommentierte Neuausgabe.« Wilfried Mommert, Schwäbische Zeitung »Unabhängig davon, ob man ihrem Blick, ihren Charakterisierungen, ihren Wertungen folgt, war sie vor allem eine bedeutende Autorin, und ist dies ein bedeutender Text.« Walter Delabar, Juni…mehr