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Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 für Aleida und Jan Assmann.
Gott sei ihm im brennenden Dornbusch erschienen und habe ihm befohlen, das Volk Israel aus Ägypten zu führen; auf dem Berg Sinai erhielt er die Zehn Gebote und wurde so zum Begründer der ersten monotheistischen Religion: So erzählt die Bibel von Moses. In Sigmund Freuds »Der Mann Moses« lesen wir es anders: Moses, der hohe ägyptische Würdenträger und Anhänger der Sonnenreligion Echnatons habe sich mit den Jahwe-Anhängern verbündet und sei mit ihnen aus Ägypten geflohen. Doch dann hätten sich die Israeliten gegen sein…mehr

Produktbeschreibung
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 für Aleida und Jan Assmann.

Gott sei ihm im brennenden Dornbusch erschienen und habe ihm befohlen, das Volk Israel aus Ägypten zu führen; auf dem Berg Sinai erhielt er die Zehn Gebote und wurde so zum Begründer der ersten monotheistischen Religion: So erzählt die Bibel von Moses. In Sigmund Freuds »Der Mann Moses« lesen wir es anders: Moses, der hohe ägyptische Würdenträger und Anhänger der Sonnenreligion Echnatons habe sich mit den Jahwe-Anhängern verbündet und sei mit ihnen aus Ägypten geflohen. Doch dann hätten sich die Israeliten gegen sein Regiment erhoben und ihn ermordet. Dieser »Vatermord« sei es gewesen, der die Wunschphantasie vom dereinst wiederkehrenden Messias hervorgebracht hätte. Zwei Geschichten an den entgegengesetzten Enden einer langen Tradition der Auseinandersetzungen mit der Moses-Figur.
Autorenporträt
Jan Assmann (1938-2024) lehrte zuletzt, bis zu seiner Emeritierung 2003, Ägyptologie an der Universität Heidelberg. Im Fischer Taschenbuch liegen von ihm vor: ¿Ägypten. Eine Sinngeschichte¿ und ¿Moses, der Ägypter¿. Er ist Mitherausgeber der ¿Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe¿ der Werke Thomas Manns. Preise und Auszeichnungen: Deutscher Historikerpreis für sein Gesamtwerk 1998. Thomas-Mann-Preis 2011. Sigmund-Freud-Preis 2016. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 für Aleida und Jan Assmann.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2000

War der Auszug aus Ägypten der Sündenfall?
Der Mann Moses, die monotheistische Religion und die Unterscheidung von "wahr" und "falsch": Kritische Fragen an Jan Assmanns Gedächtnisgeschichte

Der Ägyptologe Jan Assmann greift über Fachgrenzen und Fachpublikum hinaus, um die Kulturmächtigkeit des alten Ägypten in der Geistesgeschichte Europas zu vergegenwärtigen. Ein Durchbruch war seine Monographie "Moses der Ägypter" (F.A.Z. vom 24. März 1998), die eine Hauptfigur des Alten Testaments von ägyptischer Religion, Kultur und Geschichte her sieht. Mit souveräner Materialbeherrschung erschließt Assmann weitgespannte Überlieferungsstränge, die bisher allenfalls für Einzelmotive erforscht waren, und führt sie zu einem Zusammenhang, der Ägypten als großes Symbolfeld Europas präsent macht. Moses vor der Folie Ägyptens erscheint als Gegenstand einer durch die Zeiten laufenden Debatte, in die der Leser hineingezogen wird. Assmanns Resonanz rechtfertigt es, diese Debatte noch einmal aufzunehmen, parteinehmend und ausdrücklich nicht spezialistisch.

Die deutsche Ausgabe, von der ich ausgehe, trägt den Untertitel "Entzifferung einer Gedächtnisspur". Neben der Tendenz zur Aktualisierung eines Themas zeigt sich darin eine wissenschaftstheoretische Programmatik: Assmann will ein Exempel für einen neuen Zweig der Historiographie geben, den er Gedächtnisgeschichte nennt. Einen Großteil des historischen Stoffes, den Assmann in seiner Monographie behandelt, hat er schon früher in seinen zahlreichen Veröffentlichungen umgewälzt. Aber da ging es immer wieder um die Frage nach dem fernen Vergangenen selber, die in diesem Fall hieße: Gibt es eine historische Figur Moses, und was wissen wir von ihr? Jetzt geht es Assmann um Überlieferungstraditionen: Was bedeutet die Gestalt Moses - mag sie gelebt haben oder nicht - im kulturellen Gedächtnis?

Diese Trennung zwischen Vergangenheit und Überlieferung scheint einfach, hat es aber in sich. Ich übergehe hier die allgemeinen Probleme und wende mich nur den speziellen zu. Das wichtigste benennt Assmann selbst. Er verknüpft in seiner Monographie eine Figur, die eine reale Geschichte, aber keine Gedächtnisgeschichte hat, mit einer anderen, die eine Gedächtnisgeschichte, aber keine Realgeschichte hat. Die erste ist der Pharao Echnaton um 1350 vor Christus, der in einer religiösen Revolution die polytheistische ägyptische Religion durch königlichen Machtspruch als falsch verwarf, auszumerzen versuchte und durch eine von Assmann sogenannte monotheistische Gegenreligion ersetzte. Dieser reale Vorgang hat keine Gedächtnis- und Überlieferungsgeschichte, weil dieser Pharao und sein Monotheismus nach dessen Tod offiziell so gründlich ausgelöscht wurden, daß Echnaton als Gestalt und seine Religion erst in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von der wissenschaftlichen Ägyptologie wiederentdeckt wurden.

Im Gegensatz zu Echnaton hat Moses, der eigentliche Gegenstand von Assmanns Monographie, keine nachweisbare Realgeschichte. Zeitgenössische ägyptische Quellen erwähnen weder Moses noch den Exodus der Israeliten. Die Schriften des Alten Testaments überliefern im Abstand von Jahrhunderten Moses als charismatischen Führer und Heilsbringer Israels, enthalten aber keinen Beleg für seine Existenz als historische Figur und sind der Intention nach keine Geschichtsschreibung, sondern Kult- und Bekenntnisschriften Israels.

Assmann verknüpft die realgeschichtliche Figur ohne Gedächtnisgeschichte und die überlieferungsgeschichtliche Figur ohne exakt nachweisbare Realgeschichte durch die Vorgabe von Strukturmodellen. Das erste ist das Modell der "ersten Unterscheidung", das er von George Spencer Brown übernimmt und an den Anfang seines Buches stellt: Die erste Unterscheidung ist diejenige, die einen bis dahin einheitlichen Raum spaltet. Echnaton hat eine erste Unterscheidung getroffen, indem er den bis dahin einheitlichen Raum des Polytheismus spaltete und dem einen wahren Gott die anderen Götter als falsch gegenüberstellte. Die Überlieferungsgestalt Moses trifft zum zweiten Mal eine analoge Entscheidung, indem er den einen Jahwe als wahren Gott Israels den falschen Göttern Ägyptens gegenüberstellt.

Wie wird diese abstrakte Verknüpfung bei Assmann konkretisiert? Durch ein zweites Modell, das er von Sigmund Freud übernimmt: Freud, der letzte in Assmanns gedächtnisgeschichtlicher Darstellungsreihe, hat in 1939 veröffentlichten Abhandlungen eine realgeschichtlich gemeinte Konstruktion vorgelegt, in der er Moses zum vertriebenen ägyptischen Echnaton-Anhänger erklärte, der den Israeliten dessen Monotheismus brachte. Weil sie dafür nicht reif waren, wurde Moses von ihnen ermordet. Sie haben diese Schuld derart verdrängt - Freud gebraucht seinen psychoanalytischen Terminus technicus -, daß sie den Ermordeten im Alten Testament zum Offenbarungsträger und Führer des Volks erklärten.

Das Modell der Verdrängung löst Assmann aus dem Zusammenhang, um einen anderen herzustellen: Er postuliert, die echnatonische Religionsumwälzung habe einen derartigen Schock ausgelöst, daß die Erinnerung an den offiziell getilgten königlichen Umsturz ins kollektive Unbewußte verdrängt wurde. Dort amalgamierte sich dieser Komplex mit anderen Schreckenserinnerungen wie früheren Hyksoseinfällen, Pest und Fremdherrschaft. Erst mehr als tausend Jahre später findet in der graeco-ägyptischen Sphäre die Wiederkehr des Verdrängten in Geschichtsdarstellungen statt, die bis in die Spätantike nach der Zeitwende immer wieder aufeinander gründen und zum Teil auch auf das Alte Testament als Quelle zurückgreifen. Moses mit dem etwa fünfzig Jahre nach Echnaton anzusetzenden Exodus wäre demnach die sagenhafte und sagenumwobene, sozusagen nur weitergemurmelte Gestalt einer religiösen Revolution in entgegengesetzten Beleuchtungen: Vom Alten Testament her erscheint er als der heilbringende Stifter einer monotheistischen Gegenreligion zum ägyptischen Polytheismus, von den Nichthebräern her gesehen ist er der Spalter der heiligen Ordnungen Ägyptens und Outcast.

Diese Konstruktion Assmanns ist fast so genialisch kühn wie die Freuds. Daß Verdrängung hier ex negativo zur gedächtnisgeschichtlichen Quelle und Echnaton durch tausendjähriges Beschweigen zur Figur der Gedächtnisgeschichte gemacht wurde, weil es so viel sagt, daß man nicht von ihm spricht, scheint mir bedenklich. Wie will man über dreitausend in bezug auf Echnaton zeugnislose Jahre hinweg, ohne die leiseste Spur eventueller mündlicher Überlieferungen, psychohistorische Konstellationen ansetzen, deren schriftliche Reflexe um viele Jahrhunderte verzögert sind? Eine vage Vermutung ist diese Konstruktion, und doch soll sie das missing link sein zwischen echnatonischer und mosaischer Unterscheidung in der Gedächtnisgeschichte.

Ehe ich auf dieses Problem weiter eingehe, möchte ich wenigstens andeuten, wie Assmann in einer faszinierenden Auslegungsreihe von Maimonides und der Renaissance über die englische Aufklärung und den deutschen Idealismus bis zu Freud eine dritte Moses-Deutung und ihre Geschichte vorführt, indem er sie als schrittweise Entwicklung aus zunächst jüdisch und christlich theologisch-apologetischen Positionen heraus interpretiert. Neben den Outcast Ägyptens und den antiägyptischen Heilsträger der Israeliten tritt nun Moses der Ägypter, nach dem Assmanns Buch seinen Titel führt, wobei es eher gleichgültig ist, ob er als Mann ägyptischer Herkunft oder als ägyptischer Hebräer gedacht wird. Diese dritte Moses-Deutung besagt, er habe unter dem Deckmantel der Entgegensetzung zu ägyptischer Religion und Kultur - Bilderverbot versus Idolatrie, Monotheismus versus Polytheismus - den esoterischen Kern ägyptischer Gottes- und Weltdeutung exoterisch ins Judentum übertragen.

Was ist dieser esoterische Kern? Noch einmal nimmt Assmann eine Anknüpfung an der Realgeschichte vor, indem er altägyptische religiöse Quellen der Ramseszeit interpretiert, die auf Echnaton folgte. Er befindet, daß zwar Echnatons Gedächtnis offiziell getilgt wurde, subkutan aber der Eingott Echnatons, der ein kosmischer Gott ist, als verborgenes göttliches Einheitsprinzip in den wiederhergestellten Polytheismus einwanderte und zum Grund des ägyptischen Pantheons wurde. Die Vielgestalt der Götter wurde nun als Veräußerung der göttlichen Einheit in die Vielheit verstanden. Sie wird als Prinzip Schöpfung oder als Prinzip Emanation auf die Einheit zurückbezogen.

Dieses untergründige göttliche Einheitsprinzip wird nach Assmann seit dem Hellenismus und der Spätantike im ägyptischen Pantheon herausgearbeitet, während einer jahrhundertelangen europäischen Rezeption in Relation zur mosaischen Glaubensbotschaft gebracht und in die laufenden theologischen und philosophischen Diskurse Europas eingeschleust. Dabei geraten schließlich die ägyptische Religion und - in einem verzweigten Ast dieser Rezeptionsgeschichte - Moses in die Rolle eines Vorläufers neuzeitlicher Weltdeutungstendenzen wie Deismus, Pantheismus, Materialismus, die unter dem Verdikt der autoritären christlichen Orthodoxie stehen. In einer List der Vernunft, die von orthodoxen Bibelwissenschaftlern bis zu Freidenkern wirkt, wird in der ägyptischen Religion das ausgegraben, was zeitgenössisch intolerabel ist, und die mosaische Unterscheidung, die eine fundamentale Opposition zwischen Israel und Ägypten setzt, wird schließlich aufklärerisch unterlaufen.

Wieder stellt sich nun die Frage der Verbindung zwischen altägyptischen Hieroglyphentexten und europäischen Auslegern, die weder diese Quellen kannten noch die Hieroglyphenschrift lesen konnten, und wieder löst sie Assmann kühn, indem er den hellenistischen und spätantiken Gewährsleuten seiner Rezeptionsreihe, die selbst schon weit von den ramseszeitlichen Dokumenten und ihrer Schrift entfernt waren, ein im Kern adäquates Verständnis dieser fernen Zeugnisse zuspricht. Seine ägyptologischen Befunde kann ich nicht beurteilen; methodisch aber überkommt mich leiser Zweifel angesichts eines so entstehenden Zirkels, in dem erst in der neuzeitlichen Bearbeitung des Moses-Ägypten-Komplexes die aufklärerische Tendenz des Pantheismus/Panentheismus als Konterbande aufgedeckt und dann in den altägyptischen Quellen dieselbe Tendenz als innerster Kern aufgewiesen wird.

Nun aber zu der von Assmann sogenannten mosaischen Unterscheidung. Er führt sie ohne Blick auf das Alte Testament ein, das allenfalls in der Beleuchtung der aufklärerischen Exegese erscheint. Zwar hat Assmann sich ihm andernorts intensiv gewidmet, aber es wäre auch hier tunlich gewesen, wenigstens den Ansatzpunkt der anderen Gedächtnisspur - Moses der Hebräer - im Alten Testament und aus dessen eigener Perspektive zu bestimmen. Denn auch der Blick auf Moses den Ägypter wird verzerrt, wenn man von einer fragwürdigen Opposition ausgeht.

Was ergibt das Alte Testament zur mosaischen Unterscheidung Assmanns? Der Dekalog sagt: "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" (Ex 20,3). Das ist keine Aussage, sondern ein Gebot. Es bestreitet nicht die Existenz anderer Götter und ist deshalb keine Proklamation des Monotheismus, sondern eine Indienstnahme. Sie ist nicht wahr oder falsch, sondern verpflichtend. Der mosaische Gott ist ab ovo keineswegs der einzige, sondern der eigene Gott seines Volkes. Und er ist kein Gott kosmischer Ordnung, sondern handelnder Gott der Geschichte. Ihre Urszene ist ein Eingriff Gottes, der erst den Dekalog beglaubigt und bekräftigt: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe" (Ex 20,2). Ägypten ist nicht primär das Land der falschen Götter und des Götzendienstes; das wird später Kanaan. Es ist primär das Land der Gefangenschaft. Das heißt aber, die Kraft- und Willensnatur des mosaischen Geschichtsgottes steht quer zu der von Assmann formulierten und postulierten mosaischen Unterscheidung.

Bei alledem ist der mosaische Gott schon ursprünglich nicht ein Gott des Volkes in dem Sinne, daß der einzelne im Kollektivsubjekt nur indirekt angesprochen wäre. Sechs der Zehn Gebote richten sich direkt an den einzelnen. Zwar kann er nur als Glied des Volks bestehen, aber im Volk ist er Person als Anredegegenüber des personalen Gottes. Moses und die Erzväter sind die Gesprächspartner Gottes; jeder, zu dem der Dekalog spricht, besitzt etwas von deren Würde. Vollends im Christentum wird die personale Gott-Mensch-Beziehung zentral, und noch das Christentum erkennt den wahren Gott in Christus daran, daß er der frei machende ist. Der Gott, der die Väter in die Freiheit geführt hat, erscheint wieder in demjenigen, der in Christus die Menschen aus der Knechtschaft des Todes und der Sünde in die "herrliche Freiheit der Kinder Gottes" führt (Röm 8,21). Ein Gott der Befreiung ist der Grund der jüdischen und christlichen Religion und nicht, wie Assmann schief formuliert, das schlechte Gewissen und die Erfindung der Sünde. Sie sind primäre Erfahrungen des Menschen, die von der Religion aufgenommen werden oder nicht.

Schon bisher dürfte deutlich geworden sein, daß Assmann ein von seinem Gegenstand sehr bewegter Geschichtsschreiber ist, ob er nun Realgeschichte oder Gedächtnisgeschichte oder beides kombiniert schreibt, ob er Moses den Unterscheider oder Moses den Vermittler betrachtet. Die mosaische Unterscheidung, die schließlich doch die Kernthese seines Buches bleibt, ist ihm der Bruch, ich möchte sagen der Sündenfall aus einer heilen Welt des Polytheismus. Denn der Polytheismus ist - nach Assmann - in seinem Wesen tolerant. Er macht die kulturell bahnbrechende Entdeckung, daß fremde Götter dem eigenen Götterhimmel integriert und in eigene Götter übersetzt werden können. Die mosaische Unterscheidung hingegen ist wesentlich intolerant, denn sie setzt eine Opposition von wahr und unwahr, die sich in immer neue Spaltungen der einen kulturellen Welt fortsetzt: Ägypten und Israel, "Juden und gojim, Christen und Heiden, Muslime und Ungläubige", "Katholiken und Protestanten, Lutheraner und Calvinisten" und so weiter. Eine Welt des religiösen Eifers, der Leidenschaften, der Trennungen, der Verfolgungen, der sich absolut setzenden "Gegenreligionen" tut sich auf, deren historische Negativrolle schon aus dieser ihnen von Assmann zugewiesenen Bezeichnung spricht.

Als Gegensatz dazu steht in den Schlußsätzen von Assmanns Monographie das helle Bild Ägyptens: "Nichts könnte nämlich Echnatons Religion fremder sein als die Semantik der Sünde. Das gilt nicht nur für die Amarna-Religion, sondern für die ägyptische Religion insgesamt. Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen. Die ägyptische Religion gründet nicht auf schlechtem Gewissen, sondern ganz im Gegenteil auf dem Bewußtsein einer Versöhntheit mit Gott und Welt zugleich, das dem christlichen Bewußtsein fremd und zuweilen geradezu anstößig ist. (. . .) Dieser moralische Optimismus, der ,sein Brot mit Freuden ißt' im Bewußtsein, daß ,Gott längst sein Tun gesegnet hat' - einer der ägyptischen Verse der Bibel -, ist vermutlich ebenso das Kennzeichen des Kosmotheismus, wie das umgekehrte Leiden an der Sünde den biblischen Monotheismus kennzeichnet. Von Ägypten aus betrachtet, sieht es so aus, als sei mit der mosaischen Unterscheidung die Sünde der Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen." Und an anderer Stelle heißt es: "Seitdem ist dieser Haß in der Welt."

Hier gewinnt das wissenschaftliche Ergebnis der Gedächtnisgeschichte fast das Pathos eines Glaubensbekenntnisses. Nun liegt es mir fern, den Anteil der jüdisch-christlichen Tradition an Intoleranz, Haß und Gewalt in unserer Geschichte kleinzureden. Aber niemand wird behaupten wollen, Sünde und Schuld seien die Folgeerscheinung der Weltspaltung durch die mosaische Unterscheidung, er sei denn bereit, auch die Judenverfolgung bis zur Schoa letztlich darauf zurückzuführen. Die Juden wären die Outcasts, die mit ihrem Exklusivgott den Haß der Völker auf sich gezogen und sich ins Unheil gestürzt haben. Doch das Unheil war immer schon da und ist immer noch da und wird nicht weniger in der Welt und im Menschen. Dagegen, wie Assmann es tut, als Heilmittel einen Rückgang zu den Ursprüngen des Hasses zu empfehlen scheint mir etwas zu wissenschaftsgläubig, und dagegen einen "moralischen Optimismus" aufzurufen scheint mir etwas zu dürftig zu sein.

Obwohl Assmann erklärt, gedächtnisgeschichtlich vertikale Verknüpfungen unter weitgehender Ausblendung der horizontalen zu verfolgen, neigt er stark zu panoramischer Ausweitung seines Blicks auf die Gesamtkulturgeschichte Europas. Das macht nicht nur seine Aussparung der christlich-jüdischen Gedächtnisspur, sondern auch der griechisch-römischen Antike, soweit sie nicht Medium der Ägypten-Vermittlung ist, schwerwiegend. Ist sie doch in ihrer zweitausendjährigen Amalgamierung mit dem Judentum-Christentum und in ihrer paganen Gegenbildlichkeit dazu eine Säule der Geistesgeschichte Europas. Auch sie wäre nicht darzustellen, aber doch zu orten gewesen. Und gerade Assmanns Tendenz zum Panoramischen setzt ihn der Prinzipienfrage aus, wo seine Maßstäbe für die großen Welt- und Menschendeutungen liegen, die uns geschichtlich gegeben sind. Ich meine damit nicht Glaubenspositionen, sondern die Einschätzung von Kulturwerten.

In dieses Ensemble gehören für mich gewiß Summen wie "Deus sive natura" und "hen kai pan", die Assmann in die Rezeptionsgeschichte Ägyptens zurückverfolgt, noch mehr aber, weil in voller Kontinuität über 3000 bis 2000 Jahre durchgehalten, christlich-jüdische Denkbilder wie "Abba, lieber Vater" und jenes andere, das Walter Benjamin den "Schuldzusammenhang des Lebendigen" genannt hat. Es gehört hierhin, "das Modell des Christus, das Modell der universalen Liebe, der Vergebung für die Feinde und des zur Rettung für die anderen geopferten Lebens", von dem der Nichtchrist Umberto Eco sagt, man könne "die jämmerliche und niederträchtige Spezies" Mensch "allein dadurch als erlöst betrachten, daß sie es geschaffen hat".

Dieses "Modell" geht aus dem mosaischen Gott hervor und reicht bis in den europäischen Atheismus hinein. Wenn Georg Büchner eine Dramenfigur sagen läßt: "Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus", dann deutet noch diese Frage auf eine metaphysische Leerstelle, an der vorher das Kreuz dessen gestanden hat, der das Leid der Welt auf sich nimmt. Und auch dieser Atheismus sagt: "Ich" mit dem Pathos, das unter dem personalen Anruf eines nun verlorenen Gottes entstanden ist. Er hat wohl mehr als jeder andere Anstoß dazu beigetragen, das Individuum als Leitbild unserer Kultur hervorzurufen. Und in der Befreiung des Menschen von kosmischen Göttern hat dieser Gott unsere Wissenschaft und Technik ermöglicht.

Dahinter kann niemand zurück, und so ist es auch nicht möglich, wie Assmann vorschlägt, "die mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen". Auch Assmann schreibt von ihr her und auf ihrem Boden, sofern er mit diesem Namen die Urszene des Alten Testaments meint und sofern noch sein Geschichtsbegriff Israels Erfahrung eines sich geschichtlich konkretisierenden Gottes in sich trägt. Auch bin ich überzeugt, daß nur der so engagiert für das Ende der Unterscheidungen plädieren kann, der eine Sehnsucht danach hat, die weiß, daß sie unerfüllbar ist.

GERHARD KAISER

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"Die Welt, in der wir leben, beginnt mit Moses. Assmanns Buch ist eine Fundgrube für an Geschichte Interessierte; vor allem aber für Menschen, die ihre Gegenwart verstehen wollen: für Zeitgenossen." Kurt Scheel, Die Welt