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Gerda Taro. Als Gerta Pohorylle in Stuttgart geboren, in der Schweiz erzogen, in Leipzig zur überzeugten Sozialistin geworden, floh sie vor den Nazis nach Paris. Dort begegnete sie Robert Capa, auch er ein Hunger leidender jüdischer Flüchtling. Die beiden verlieben sich und arbeiten von nun an gemeinsam. Beide dokumentierten sie den Spanischen Bürgerkrieg, aber sie bezahlte diesen Einsatz mit dem Leben. Zu ihrer Beerdigung in Paris kamen Zehntausende; Capa führte mit Louis Aragon und Pablo Neruda den Trauerzug an und Alberto Giocometti schuf ihr Grabmal. Dann wurde Gerda Taro vergessen - bis…mehr

Produktbeschreibung
Gerda Taro. Als Gerta Pohorylle in Stuttgart geboren, in der Schweiz erzogen, in Leipzig zur überzeugten Sozialistin geworden, floh sie vor den Nazis nach Paris. Dort begegnete sie Robert Capa, auch er ein Hunger leidender jüdischer Flüchtling. Die beiden verlieben sich und arbeiten von nun an gemeinsam. Beide dokumentierten sie den Spanischen Bürgerkrieg, aber sie bezahlte diesen Einsatz mit dem Leben. Zu ihrer Beerdigung in Paris kamen Zehntausende; Capa führte mit Louis Aragon und Pablo Neruda den Trauerzug an und Alberto Giocometti schuf ihr Grabmal. Dann wurde Gerda Taro vergessen - bis 2007 in New York ein lang verschollener Koffer geöffnet wurde, darin fand man ihre Negative ... Wer war diese ungewöhnliche junge Frau, die ein paar Jahre lang ganz Paris den Kopf verdrehte? Helena Janeczek hat sie in diesem preisgekrönten Roman behutsam nacherfunden. Aus den Splittern der Erinnerung dreier alter Freunde setzt sie ein Bild zusammen und setzt Gerda Taro damit ein berührendes, weit über die sensationellen Fakten hinausreichendes, literarisches Denkmal. "Dem Vergessen entrissen, das Gesicht einer Frau - das der rebellischen, mutigen, Fotopionierin Gerda Taro. Helena Janeczek gelingt mit ihrem Roman ein perfektes Abbild dieses Feuerwerks der Leidenschaften." Vanity Fair, Italien
Autorenporträt
Janeczek, HelenaHelena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997 erschien bei Mondadori ihr Buch, Lezioni di tenebra, (Lektionen des Verborgenen, Kiepenheuer und Witsch 1999). Darin verhandelt sie Autobiografisches, die Übertragung der tabuisierten Erinnerung der Mutter an ihre Deportation nach Auschwitz auf die Tochter. 2002 folgte der Roman Cibo (Essen, Kiepenheuer und Witsch 2002), ein Romanmosaik in dem es um das komplizierte Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Lebensgrundlage geht. Es folgten Essays und Erzählungen und zwei weitere Romane. 2017 erschien ihr Roman, La ragazza con la Leica (Das Mädchen mit der Leica) der es auf die Shortlist des Premio Campiello schaffte und mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2020

Im
Gegenlicht
Helena Janeczek hat einen grandiosen Roman über
die Fotografin Gerda Taro geschrieben. Ein Besuch
VON MAIKE ALBATH
Eine weitläufige Piazza, ein Springbrunnen vor der Basilika, daneben ein Backstein-Campanile, ein Stück weiter eine romanische Kirche mit filigranen Säulen – das Städtchen Gallarate, nordwestlich von Mailand gelegen, hat etwas beruhigend Verschlafenes. Helena Janeczek wird hier oft gegrüßt, aber kaum jemand weiß, dass die 55-Jährige mit dem kleinstadtgeübten Schlenderschritt, der dunklen Stimme und dem dicken Haarschopf längst eine im ganzen Land bekannte Schriftstellerin ist. Für ihren letzten Roman „Das Mädchen mit der Leica“ bekam sie 2018 den wichtigsten italienischen Literaturpreis Premio Strega. Er verkaufte sich weit über 200 000 Mal, was für Italien ein enormer Erfolg ist. „Es ist schon merkwürdig, dass Frauen, die intellektuell etwas leisten, meistens übersehen werden“, meint Janeczek.
Helena Janeczek, 1964 in München geboren, ist hier seit 38 Jahren zu Hause. Oder eigentlich noch viel länger, denn ihre polnisch-jüdischen Eltern verbrachten seit ihrer Geburt jeden Sommer am Lago Maggiore, kauften ein Haus und schlossen Freundschaften, die zu Ersatzfamilien wurden. „Ich komme sogar mit dem Dialekt dieser Gegend zurecht, den mein Sohn nie gelernt hat, weil er heute weniger verbreitet ist“, erzählt Janeczek, die in Mailand Germanistik, Anglistik und Slawistik studierte und schon damals für Suhrkamp nach italienischen Büchern fahndete. 1989 veröffentlichte sie dort ihren ersten Gedichtband „Ins Freie“ – auf Deutsch. Später scoutete sie für den Verlag Adelphi und dann für Mondadori. Sie entdeckte W.G. Sebald für Italien, war an der Entstehung des großen Camorra-Dokumentarromans „Gomorra“ von Roberto Saviano eng beteiligt und zählte zu den Mitbegründern des sehr inspirierten Literaturblogs „Nazioneindiana“. Unterdessen hatte Janeczek längst die Schreibsprache und das Genre gewechselt. „Das Mädchen mit der Leica“, jetzt in der facettenreichen Übersetzung von Verena von Koskull auf Deutsch erschienen, ist ihr sechstes Buch und umkreist die Geschichte der jüdischen Fotografin Gerda Taro.
„Mein letzter Roman ,Die Schwalben von Montecassino‘, der nur hier herauskam, drehte sich ja um den Zweiten Weltkrieg und die Kämpfe der Alliierten in Italien. Damals schaute ich mir immer wieder die Fotografien von Robert Capa an. Es gab dann 2009 in Mailand eine Ausstellung, in der auch die Aufnahmen von Gerda Taro zu sehen waren. Nachdem ich mich mit diesem sehr männlichen Thema Krieg befasst hatte, elektrisierten mich Frauen, die diese Schauplätze aufsuchten.“ Gerda Taro war in Leipzig unter den Nazis politisch aktiv gewesen, im Gefängnis gelandet und nach Paris emigriert, wo sie sich in André Friedmann verliebte, dem sie das Pseudonym Robert Capa verpasste. Als Fotoreporterin dokumentierte sie mit ihm gemeinsam den Spanischen Bürgerkrieg und wurde bei einem tragischen Unfall von einem Panzer zermalmt. Ihre Beerdigung in Paris war ein Aufbegehren gegen den Faschismus mit Zehntausenden Trauergästen, unter ihnen Henri Cartier-Bresson, Pablo Neruda und Luis Aragon.
Janeczeks Buch verknüpft historische Zeugnisse mit Fiktion und nimmt die betörende junge Frau aus drei Perspektiven in den Blick. Im ersten Teil liefert der Erfinder des Herzschrittmachers Willy Chardack, Gerda haltlos verfallen und „Dackel“ genannt, aus der Retrospektive seine Version der Geschehnisse. Der zweite Teil gehört Ruth Cerf, Gerdas Freundin, die ein stärkeres Gespür für ihre Ambivalenzen hat. Als dritter erinnert sich Georg Kuritzkes, mittlerweile in Rom beheimatet und Mitarbeiter der Vereinten Nationen, an seine Jugendliebe Gerda, die aus ihm einen Spanienkämpfer machte. Die Figuren, Schauplätze und Zeitebenen sind elegant miteinander verzahnt und eingerahmt von einem Vorspann und einem Epilog, in dem eine erzählende Stimme mit sich selbst in einen Dialog tritt, Fotografien beschreibt und über die Annäherung reflektiert. Ein Spiegelkabinett, bei dem Janeczek ihre Protagonistin immer wieder aus einem anderen Winkel einfängt.
Ihr Roman, in dem sich körnige Nahaufnahmen mit weiten Kameraschwenks abwechseln, spielt mit den ästhetischen Verfahren der Fotografie. „Mit historischem Personal zu operieren, ist natürlich ein Risiko“, sagt die Schriftstellerin. „Mir war bang, als ich diesen Menschen, die ich aus Interviews und Dokumenten kannte, dann Gefühle und Gedanken zuschob. Ich habe zuerst probiert, ihnen andere Namen zu geben, aber das ist dann so wie in der Sixtinischen Kapelle, wenn der Maler hinterher Unterhosen drum herum drapiert. Es hatte keinen Sinn. Ich habe wie eine Schauspielerin mit der Stanislavskij-Methode gearbeitet und versucht, mich einzufühlen.“
Das Experiment ist geglückt, auch weil die Autorin auf Ich-Erzähler verzichtet, Erinnerungen wie Déjà-vus aufblitzen lässt und in knappen Dialogen die Figuren vergegenwärtigt. Es entsteht eine eigentümliche Energie. „Das Mädchen mit der Leica“ hat einen neusachlichen Tonfall. Ohne sie zu idealisieren, verleiht Janeczek ihrer Heldin etwas Flirrendes, das jeden ansteckt, der näher mit ihr zu tun hatte. Eine überwältigende junge Frau, die versessen auf das Leben war.
Inzwischen sitzen wir längst bei Helena Janeczek zu Hause und schauen aus dem sechsten Stockwerk eines modernistischen Siebziger-Jahre-Baus von oben über die Stadt. Im sonnigen Wohnzimmer springt eine der beiden Katzen mit einem Satz auf den Esstisch und wird auf Italienisch zur Raison gerufen. Auf dem Bücherregal steht eine Fotografie von Gerda Taro, wie sie an der Schreibmaschine sitzt – die ersten Monate im Pariser Exil hielt sie sich als Tippmamsell über Wasser. Ein improvisiertes Dasein. Es gibt eine gewisse Nähe zu Janeczeks eigener Herkunftsgeschichte. Ihre Eltern hatten sich im polnischen Zawiercie kennengelernt, als das Ghetto errichtet wurde. Ihr Vater überzeugte ihre Mutter und einige Verwandte, sich zu verstecken. Eine der Gruppen flog auf. „Meine Mutter war nicht dabei, wurde dann aber später verraten und nach Auschwitz deportiert, mein Vater schlug sich mit falschen Papieren durch.“ Beide überlebten, anders als der Großteil der Familie. Als es 1946 in Kielce wieder zu einem Pogrom kam, flohen die Eltern Richtung Westen, fanden sich in einem Camp für displaced persons in Bayern wieder und eröffneten später in München auf der Maximilianstraße ein glamouröses Schuhgeschäft. Die Münchner drückten sich am Schaufenster von „Italy Ninetta“ die Nasen platt, so ungewöhnlich war die Ware. „Meine Mutter war immer sehr trendy. Sie fuhr allein mit dem Auto bis nach Neapel, auf der Suche nach den schicksten Schuhen. Über die Vergangenheit wurde nicht gesprochen. Null. Das war eine Überlebensstrategie.“
Genau wie Gerda Taro und ihre Freunde waren Janeczeks Eltern auf die Zukunft fixiert, erst recht, als die Mutter nach unzähligen Fehlgeburten mit über vierzig ihre Tochter zur Welt gebracht hatte. Die TV-Serie „Holocaust“ habe dann ein bisschen etwas losgetreten, erzählt die Autorin: „Vielleicht war es ganz gut, dass sie so schmalzig war. Es war ein behutsamer Einstieg. Primo Levi und Celan kamen später.“ Norditalien bot ihren Eltern eine Gegenwelt, die nicht von Nazis kontaminiert war. Einer ihrer engsten Freunde aus Gallarate hatte als Partisan im Aosta-Tal gekämpft und unterrichtete Italienisch am Gymnasium. Er schenkte der Heranwachsenden Bücher von Carlo Emilio Gadda, Luigi Meneghello und Primo Levi. In ihrem italienischen Debüt „Lektionen der Dämmerung“, das 1997 herauskam, erzählt Janeczek von einer Reise nach Auschwitz gemeinsam mit ihrer Mutter. Das autobiografische Vermächtnis schärfte ihr Sensorium für verwandte Schicksale. „Ein Auslöser für mein neues Buch war der jüdische Friedhof in München, wo auch meine Eltern begraben sind. Dort wird etwas unmittelbar sinnfällig“, erklärt Janeczek. „Es gibt diese prächtigen Grabmahle der Jahrhundertwende, Jugendstil, eingemeißelte Goethe-Zitate, später dann Sätze zu den tapferen Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Nach 1945 sind die Gräber eher armselig. Die neueren zeugen dann von der immer orthodoxer werdenden jüdischen Gemeinde und sind mit Davidsternen und hebräischen Inschriften versehen. Es gibt diesen Bruch in der jüdischen Geschichte: Vor dem Krieg konnte man bürgerlich sein, Sozialist, Kommunist, Zionist. Nach dem Krieg war das nicht mehr möglich.“
Auch deshalb lag es für Helena Janeczek nahe, in das Land zu gehen, in dem sie seit ihrer Kindheit verankert war. „Celan war für meine Anfänge als Lyrikerin eine Identifikationsfigur, von der ich mich befreien musste. Ich las weiter viel auf Deutsch, aber im Italienischen war ich freier. Wenn man als Kind Klavierunterricht hatte, dann aber kein Klavier mehr anrührt und stattdessen zwanzig Jahre lang auf dem Cello übt, kann man am Ende nicht mehr besonders gut Klavier spielen.“ Ein warmer, satter Cello-Ton ist das Ergebnis.
Ihre Eltern überlebten. Und
eröffneten ein glamouröses
Schuhgeschäft in München
@ringbahnpoesie,
empfohlen von
Clemens Setz
(„Der Trost runder Dinge“)
„Wunderbare Found
Poetry aus Berlin,
wo man eben noch weiß,
wie man gewöhnliche
Alltagsgespräche für die Ewigkeit führt.“
Helena Janeczek:
Das Mädchen mit der Leica. Aus dem
Italienischen von Verena von Koskull. Berlin Verlag, Berlin, München 2020,
352 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beeindruckt ist Rezensent Niklas Bender sowohl von der Protagonistin als auch von der komplexen Konstruktion dieser "Biofiktion", wie er sie nennt. Das erotisch ungebundene Leben der tragisch im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben gekommenen Fotografin Gerda Taro werde hier erzählt aus der Perspektive zweier Männer, die zu unterschiedlichen Zeiten mit ihr zusammen waren. So gelingt es der Autorin nach Meinung des Kritikers, den "Egoismus" der flatterhaften Gerda Taro, deren enormen Mut er immerhin auch würdigt, sowohl zu thematisieren als auch zu relativieren. Manchmal mag ein in der Geschichte des Exils und der Dreißiger Jahre weniger bewandertes Lesepublikum etwas in den Zeitebenen des Romans umher irren. Dennoch findet Niklas Bender diesen Roman zu Recht 2018 in Italien mit dem Premio Strega ausgezeichnet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2020

Belohnt Fotografie Opportunismus?

Helena Janeczek erzählt in ihrem biographisch deutenden Roman "Das Mädchen mit der Leica" von Gerda Taro, die so viel mehr war als nur die Gefährtin von Robert Capa.

Schwierige Themen haben ihr Gutes: Wer sie sich hart erarbeiten muss, vermeidet Bequemlichkeitsfehler und gibt eigenen Neigungen nicht vorschnell nach. So gesehen, stellt sich Helena Janeczeks Roman "Das Mädchen mit der Leica" einer Herausforderung: Er erzählt die Geschichte der Fotografin Gerda Taro (1910 bis 1937), Lebensgefährtin von Robert Capa, die in Leipzig aufwuchs und zur Sozialistin wurde, 1933 vor den Nazis nach Paris flüchtete, dort ihr Handwerk lernte, 1936/1937 aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtete und schließlich in El Escorial von einem Panzer überrollt wurde; ihre Beerdigung wurde ein Fanal gegen den Faschismus, mit Louis Aragon und Pablo Neruda an der Spitze des Trauerzugs. Taros Bedeutung als Fotografin wurde vor wenigen Jahren auf abenteuerlichen Wegen evident: 2007 tauchte in Mexiko ein Koffer mit Tausenden Negativen auf, die als verschollen gegolten hatten. Sie belegten Eigenständigkeit und Relevanz von Taros Werk.

Aus diesem sowieso schon romanesken Leben einer unabhängigen, kreativen und politisch engagierten Frau einen Roman zu machen lag derart auf der Hand (tatsächlich gibt es den Vorläufer "Warten auf Robert Capa" von Susana Fortes, 2009), dass die Wahrscheinlichkeit, ihn in den Sand zu setzen, gigantisch war. Umso erfreulicher ist es, dass die 1964 geborene deutsch-italienische Schriftstellerin, Verlagsberaterin und Journalistin Janeczek die Schwierigkeit zu meistern und die Stärken ihres Gegenstands zu nutzen gewusst hat.

Sie schlüpft in den Kopf von drei Taro Nahestehenden: Willy Chardack, Ruth Cerf und Georg Kuritzkes, Juden wie Taro und Capa, und dementsprechend im Exil. Die zwei ehemaligen Geliebten sind in der Gegenwart des Jahres 1960 Ärzte: Chardack, der den Herzschrittmacher mitentwickelt, hat großen Erfolg, während Kuritzkes wenig enthusiastisch für die Vereinten Nationen arbeitet; Cerf hingegen blickt aus kurzer Distanz zurück, nämlich aus dem Paris des Jahres 1938, kurz vor ihrer Ausreise in die Schweiz. Durch die verschiedenen Blickwinkel setzt sich ein wenn nicht gebrochenes, so doch nuanciertes Bild der jungen Frau zusammen.

Dank eines Anrufs sind die drei Teile verbunden: Nach einem Glückwunschtelefonat erinnern sich Chardack und Kuritzkes am selben Tag an Taro, der eine in Buffalo, der andere in Rom; Cerf hat Chardacks Telefonnummer geliefert. Alle drei kennen sich und Taro aus Leipziger Zeiten, haben sich im Pariser Exil wiedergefunden und erst auf der zweiten Flucht vor dem Nationalsozialismus aus den Augen verloren, was dazu führt, dass jede der Figuren mehrere Zeitebenen evoziert; nicht immer ist lupenrein klar, welche der Roman gerade anspricht, was einen unkundigen Leser anfangs chronologisch ins Stolpern bringen kann. Das Aufbrechen eines linearen Handlungsschemas allerdings ist der (akzeptable) Preis für Farb- und Lebhaftigkeit der Darstellung.

Wer war Gerda Taro? Viel und heftig begehrt, lässt sie sich auf diverse Männer ein, ohne Rücksicht auf Anstandsregeln. Doch sie ist weit mehr als ein Spielball männlicher Leidenschaften oder die gelehrige Schülerin sozialistischer Prediger: "Sieh sie dir an, hatte sie gedacht, diese kleine Person, die sämtliche Blicke auf sich zieht, dieses Inbild an Eleganz, Weiblichkeit und Koketterie, bei dem niemand so etwas vermuten würde, fühlt und handelt wie ein Mann." Ihre Freundin Ruth wird recht behalten: Taro wählt frei, ja prägt andere durch ihr Draufgängertum. Tapfer passt sie sich selbst schlimmsten Umständen an, übersteht Gestapo-Verhöre und Haft, bestreitet ihren Lebensunterhalt in Paris, schlägt sich im Spanischen Bürgerkrieg durch. Ihrem Stuttgarter Verlobten hilft sie, einen Kaffeeimport aufzubauen, und den ungarischen Juden André Friedmann tauft sie Robert Capa, um seiner Karriere den entscheidenden Schub zu versetzen.

Im Kern der Charakteranalyse des Romans stehen Taros Männerbeziehungen und hier neben dem frühen Stuttgarter Verlobten, der am Rande mitläuft, vor allem Kuritzkes und Capa, mit dem sie die letzten zwei Jahre ihres Lebens eine Liebe höchster Intensitätsstufe pflegt; Chardack - "der Dackel" - hat seinem Spitznamen entsprechend eine rein episodische Funktion. Die Frage, die Janeczek umtreibt, ist, ob Capa die große Liebe war, als die er im Moment von Taros Tod gelten konnte, trotz seiner (und ihrer) Affären, trotz weiterhin enger Bande mit Kuritzkes. Die Frage ist nur auf den ersten Blick anekdotisch: Sie unterminiert das Paardenkmal zweier kongenial Fotografierender und Liebender und setzt weitere Fragezeichen hinter Taros Existenz.

Denn bei aller Begeisterung für "ihren Optimismus, ihren unbekümmerten Pragmatismus. Ihr Talent, Unsicherheiten und Enttäuschungen beiseitezuschieben, ihren mühelosen, bisweilen zynischen Realismus, den sie an den Tag legte, um sich nicht geschlagen zu geben": Janeczek arbeitet sich - ob direkt oder implizit - immer wieder an Taros Egoismus, ihrer (euphemistisch) charakterlichen "Anpassungsfähigkeit" und, verbunden damit, ihrer Oberflächlichkeit ab. Letztere drücke sich in ihrer Eitelkeit und amourösen Flatterhaftigkeit aus: "Gerda war und blieb leicht in jeder Hinsicht, auch im übertragenen und weniger schmeichelhaften Sinn." Relevant ist das, weil es Taros Berufswahl mitbetrifft: Fotografin sei ein Beruf, der "die Opportunisten" belohne.

Die heiklen Punkte werden perspektivisch gebunden und damit relativiert. Diese Vorsicht überzeugt und erklärt die Begeisterung der Juroren, die Janeczek 2018 für diesen Roman, ihren dritten, den Premio Strega verliehen haben. Die Ehrung durch den wichtigsten Literaturpreis Italiens legt es nahe: "Das Mädchen mit der Leica" will sich nicht als Biographie verstanden wissen, dennoch baut der Band auf einer soliden dokumentarischen Basis auf. Janeczek nennt Irme Schabers Biographien sowie eine ganze Reihe an Fachberatern. Am ehesten handelt es sich um eine Biofiktion mit großer Faktennähe; auch frühere Bücher Janeczeks, die sich mit dem Schicksal ihrer Familie im Dritten Reich beschäftigt haben, verleihen recherchierten Tatsachen eine literarische Form.

Den ästhetischen Mehrwert gewinnt "Das Mädchen mit der Leica" mittels atmosphärisch dichter Beschreibungen, freier, souveräner Erzählführung sowie psychologisch genauer Beobachtungen wie jener zu Kuritzkes, der als überarbeiteter Feldarzt in Spanien mit einem überdrehten Capa, seinem Rivalen, Schnaps trinken muss: "Er kam sich vor wie ein Ethnologe, der gezwungen war, sich mit seinem Forschungsobjekt zu verbrüdern." Das ist nur eines unter vielen gewitzt erfassten Details, die Janeczek zur frei erzählten Geschichte einer frei geführten Existenz zusammenzuführen versteht.

NIKLAS BENDER

Helena Janeczek: "Das Mädchen mit der Leica". Roman.

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Berlin Verlag, Berlin 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Fein gesponnener Roman.« Süddeutsche Zeitung 20191213
Belohnt Fotografie Opportunismus?

Helena Janeczek erzählt in ihrem biographisch deutenden Roman "Das Mädchen mit der Leica" von Gerda Taro, die so viel mehr war als nur die Gefährtin von Robert Capa.

Schwierige Themen haben ihr Gutes: Wer sie sich hart erarbeiten muss, vermeidet Bequemlichkeitsfehler und gibt eigenen Neigungen nicht vorschnell nach. So gesehen, stellt sich Helena Janeczeks Roman "Das Mädchen mit der Leica" einer Herausforderung: Er erzählt die Geschichte der Fotografin Gerda Taro (1910 bis 1937), Lebensgefährtin von Robert Capa, die in Leipzig aufwuchs und zur Sozialistin wurde, 1933 vor den Nazis nach Paris flüchtete, dort ihr Handwerk lernte, 1936/1937 aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtete und schließlich in El Escorial von einem Panzer überrollt wurde; ihre Beerdigung wurde ein Fanal gegen den Faschismus, mit Louis Aragon und Pablo Neruda an der Spitze des Trauerzugs. Taros Bedeutung als Fotografin wurde vor wenigen Jahren auf abenteuerlichen Wegen evident: 2007 tauchte in Mexiko ein Koffer mit Tausenden Negativen auf, die als verschollen gegolten hatten. Sie belegten Eigenständigkeit und Relevanz von Taros Werk.

Aus diesem sowieso schon romanesken Leben einer unabhängigen, kreativen und politisch engagierten Frau einen Roman zu machen lag derart auf der Hand (tatsächlich gibt es den Vorläufer "Warten auf Robert Capa" von Susana Fortes, 2009), dass die Wahrscheinlichkeit, ihn in den Sand zu setzen, gigantisch war. Umso erfreulicher ist es, dass die 1964 geborene deutsch-italienische Schriftstellerin, Verlagsberaterin und Journalistin Janeczek die Schwierigkeit zu meistern und die Stärken ihres Gegenstands zu nutzen gewusst hat.

Sie schlüpft in den Kopf von drei Taro Nahestehenden: Willy Chardack, Ruth Cerf und Georg Kuritzkes, Juden wie Taro und Capa, und dementsprechend im Exil. Die zwei ehemaligen Geliebten sind in der Gegenwart des Jahres 1960 Ärzte: Chardack, der den Herzschrittmacher mitentwickelt, hat großen Erfolg, während Kuritzkes wenig enthusiastisch für die Vereinten Nationen arbeitet; Cerf hingegen blickt aus kurzer Distanz zurück, nämlich aus dem Paris des Jahres 1938, kurz vor ihrer Ausreise in die Schweiz. Durch die verschiedenen Blickwinkel setzt sich ein wenn nicht gebrochenes, so doch nuanciertes Bild der jungen Frau zusammen.

Dank eines Anrufs sind die drei Teile verbunden: Nach einem Glückwunschtelefonat erinnern sich Chardack und Kuritzkes am selben Tag an Taro, der eine in Buffalo, der andere in Rom; Cerf hat Chardacks Telefonnummer geliefert. Alle drei kennen sich und Taro aus Leipziger Zeiten, haben sich im Pariser Exil wiedergefunden und erst auf der zweiten Flucht vor dem Nationalsozialismus aus den Augen verloren, was dazu führt, dass jede der Figuren mehrere Zeitebenen evoziert; nicht immer ist lupenrein klar, welche der Roman gerade anspricht, was einen unkundigen Leser anfangs chronologisch ins Stolpern bringen kann. Das Aufbrechen eines linearen Handlungsschemas allerdings ist der (akzeptable) Preis für Farb- und Lebhaftigkeit der Darstellung.

Wer war Gerda Taro? Viel und heftig begehrt, lässt sie sich auf diverse Männer ein, ohne Rücksicht auf Anstandsregeln. Doch sie ist weit mehr als ein Spielball männlicher Leidenschaften oder die gelehrige Schülerin sozialistischer Prediger: "Sieh sie dir an, hatte sie gedacht, diese kleine Person, die sämtliche Blicke auf sich zieht, dieses Inbild an Eleganz, Weiblichkeit und Koketterie, bei dem niemand so etwas vermuten würde, fühlt und handelt wie ein Mann." Ihre Freundin Ruth wird recht behalten: Taro wählt frei, ja prägt andere durch ihr Draufgängertum. Tapfer passt sie sich selbst schlimmsten Umständen an, übersteht Gestapo-Verhöre und Haft, bestreitet ihren Lebensunterhalt in Paris, schlägt sich im Spanischen Bürgerkrieg durch. Ihrem Stuttgarter Verlobten hilft sie, einen Kaffeeimport aufzubauen, und den ungarischen Juden André Friedmann tauft sie Robert Capa, um seiner Karriere den entscheidenden Schub zu versetzen.

Im Kern der Charakteranalyse des Romans stehen Taros Männerbeziehungen und hier neben dem frühen Stuttgarter Verlobten, der am Rande mitläuft, vor allem Kuritzkes und Capa, mit dem sie die letzten zwei Jahre ihres Lebens eine Liebe höchster Intensitätsstufe pflegt; Chardack - "der Dackel" - hat seinem Spitznamen entsprechend eine rein episodische Funktion. Die Frage, die Janeczek umtreibt, ist, ob Capa die große Liebe war, als die er im Moment von Taros Tod gelten konnte, trotz seiner (und ihrer) Affären, trotz weiterhin enger Bande mit Kuritzkes. Die Frage ist nur auf den ersten Blick anekdotisch: Sie unterminiert das Paardenkmal zweier kongenial Fotografierender und Liebender und setzt weitere Fragezeichen hinter Taros Existenz.

Denn bei aller Begeisterung für "ihren Optimismus, ihren unbekümmerten Pragmatismus. Ihr Talent, Unsicherheiten und Enttäuschungen beiseitezuschieben, ihren mühelosen, bisweilen zynischen Realismus, den sie an den Tag legte, um sich nicht geschlagen zu geben": Janeczek arbeitet sich - ob direkt oder implizit - immer wieder an Taros Egoismus, ihrer (euphemistisch) charakterlichen "Anpassungsfähigkeit" und, verbunden damit, ihrer Oberflächlichkeit ab. Letztere drücke sich in ihrer Eitelkeit und amourösen Flatterhaftigkeit aus: "Gerda war und blieb leicht in jeder Hinsicht, auch im übertragenen und weniger schmeichelhaften Sinn." Relevant ist das, weil es Taros Berufswahl mitbetrifft: Fotografin sei ein Beruf, der "die Opportunisten" belohne.

Die heiklen Punkte werden perspektivisch gebunden und damit relativiert. Diese Vorsicht überzeugt und erklärt die Begeisterung der Juroren, die Janeczek 2018 für diesen Roman, ihren dritten, den Premio Strega verliehen haben. Die Ehrung durch den wichtigsten Literaturpreis Italiens legt es nahe: "Das Mädchen mit der Leica" will sich nicht als Biographie verstanden wissen, dennoch baut der Band auf einer soliden dokumentarischen Basis auf. Janeczek nennt Irme Schabers Biographien sowie eine ganze Reihe an Fachberatern. Am ehesten handelt es sich um eine Biofiktion mit großer Faktennähe; auch frühere Bücher Janeczeks, die sich mit dem Schicksal ihrer Familie im Dritten Reich beschäftigt haben, verleihen recherchierten Tatsachen eine literarische Form.

Den ästhetischen Mehrwert gewinnt "Das Mädchen mit der Leica" mittels atmosphärisch dichter Beschreibungen, freier, souveräner Erzählführung sowie psychologisch genauer Beobachtungen wie jener zu Kuritzkes, der als überarbeiteter Feldarzt in Spanien mit einem überdrehten Capa, seinem Rivalen, Schnaps trinken muss: "Er kam sich vor wie ein Ethnologe, der gezwungen war, sich mit seinem Forschungsobjekt zu verbrüdern." Das ist nur eines unter vielen gewitzt erfassten Details, die Janeczek zur frei erzählten Geschichte einer frei geführten Existenz zusammenzuführen versteht.

NIKLAS BENDER

Helena Janeczek: "Das Mädchen mit der Leica". Roman.

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Berlin Verlag, Berlin 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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