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Die »Demokratisierung der Deutschen« war nach 1945 keine zielstrebige Erfolgsgeschichte, sondern ein ambivalenter, mitunter gefährdeter Prozess.Lange wurde die Bundesrepublik als »geglückte Demokratie« beschrieben. Erst mit den Erfolgen des »Populismus« schlug das Pendel ins andere Extrem um: Seither überschlagen sich Krisendiagnosen und Untergangsszenarien. Vor diesem Hintergrund setzt sich der Band mit den Voraussetzungen und Eigendynamiken jenes Demokratisierungsprojekts auseinander, das seine Wurzeln im demokratischen Exil und in den alliierten deutschlandpolitischen Planungen des Zweiten…mehr

Produktbeschreibung
Die »Demokratisierung der Deutschen« war nach 1945 keine zielstrebige Erfolgsgeschichte, sondern ein ambivalenter, mitunter gefährdeter Prozess.Lange wurde die Bundesrepublik als »geglückte Demokratie« beschrieben. Erst mit den Erfolgen des »Populismus« schlug das Pendel ins andere Extrem um: Seither überschlagen sich Krisendiagnosen und Untergangsszenarien. Vor diesem Hintergrund setzt sich der Band mit den Voraussetzungen und Eigendynamiken jenes Demokratisierungsprojekts auseinander, das seine Wurzeln im demokratischen Exil und in den alliierten deutschlandpolitischen Planungen des Zweiten Weltkriegs hatte. Verfolgt wird die Geschichte der Demokratisierung bis in die Gegenwart: Erwartungen und Imaginationen geraten dabei ebenso in den Blick wie staatliche Institutionen und Strukturen, wirtschaftspolitische Weichenstellungen sowie gesellschaftliche Diskurse und Mentalitäten. Heute stellt sich die Frage nach der Aneignung demokratischer Einstellungs- und Handlungsmuster in besonderer Weise: Was konnte zu unterschiedlichen Zeitpunkten als demokratisch gelten? Wie veränderten sich Akteure und Bezugsrahmen des Demokratisierungsprozesses? Die »Demokratisierung der Deutschen« wird als ein realer, mitunter gefährdeter, fast immer aber widersprüchlicher Prozess historisiert, dessen Entwicklung für die damaligen Zeitgenossen so wenig vorhersehbar war wie heute für uns.
Autorenporträt
Tobias Freimüller, geb. 1973, ist stellvertretender Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt a.M.Veröffentlichungen u.a.: Die Idee der Rasse. Objekte aus anthropologisch-zoologischen Sammlungen der Universität Jena (Hg., 2015); Kommunikationsräume des Europäischen - Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen (Mithg., 2014); Psychoanalyse und Protest. Alexander Mitscherlich und die »Achtundsechziger« (Hg., 2008); Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler (2007).

Kristina Meyer, geb. 1978, studierte Geschichte, Politik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bochum. Von 2005 bis 2020 arbeitete sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena und war seit 2013 wissenschaftliche Geschäftsführerin des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seit April 2020 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin tätig.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2020

Die Demokratiewissenschaft
Kann man aus der Geschichte lernen? Können Zeithistoriker auch als Gesellschaftskritiker und Aufklärer wirken?
Eine Festschrift für Norbert Frei gibt Auskunft – zeigt aber auch ein Beispiel, wie man sich an der Aufgabe verheben kann
VON RALF HUSEMANN
Im Vorwort ist von „diesen rauen Zeiten“ die Rede. Wie wahr! Aber der Text wurde bereits im Januar geschrieben. Damals redete man noch eher beiläufig von einem neu aufgetauchten Virus in der chinesischen Stadt Wuhan. Von der massiven Wucht, in der sich der hochgefährliche Krankheitserreger bald weltweit verbreiten sollte, ahnte noch niemand etwas. Das Wort von den rauen Zeiten bezog sich vor drei Monaten nicht auf eine Krankheit, sondern auf gesellschaftliche Defekte, auf den Rechtsterrorismus, den unverhüllt auftretenden Antisemitismus oder das immer zynischer werdende Auftreten der AfD, die sich in Thüringen wochenlang mit Erfolg bemühte, die Demokratie als verachtenswerte Regierungsform vorzuführen.
Wobei wir allerdings doch auch beim aktuellen Thema wären. Denn in diesem 500 Seiten dicken Buch geht es um die „Errungenschaften und Anfechtungen“ eben dieser unserer Demokratie, die immer wieder neu verteidigt werden muss. Insofern ein ganz besonders aktueller Band, denn niemand kann daran zweifeln, dass „Corona“ nicht nur die Gesundheit der Bürger, sondern auch die Demokratie gefährdet, die es schwer hat, sich bei Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren zu behaupten. Die Exekutive hat jetzt fast das alleinige Sagen, in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Gesundheitsbehörden, die den Takt vorgeben, den die geschrumpften Parlamente abnicken.
Dabei war der Anlass für die Autoren dieses Buchs, Historiker und Kulturwissenschaftler, in 29 Essays verschiedene Aspekte der „Demokratisierung der Deutschen“ nach dem Ende des Nationalsozialismus darzustellen, ein privates Datum: Anfang März wurde der in Jena lehrende Geschichtswissenschaftler Norbert Frei 65 Jahre alt. „In seiner Person vereinigt sich der um Versachlichung und Objektivität bemühte Zeithistoriker mit dem politisch engagierten Aufklärer“, lobt ihn Jürgen Habermas. Die Autoren dieses ungemein materialreichen Bandes haben Frei, wie es eingangs heißt „alle, auf die eine oder andere Weise“, „begleitet oder von ihm gelernt“.
Es geht in diesem Buch um diverse Detailprobleme, aber immer wieder auch um die Gretchenfrage der Historiografie: Was kann man, wenn überhaupt, aus der Geschichte lernen? Und die Frage, wie weit sich vor allem der Zeitgeschichtler von seiner eigenen Eingebundenheit in dem parallel stattfindenden historischen Prozess frei machen kann. Oder wie Saul Friedländer den verstorbenen Eric Hobsbawm zitiert: „Der Historiker schreibt nicht in einem Vakuum.“
Das breite Themenspektrum behandelt den holprigen Demokratisierungsprozess der jungen Bundesrepublik, über der (übrigens auch heute wieder) der Schatten von „Weimar“, der ersten gescheiterten deutschen Demokratie, schwebt. Auf keinen Fall sollen die Fehler wiederholt werden, die die Machtübernahme der Nazis, wie zwingend auch immer, ermöglichte. Und wie involviert war der einzelne Deutsche in die unglaublichen Verbrechen der NS-Zeit und wie ging er mit dieser Vergangenheit um? Es geht um die sogenannte Wiedergutmachung, die natürlich nichts „wieder gut“ machen konnte. Überhaupt um das Verhältnis der Deutschen zu den Juden und zu Israel, aber auch zu dem wieder einmal besonders malträtierten Polen. Themen sind die 68er, der Kampf um die Mitbestimmung, natürlich die DDR und die komplizierte Wiedervereinigung, selbstredend natürlich auch der Rechtsextremismus, die Nazis und die Neonazis, ja sogar auch der immer noch nicht ehrlich aufgearbeitete deutsche Kolonialismus. Die jeweils kaum mehr als ein Dutzend Seiten langen und meist (mit wenigen Ausnahmen) auch von Nichthistorikern sehr gut lesbaren Beiträge können freilich nur jeweils Einstiege für denjenigen sein, der sich mit der Thematik umfassender auseinandersetzen möchte.
Die in den vergangenen Jahrzehnten üblich gewordene Beschreibung des westdeutschen Nachkriegsstaats im Stil einer „Erfolgsgeschichte“ ist in jüngerer Zeit abgelöst worden vom „Zweifel am Erfolg des demokratischen Projekts“. Aber „es wäre wohl ein Fehler“, so schreiben die Herausgeber in der Einführung, „nun ins andere Extrem zu verfallen und das Narrativ von der erfolgreichen Demokratisierung“ grundsätzlich in Frage zu stellen“.
Moshe Zimmermann etwa relativiert den aktuellen Antisemitismus in diesem Land mit den noch wesentlich erschreckenderen Zahlen der deutschen Nachkriegszeit. 1950/51 ergab das berühmte „Gruppenexperiment“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dass 62 Prozent der Bevölkerung „bedingt bis extrem antisemitisch“ eingestellt waren. Vom angeblichen „linken Faschismus“ (Habermas) will Zimmermann nichts wissen. Die Aktionen der Linken und der BDS-Bewegung („Boycott, Divestment, Sanctions“) richteten sich gegen die israelische Siedlungspolitik, das sei kein Antisemitismus. Die AfD instrumentalisiere das Thema „zynisch als Sprungbrett“, um die Bundesregierung wegen ihrer Flüchtlingspolitik, die angeblich lauter antisemitische Muslime ins Land lasse, anzugreifen und zugleich den „Mythos Achtundsechzig“ zu bekämpfen. Die angebliche Symmetrie von rechtem und linkem Antisemitismus ist für Zimmermann grundlegend falsch: „Der Feind steht rechts.“
Für Carola Dietze ist es unbegreiflich, dass die deutsche Historiografie sich zwar ausgiebig mit den Schreckenstaten der RAF beschäftigt hat, dabei aber häufig übersah, dass – schon lange vor den NSU-Morden – nach den Worten des Historikers Uffa Jensen „das westdeutsche Terrorjahr“ weniger der sogenannte Deutsche Herbst 1977 mit zehn Toten der RAF, sondern eher das Jahr 1980 mit 18 von Mitgliedern der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ und anderen Rechtsradikalen umgebrachten Menschen war.
Mit dem Hype der vermeintlichen Hitler-Tagebücher und dem in den 80er-Jahren üblich gewordenen Nazi-Kitsch – so verirrte sich ein angebliches Hitler-Gedicht sogar in eine Dokumentation der Historiker Eberhard Jäckel und Axel Kuhn – befasst sich Dietmar Süß. Für ihn geht es dabei nicht nur um die Fälschungen an sich, sondern auch „um die Standards der Wissensproduktion über den Nationalsozialismus und die Rolle der kritischen Geschichtsschreibung über Hitler und das Dritte Reich“. Für Süß muss Zeitgeschichte auch als „Demokratiewissenschaft“ verstanden werden und Geschichte auch als „eine Form der Gesellschaftskritik“.
Aus der Reihe fällt der Beitrag von Wulf Kansteiner, der mit einer stilistischen Mischung aus Soziosprech und flapsigen Urteilen über die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Parteien überrascht. Da stolpert man über die Feststellung, dass „posthume Hybride“ wie Greta und Rezo „unsere letzte Hoffnung“ seien. „Ehrliche Kosmopoliten“ macht er nur bei der Linken aus. Wobei er übersieht, dass es gerade in dieser Partei die heftigsten Zerwürfnisse über eine angemessene Flüchtlingspolitik gab, nachdem Sahra Wagenknecht von „Kapazitätsgrenzen“ und „Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung“ sprach. Kansteiner stellt kühl fest, dass Deutschland eine „rassistische Politik“ betreibe. Wobei er immerhin einräumt, dass seine „am grünen Tisch entworfene akademische kosmopolitische Utopie“ einer „großzügigen“ Einwanderungspolitik wohl „nie Realität“ werden wird.
Dieser Beitrag ist, wie gesagt, nicht typisch für diese historisch-kritische und mit vielen interessanten Details aufwartende Fleißarbeit. Aber Habermas weiß natürlich auch, ohne dass dies speziell auf Kansteiner gemünzt ist, von der „Versuchung, das eigene Vorverständnis vorschnell auf den Gegenstand zu projizieren, beziehungsweise den fremden Gegenstand ans eigene Vorverständnis zu assimilieren“.
Die gut lesbaren 29 Aufsätze
bieten oftmals wenig bekannte,
überraschende Details
Wahrhaft errungen: Demonstranten in Ost-Berlin fordern am 4. November 1989 Bürger- und Freiheitsrechte. Wenig später kam die Demokratie in die DDR und bald darauf die Einheit.
Foto: ddrbildarchiv.de/SZ Photo
Tobias Freimüller, Tim Schanetzky, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß und Annette Weinke (Hg.):
Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts. Wallstein, Göttingen 2020.
501 Seiten. 29,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Isabell Trommer liest fast alle Beiträge in dem von Tim Schanetzky und anderen herausgegebenen Sammelband mit Gewinn. Das mit dem Ziel einer Historisierung des widersprüchlichen Demokratisierungsprozesses abgedeckte "breite Spektrum" erinnert sie an Radikalisierungsprozesse in den siebziger und achtziger Jahren, an 1968, macht sie mit DDR-Erzählungen im Wandel der Zeiten bekannt oder mit der EU als "Schreckgespenst der Demokratie". Einige Texte stechen für Trommer aus den mal persönlichen, mal historisch ausgerichteten Arbeiten heraus. Dazu gehört ein Beitrag von Dietmar Süß über die "Hitler-Tagebücher".

© Perlentaucher Medien GmbH
»ein spannendes Lesebuch mit anregenden Beiträgen insbesondere zu erinnerungspolitischen Fragen« (Michael Mayer, H-Soz-Kult, 26.10.2020)