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Die »Dreizehn alltäglichen Phantasiestücke«, mit denen Karl Heinz Bohrer nach seiner wissenschaftlichen Studie über den »Hass« zu kleineren, handlichen Formen übergeht, sind so alltäglich nicht: Sie zeigen die Handschrift eines ruhelosen Intellektuellen, der in der konzentrierten Form kurzer Prosa über ausgewählte Befindlichkeiten, Vorlieben, Emphatisierungen, Verstörungen, auch Antipathien eines langen Lebens Auskunft gibt. Mit einem suggestiven Erlebnisbericht über eine Bahnfahrt nach Brüssel - auf dem Höhepunkt der Hitzeperiode des Jahres 2018 -, die in einer apokalyptischen Erfahrung…mehr

Produktbeschreibung
Die »Dreizehn alltäglichen Phantasiestücke«, mit denen Karl Heinz Bohrer nach seiner wissenschaftlichen Studie über den »Hass« zu kleineren, handlichen Formen übergeht, sind so alltäglich nicht: Sie zeigen die Handschrift eines ruhelosen Intellektuellen, der in der konzentrierten Form kurzer Prosa über ausgewählte Befindlichkeiten, Vorlieben, Emphatisierungen, Verstörungen, auch Antipathien eines langen Lebens Auskunft gibt. Mit einem suggestiven Erlebnisbericht über eine Bahnfahrt nach Brüssel - auf dem Höhepunkt der Hitzeperiode des Jahres 2018 -, die in einer apokalyptischen Erfahrung buchstäblich zu entgleisen droht, setzt Bohrer den Ton, bevor es weitergeht zu den Fundamenten unseres Gefühlslebens: zu Herkunft und Wesensart des Ressentiments etwa, zu den Wurzeln von Freundschaft und Entfremdung, zu Reflexionen über Isolation, Einsamkeit und Alleinsein und zu narzisstisch gespiegelter Selbstwahrnehmung.

So entfaltet sich ein reiches Panorama ganz unterschiedlich gestimmter Gedanken und Erinnerungen, in denen der Autor, wie von ihm gewohnt, kein Blatt vor den Mund nimmt und den Leser das Alltägliche denn doch als die aufregende Begegnung mit dem schlechthin Fremden erfahren lässt.
Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in Köln, war Literaturkritiker, Herausgeber, Wissenschaftler, Verfasser vieler Werke um die zentrale Idee des Momentanismus, der »Plötzlichkeit«. Langjährige Aufenthalte in Frankreich und England als bewusste Erfahrung der »Fremde«. Hochschullehrer in Deutschland, Frankreich und den USA. Als scharfzüngiger, auch polemischer Zeitkritiker stand er immer wieder im Zentrum heftiger Diskussionen. Bohrer verstarb am 4. August 2021 in London.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Fridtjof Küchemann ist lange beschäftigt mit diesen Fantasiestücken des Publizisten Karl Heinz Bohrer. Wenn der Autor vom Persönlichen (Erfahrungen als Messdiener, im Fußballstadion und unter Kreuzrittern) zum Allgemeinen gelangt, manchmal in einem Stück Pirouetten drehend, Sprünge vollführend, von der Kinderwelt zur geisteswissenschaftlichen Analyse gleitet, fallen für den Rezensenten Erkenntnisse ab, aber auch anmutige Bilder von "literarischer Intensität". Dass Bohrer die Anekdote wie die Kulturgeschichte gleich gut beherrscht, dafür ist der Band ein schöner Beweis, findet Küchemann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2021

Und das Romantische ist das Gesunde
Karl Heinz Bohrers letztes Buch enthält nicht weniger als die Lebenslehre
Man konnte ja fragen, was das sollte. Karl Heinz Bohrers lebenslange essayistisch-theoretische Anstrengungen hämmerten wenige grundlegende Motive ein: Kunst hat keine Botschaft, sie ist nicht gesellschaftlich anschlussfähig, die Affekte von Trauer, Schrecken und Hass lassen sich nicht begrifflich einfangen und therapeutisch beruhigen; der Modus ihres Erlebens ist Plötzlichkeit, der Bruch der Kontinuität. Und andererseits: Politik möge sich erhabener Formen bedienen. Die Künste, und hier schließt sich der Kreis, sind Orte der Befreiung von kommunikativ-sozialen Zusammenhängen. Damit wurden sie zum Widerspiel demokratisch-deliberativer Kultur und öffentlicher Moral mit ihren Konformismen.
Also ein radikal subjektives Befreiungsprogramm, stolze, trostfreie Vereinzelung, gesteigertes Dasein, ein pathetisches Leben. Doch für wen, außer dem Autor, sollte das gut sein? Wer Lehrhaftigkeit geringschätzte, konnte ja wohl nicht selbst Lehrer sein. Aber natürlich war Bohrer ein Lehrer und durch seine Bücher bleibt er es, nicht mit Doktrinen und Meinungen, sondern durch die beispielhaft vorgeführte Empfindsamkeit. Sein nachgelassenes, aber vollendet poliertes Buch zeigt ihn noch einmal in der Glorie seiner Subjektivität, es liefert einen persönlichen Schlüssel zu seinem Riesenwerk. Es ist die letzte souveräne Geste.
Noch einmal lässt es sich auf konkrete, aktuelle Situationen ein, zugleich schreitet es die Gebiete der Bohrerschen Motive ab. Der Modus ist Erinnerung und Selbstgespräch, aber nicht als christlich-rousseauistische Geständniskultur, sondern antiker, renaissancehafter: die eigene Existenz begriffen als Instrument staunender Erkenntnis. Nicht umsonst fällt immer wieder der Name von Montaigne, der mit heidnischen Klassikerzitaten und Beobachtungen am eigenen Leib das Neuland des modernen Subjekts betrat.
Bohrers Klassiker sind die Romantiker, der große Roman des neunzehnten Jahrhunderts, der Film des zwanzigsten. Diese Werke haben die Welt nicht abgeschildert, sondern neu gemacht und verfremdet. Wozu soll das gut sein? Zum Beispiel, um dessen innezuwerden, was gerade passiert. Das Eingangsstück der dreizehn etwa gleich langen Essays behandelt eine quälende, an den Rand des Erträglichen führende Zugfahrt in einem der letzten Hitzesommer. Die Schilderung hat etwas Dystopisches. „Man bekam keine Luft mehr. Als ob die heiße Luft wie eine aus Klötzen gemachte Masse auf einem läge.“
Zugleich kommt die Ahnung auf, solche Erfahrungen könnten nun immer wiederkehren, Fahrten auf den Kontinent unmöglich machen und damit die vertraute Welt unwiederbringlich verschieben. Dabei vermeidet der Text den Begriff „Klimakatastrophe“, der so nahe läge, und verweigert alles Meinungshafte. Das Katastrophale des Erlebnisses kommt dadurch viel wirksamer zur Geltung. Man wird Zeuge eines historischen Schocks.
Das letzte Stück handelt von Corona, Bohrer muss es unmittelbar vor seinem Tod geschrieben haben. Auch er zog sich zurück, aufs Land im Nordosten des geliebten England, und natürlich fällt auch ihm das Beispiel Boccaccios und die Flucht vor der Pest ein. Dabei dreht sich der konventionelle Zusammenhang von Idylle und Chaos um: Nicht das Chaos bedroht die Idylle, sondern die Idylle wird vom Chaos überhaupt erst hervorgebracht. Die Idylle ist so weniger Flucht als Selbstbehauptung. Damit wird nebenbei eine ganze literarische Tradition neu lesbar. Hatte Bohrer Meinungen zur Pandemie? Die Frage ist unerheblich.
Die Stücke innerhalb dieses ganz heutigen Rahmens schreiten allgemeinere Themen aus. Am wenigsten überraschend, fast propädeutisch, für Bohrer-Anfänger also zu empfehlen, sind die Kapitel zu Literatur und Film, die nicht nur Vorlieben präsentieren, sondern Sehweisen. Der Film, dessen Bedeutung bis 1970 angehalten habe, hat für Bohrer in Godards „Außer Atem“ und Viscontis „Gattopardo/Leopard“ seine Kulminationen erreicht, in existenzieller Konversation und im Drama des historischen Bruchs, das einen großen Einzelnen allein auf der Bühne zurücklässt – beides Shakespeare-Konstellationen. Der Roman wiederum mag empirisch noch so gehaltvoll sein, seine Aufgabe ist es, „dem Leser nichts Alltägliches vor Augen zu führen, sondern etwas Fremdartiges“. Vor allem Balzac ist kein Realist, sondern ein Träumer.
Fremd, nämlich interessant und nicht schön, müssen auch die Städte sein, Bohrers lebenslanges Biotop. Interessantheit entsteht durch historische Zeichenhaftigkeit und das Bewusstsein der Bewohner davon. Städter tragen einen Kosmos kollektiver Erfahrungen mit sich herum und darum drohen sie heute abzusterben – Bohrers geliebtes London, so lautet das trostlose Schlusswort, hat sein Herz verloren, durch neue Bewohner, Brexiteers und Einwanderer gleichermaßen.
Ein Triptychon umkreist Hass, Freundschaft, Alleinsein, „Elementarien“ des Lebens. Bohrers Hass gilt dem Ressentiment und seinem physiognomischen Ausdruck, der „Verbindung von Unsicherheit und Arroganz, aus der sich eine irgendwie schmierige Mischung einerseits ins Weinerliche, andererseits ins Anmaßende ergab, die sich in den Gesichtszügen widerspiegelte“. Porträts ohne Namen aus der Universität! Aber dort finden sich auch Freunde, so gar im Alter, und hier verrät Bohrer vielleicht das entscheidende Geheimnis seiner Kraft. Nachdem er die Phasen und Typen der Freundschaft abgeschritten hat, heißt es zum Schluss: „Die Männerfreundschaft braucht noch immer genug von jener Affirmation, die zwischen Schulfreunden grundlegend ist, also das Naiv-Ursprüngliche.“
Ja! Bohrer bewahrte sich durch alle Lebensphasen die Energie des pubertierenden Jünglings, nie hat er die Fäden zu dieser Kraftquelle gekappt. Das politisch unkorrekte Stück zu Fußball, Kampf und Krieg lebt von der Knabenhitzigkeit bei Indianerspielen und -lektüren. „Alles kann zusammenkommen, wenn man dreizehn ist. Die Indianer, die Franken, die Helden der Normandie-Schlachten, die Mittel- und Außenstürmer.“ Es geht um eine Ansicht des Lebens als Kampf, aber eines ritterlichen. Doch der moderne technologische Krieg, schon die „Stahlgewitter“ haben dieser Ritterlichkeit des Krieges den Garaus gemacht. Eine beiläufige, gewichtige Absage an Ernst Jünger, einen von Bohrers Gewährsleuten.
Liebe, Eros, Sexualität – sie leben von ersten Erfahrungen, dem verlockenden Buchdeckelbild von Andersens Seejungfrau, dem ersten Spaziergang mit einem angehimmelten Schulmädchen, aus dem nichts folgt. Wie zart und aufregend ist das Erwachen in einer bilderarmen Welt, in der schon ein gewölbtes Mieder in der Kirche die Fantasie des Messbuben in Wallung versetzt. Auch Alleinsein ließ sich noch üben, es setzt die Trias von Nachdenken, Lesen und Schreiben in Gang, die dann doch mit dem Ruhm kommuniziert. Eher befremdet sieht Bohrer, wie sich die Pascal-Frage, was der Mensch allein in seinem Zimmer mit sich anfangen soll, durch die Präsenz kommunikativer Geräte auflöst. Hier wird sein Text zur Erinnerung an eine Möglichkeit, die gefährdet ist wie nie.
Schlaflosigkeit, für Bohrer nicht Abwesenheit von Schlaf, sondern existenzielle Unruhe, und der Blick in den Spiegel, ein romantisches Motiv, erweitern das Alleinsein ins Fantastische – „Phantasiestücke“ annonciert sein Buch, das doch von Grundformen des Lebens handelt. Das Romantische ist das Gesunde, so möchte man diese Lebenslehre zusammenfassen. So wird das Buch zu einem Manual subjektiver Freiheit und Lebensklugheit.
Bleibt der Tod. Für jeden über achtzig ist er gegenwärtig als „Ungewissheit des nächsten Tages“. Das ist nüchtern gesagt und umso einschneidender. Bohrer unterscheidet Kunst, die Trost spendet, beispielsweise indem sie Leser und Zuschauer mit dem Gefühl des Überlebens belohnt, von der anderen, der es gelingt, ihn in den Sog des Todes zu ziehen. Dazu zählen Büchners „Danton“ und Jacques Beckers Film „Goldhelm“. Kühl notiert Bohrer, wie die allgemeine Vorstellung vom Tod für den, „der die Achtzig überschritten hat“, persönlich wird. „Er wird zum ganz Eigenen.“
Gibt es ein Weiterleben, einen Trost, etwa durch die Erinnerung der anderen? Ist er nur eine Art Abwesenheit, wie sie im Leben alltäglich ist, bei der man den anderen, den Geliebten, immer noch gegenwärtig bleibt? Ach, nein, die letzte Wahrheit dieser überraschend kommunikativen Überlegung lautet: „Man verlässt und ist verlassen. Das Wissen, erinnert zu werden, hilft hier doch nicht mehr. Denn zu wissen, selbst nicht mehr zu erinnern, enthält die vergiftete Botschaft: Nimmermehr berühren sich die Gedanken.“
GUSTAV SEIBT
Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt. Dreizehn alltägliche Phantasiestücke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 185 Seiten, 18 Euro.
Das Wissen, erinnert
zu werden, hilft
im Tod nicht mehr
Drama des historischen Bruchs: Viscontis „Gattopardo/Leopard“. Für Karl Heinz Bohrer hat der Film hier seine Kulmination erreicht.
Foto: imago/Everett Collection
Ein pathetisches Leben: Karl Heinz Bohrer liest in der Unseld-Villa in Frankfurt im Jahr 2016.
Foto: Regina Schmeken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021

Aus der Tiefe des Hallraumes

Ein lakonischer Titel und die große Kunst unbändigen Denkens: Karl Heinz Bohrers Phantasiestücke "Was alles so vorkommt"

Von Fridtjof Küchemann

Es war vielleicht nicht die größte Prägung, die Karl Heinz Bohrer in seinem journalistischen und essayistischen Schaffen gelungen war, aber wohl die populärste: "Aus der Tiefe des Raumes" sei Günter Netzer plötzlich vorgestoßen, hatte Bohrer Ende Oktober 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Fortan wurde der Mittelfeldspieler in Interviews darauf angesprochen.

Und Bohrer? Von den "dreizehn alltäglichen Phantasiestücken", die sein Band "Was alles so vorkommt" versammelt, keine sechs Wochen nach dem Tod des Publizisten am 4. August dieses Jahres Mitte September veröffentlicht, ist eines "Jugendliche Kampfspiele" überschrieben. Es setzt beim Fußball an, um nach einer spektakulären intellektuellen Pirouette wieder dort anzukommen, enthält sich allerdings elegant noch jeder Anspielung auf das berühmte Bild.

Von der eigenen Begeisterung für den "öffentlichen aggressiven Vorgang" des Spiels im Alter von zehn Jahren kommt Bohrer auf die Lektüre von Indianerbüchern, von gemeinsamen Gesängen bei Fußballfahrten mit Klassenkameraden auf die Kämpfe der Franken, von derlei Tapferkeitserzählungen zu den Engländern und Amerikanern im Nachkriegsdeutschland, in dem die Kämpfe in der Normandie nicht nur dem 1932 in Köln geborenen Karl Heinz Bohrer "frisch in Erinnerung" waren: "Tapferkeit stand ganz oben auf der Werteskala. Wieso nun aber nicht mehr die Tapferkeit der deutschen Soldaten im Kampf gegen die ganze Welt?"

Zur Faszination für die Indianer und Franken sei später die für Kreuzritter hinzugetreten, erinnert sich Bohrer weiter - um mit Verweis auf deren schwarzes Kreuz auf weißem Mantel auf das Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft zu kommen: Die Farben sind vom Kurfürstentum Brandenburg ans mithilfe der Ritter des Deutschen Ordens unterworfene Preußen weitergegeben worden, von dort war es ein geschichtlich absehbarer Schritt und ist es doch eine heute überraschende historische Kontinuität. Auf gerade einmal dreizehn Seiten stößt Karl Heinz Bohrer hier in die Tiefe des geschichtlichen Hallraumes, mischt autobiographische Skizzen, die in wenigen Zeilen zu literarischer Intensität finden, mit kleinen Szenen und mit analytischen Ansätzen zu Moden des Fußballspiels in Verbindung zu seinem Publikum und zu jugendlicher Moral.

Die Alltäglichkeiten handelnder Menschen hinter sich zu lassen sei E. T. A. Hoffmanns Ansatz in seinen "Phantasie- und Nachtstücken" gewesen, stellt Bohrer im Aufsatz "Schlaflos" fest, um darüber auf sich selbst zu kommen: Seine "träumende Schlaflosigkeit" habe das "Pathos einer aktiven Bewegung", sei ergänzt um "etwas Produktives, und dessen Produkt hieß: Phantasiestück". Das kennzeichnet Bohrers Verfahren ganz gut: mal Sprung, mal Gleiten aus einer Erinnerung in die nächste, aus der Reflexion in den kulturgeschichtlichen Beleg, auch im Unerwarteten anmutig, mutig in der Ungeschütztheit mancher Erinnerungen, von denen aus er darauf kommt, letztlich von sich selbst abzusehen. Schließlich haben die meisten der in "Was alles so vorkommt" versammelten Stücke zwar Ausgangspunkte oder Anker im Autobiographischen, doch seine Lebenserinnerungen hat der Publizist und Lehrer in den beiden Bänden "Granatsplitter" (2012) und "Jetzt" (2017) bereits vorgelegt.

In "Die kleine Seejungfrau" erinnert sich Bohrer an das Bild in einem Kinderbuch: "Nicht üppig, aber doch wohlgeformt und anlockend" habe das Mädchen mit dem Fischschwanz in Andersens Märchen aus den Wellen geschaut und den Jungen "zum ersten Mal an die Liebe denken" lassen. Als Messdiener habe er, in der Volksschule nur unter Jungen, beim Warten auf das Kollektekörbchen am Ende einer Kirchenbank erstmals Gelegenheit gehabt, Mädchen verstohlen zu betrachten. Die Bildsprache des Hohelieds in der Bibel hat ihm nicht recht einleuchten wollen - Brüste sehen doch nicht aus wie Rehkälbchen! -, das Interesse des Beichtvaters an Details der Beobachtungen und Vorstellungen des Jungen waren diesem unangenehm. Schließlich findet er ein Buch über die Südsee mit einem Foto tanzender Nackter, und das Phantasiestück endet mit diesem Wink des Zaunpfahls, "endlich die Phantasie hinter sich zu lassen".

In "Alleinsein im Zimmer" stellt Bohrer fest, zu Hause sei er "vor dem Lesen nicht gefeit", um zu bedauern, dass diese Tätigkeit "zu sehr zum Leben anregt vor der eigenen Tür, im Jenseits des isolierenden Zimmers". Das ganze Unglück des Menschen, zitiert er die "Pensées" Pascals, liege an dessen Unfähigkeit, "ruhig in einem Zimmer bleiben zu können". Was heißt das in einer Zeit wie unserer, die über Monate den Menschen nichts anderes abverlangt?

Es ist ein so lustvolles wie widerständiges Denken, das Karl Heinz Bohrer in "Was alles so vorkommt" offenbart. Am stärksten wirkt es in den Texten, die sich nicht einzig aus Belesenheit und Kenntnisreichtum des Verfassers speisen, sondern auch erzählen. Er habe, soll Marcel Reich-Ranicki, sein Nachfolger als Literaturchef der F.A.Z., über Karl Heinz Bohrer gesagt haben, "mit dem Rücken zum Publikum" redigiert. Hat er auch mit dem Rücken zu seinen Lesern geschrieben? Höchstens in dem Sinn, wie auch ein Dirigent mit dem Rücken zum Publikum wirkt, die Unmittelbarkeit seiner Musiker über den eigenen Kontakt mit den Konzertbesuchern stellend: Was Bohrer hier orchestriert, die klangliche Vielfalt und Nuanciertheit, die Spannweite zwischen Kulturgeschichte und Anekdote, erreicht den Leser direkt und beschäftigt ihn lange.

Karl Heinz Bohrer: "Was alles so vorkommt". Dreizehn alltägliche Phantasiestücke.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 184 S., geb.

18,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Es ist ein so lustvolles wie widerständiges Denken, das Karl Heinz Bohrer in Was alles so vorkommt offenbart. ... Was Bohrer hier orchestriert, die klangliche Vielfalt und Nuanciertheit, die Spannweite zwischen Kulturgeschichte und Anekdote, erreicht den Leser direkt und beschäftigt ihn lange.« Fridtjof Küchemann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211127