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Wenn man von einer lokalen Musikszene spricht, muss man wissen, dass eigentlich das große Ganze gemeint ist. Auch Airdrie, ein Kaff irgendwo zwischen Glasgow und Edinburgh, hatte seinen Syd Barrett, seinen Brian Jones, seine Nico. Die Sache mit so einer Musikszene ist ja, dass sie definitiv zum Glauben beiträgt. Sie macht Mut, das Leben beim Wort zu nehmen. Weshalb es auch so viele Leute gibt, die die Sache wesentlich ernster nehmen als ihre Vorbilder selbst. Schließlich ist es gar nicht so einfach, in einer westschottischen Kleinstadt Iggy Pop zu sein. Dafür braucht es schon eine Menge…mehr

Produktbeschreibung
Wenn man von einer lokalen Musikszene spricht, muss man wissen, dass eigentlich das große Ganze gemeint ist. Auch Airdrie, ein Kaff irgendwo zwischen Glasgow und Edinburgh, hatte seinen Syd Barrett, seinen Brian Jones, seine Nico. Die Sache mit so einer Musikszene ist ja, dass sie definitiv zum Glauben beiträgt. Sie macht Mut, das Leben beim Wort zu nehmen. Weshalb es auch so viele Leute gibt, die die Sache wesentlich ernster nehmen als ihre Vorbilder selbst. Schließlich ist es gar nicht so einfach, in einer westschottischen Kleinstadt Iggy Pop zu sein. Dafür braucht es schon eine Menge Engagement ...
Willkommen in Airdrie, Heimat einer langen Reihe von Schulversagern, Außenseitern, Träumern und Möchtegernkünstlern - und der Band Memorial Device, die es sicher bis nach ganz oben geschafft hätte, wäre da nicht ihr beschissenes, maßlos überzogenes Selbstverständnis als Legende des Undergrounds gewesen.
Autorenporträt
Keenan, David
David Keenan, 1971 in Schottland geboren, ist Musiker und Autor. In den Neunzigerjahren war er Gründungsmitglied mehrerer Undergroundbands, u.a. 18 Wheeler, Telstar Ponies und Taurpis Tula. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten für die Zeitschrift The Wire, wo er sich vor allem mit Musikrichtungen wie Noise, Free Folk und Industrial Rock auseinandersetzte. David Keenan arbeitete als Rundfunkredakteur und kuratierte zahlreiche Independent-Festivals. Mit seiner Partnerin, der Künstlerin Heather Leigh Murray, betrieb er über zehn Jahre lang ein eigenes Recordlabel. Er lebt in Glasgow.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2019

Oder leben wir alle gerade rückwärts?
Schmeiß alles hin und fang neu an: David Keenans Roman entwirft eine lokale Geschichte des Postpunk

David Keenan redet um den heißen Brei herum, und der schottische Autor und Musiker macht daraus sogar eine Kunst. In seinem Fall heißt der heiße Brei Memorial Device, eine Band, die laut Ross Raymond so klang wie Airdrie, eine Kleinstadt östlich von Glasgow, soll heißen, "sie klangen wie ein beschissenes schwarzes Loch". Ihre Hochphase hatte die Band Anfang bis Mitte der achtziger Jahre. Man munkelte, dass Sonic Youth sie als Vorband haben wollte, so wie später - im sogenannten wahren Leben - Nirvana. Memorial Device hätte demnach ganz groß rauskommen und Airdrie einen Eintrag in die Geschichtsbücher des Pop bekommen können.

Ross Raymond, die Herausgeber-Fiktion in Keenans "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird", will der Band mit einem Buch ein Denkmal setzen. Er telefoniert mit Leuten, die mit der Gruppe verbandelt waren, schreibt Briefe, kramt alte Interviews heraus, die er für ein Fanzine geführt hat, das er mit seinem Kumpel Johnny herausgab. Eine einzige Ausgabe ist seinerzeit davon erschienen.

So war das zu Zeiten von Postpunk. Schmeiß alles hin und fang neu an. Bands schossen wie Pilze aus dem Boden: Pere Ubu und Devo in Ohio, Joy Division und The Fall in Manchester, Gang of Four und The Mekons in Leeds. In Glasgow wiederum hatte das Label Postcard Records mit Gruppen wie Orange Juice, Josef K und Aztec Camera den schottischen Pop, "der noch 1980 nicht mehr als ein Pfeifen im Wind gewesen war, zum Sound des Jahres 1981 gemacht", wie es in Simon Reynolds' Standardwerk "Rip It Up And Start Again" heißt.

Memorial Device ist also zur rechten Zeit am gar nicht mal so falschen Ort. "This Is Memorial Device" lautet der Titel von Keenans Roman im Original, in Anlehnung an die berühmte Mockumentary "This Is Spinal Tap", zugleich ein Hinweis darauf, dass es diese Band nie gegeben hat. Der englische Untertitel verdeutlicht sodann den widersprüchlichen Ansatz der fiktiven, gar herbeiphantasierten Geschichtsschreibung: "An Hallucinated Oral History of the Post-Punk Music Scene in Airdrie, Coatbridge and environs 1978-1986".

Keenan greift in seinem Buch die Konventionen des dokumentarischen Romans auf, insbesondere der Oral History, die sich im Bereich der Popmusik-Historie längst etabliert hat, in Deutschland etwa durch Jürgen Teipels "Verschwende Deine Jugend", das das deutsche Pendant der von Keenan heraufbeschworenen Szene ins Auge fasst. "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird" ist dementsprechend aufgebaut als Abfolge unterschiedlicher Stimmen, die Auskunft geben zu Entstehung, Höhepunkt und Scheitern der Band, samt Diskografie, Personen- und Stichwortregister.

Im Kern allerdings geht es um etwas anderes. Memorial Device setzt die Erinnerung in Gang. Was Keenan tatsächlich interessiert, ist das Porträt einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Orts. Keenan, Jahrgang 1971, wuchs in Airdrie auf. Teil einer realen Postpunk-Szene war er in so jungen Jahren sicherlich nicht, als Journalist hat er sich allerdings viel mit New Wave, Industrial und anderen Ausdifferenzierungen des Genres beschäftigt. Was seine Protagonisten zu Protokoll geben, ist somit stets eine Mischung aus Rekonstruktion, Recherche, Erinnerung und Imagination. Dass die Erinnerungen einander teilweise widersprechen, ist der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses geschuldet. Es selektiert, blendet einzelne Aspekte aus und erfindet neue hinzu. Jeder Erzähler ist ein unzuverlässiger Erzähler.

Airdrie, die Stadt der Arbeiterklasse, wird in dieser Geschichte zur Heimat von Sonderlingen, Pillenschluckern, Weltverbesserern, einer attraktiven Muse und obskuren Band-Projekten. Die Handlung, die sich allenfalls bruchstückhaft erschließt, dreht sich um Kunst und Pornographie, um Okkultismus und Plattensammlerdünkel, um Freundschaft, Drogen, Sex und Liebe, um eine Theorie von Raum und Zeit, um Genitalverstümmelung und um sehr viel schlechte Laune. Da trägt einer ein Exemplar von "Unter dem Vulkan" vor sich her, auf dass es auch alle sehen, während die Frau eines anderen aussieht wie Siouxsie Sioux. Der Schlagzeuger von Memorial Device wiederum verschwindet mir nichts, dir nichts mit einer Zwanzigjährigen nach Palästina, um einen Job als Entwicklungshelfer anzutreten, obwohl er nicht den blassesten Schimmer hat von der Misere vor Ort. Wieder ein anderer gelangt zu der Überzeugung, weniger vorwärts in der Zeit zu leben als rückwärts.

Keenans Stärke liegt darin, eine Musikszene in ihren Anfängen zu entwerfen, die daran glaubt, Neuland zu betreten, die Energien freisetzt und Hoffnungen weckt. Die aber immer auch mit der eigenen Abgründigkeit kokettiert. Seine Schilderungen sind gespickt mit Verweisen und Anspielungen auf bekannte Bands dieser Ära, von Throbbing Gristle über The Only Ones bis zu The Associates.

Keenans Fachwissen ist ein Pfund, mit dem er wuchern kann. Was ihm jedoch nicht immer gelingt, ist die Figurenzeichnung. Zu sehr ähneln sich etliche Stimmen in ihrer Sprechweise. Das erschwert es, den Überblick zu behalten, obwohl jedem der 26 Kapitel ein kurzer Hinweis darauf vorangestellt ist, wer spricht und worum es geht. Auch der Ort, Airdrie, bleibt seltsam konturlos. Eine Kleinstadt unter vielen, trotz der erstaunlichen Anzahl von dort ansässigen Freaks und Himmelsstürmern.

Was aber bleibt von "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird", ist ein Abtauchen in eine popmusikalische Epoche, in der so vieles möglich schien. Sei es der Weltuntergang oder die große Karriere. Beides bleibt Memorial Device verwehrt.

ALEXANDER MÜLLER

David Keenan: "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird". Roman.

Aus dem Englischen von Conny Lösch. Verlag Liebeskind, München 2019. 336 S., geb., 22,- [Euro].

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