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Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister über Wunschdenken und Wirklichkeit in der Politik
In Brüssel oder Berlin fallen oft Entscheidungen, die mit der politischen Realität vor Ort wenig zu tun haben. Boris Palmer, seit zwölf Jahren Oberbürgermeister von Tübingen, zeigt anhand vieler konkreter Beispiele - von Umweltpolitik bis Wohnungsbau, von Verkehrsplanung bis Integration, von innerer Sicherheit bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen - wieso in der Politik heute so oft das Wunschdenken regiert, nicht die Analyse der Fakten. Zugleich bietet er Vorschläge, wie die Wirklichkeit wieder zur…mehr

Produktbeschreibung
Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister über Wunschdenken und Wirklichkeit in der Politik

In Brüssel oder Berlin fallen oft Entscheidungen, die mit der politischen Realität vor Ort wenig zu tun haben. Boris Palmer, seit zwölf Jahren Oberbürgermeister von Tübingen, zeigt anhand vieler konkreter Beispiele - von Umweltpolitik bis Wohnungsbau, von Verkehrsplanung bis Integration, von innerer Sicherheit bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen - wieso in der Politik heute so oft das Wunschdenken regiert, nicht die Analyse der Fakten. Zugleich bietet er Vorschläge, wie die Wirklichkeit wieder zur Grundlage politischen Handelns werden kann. Die scharfsinnige und leidenschaftliche Bilanz eines Politikers, der vor Ort Entscheidungen treffen muss und die Sorgen der Bürger aus täglicher Erfahrung kennt.
Autorenporträt
Boris Palmer, geboren 1972, wuchs in Geradstetten bei Stuttgart auf. Er studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney. 2001 wurde er Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg, wo er sich als Umwelt- und Verkehrsexperte einen Namen machte. Mit 34 Jahren wurde er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt ¿ und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. 2017 erschien sein Buch ¿Wir können nicht allen helfen¿, das zum Bestseller wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2019

Tübinger Tatsachen
Boris Palmers Gedanken über Vernunft und Emotion
Von Freunden bekommt Boris Palmer seit Jahren den gleichen Rat: Bevor er etwas auf Facebook poste, solle er den Text doch bitte noch von irgendjemand gegenlesen lassen – so ließe sich ja vielleicht manche Aufregung verhindern. Die Wahrheit ist womöglich, dass Palmer die Verhinderung von Aufregung gar kein Herzensanliegen ist. Wenn er von einem Rowdy-Radler mit dunkler Haut geschnitten wird, nimmt er das sehr bereitwillig zum Anlass für ein paar grundsätzliche Bemerkungen über integrationsresistente Asylbewerber. Facebook ist für ihn der Sendeplatz, auf dem er weit über die Mauern der schönen Stadt Tübingen hinaus den politischen Diskurs mitprägen kann, vorzugsweise bei seinem Lieblingsthema Flüchtlinge.
Palmer, 47, ist formal der Oberbürgermeister von Tübingen, gefühlt aber inzwischen mehr der Oberbürgermeister des deutschen Volksempfindens. Für die einen ist er ein Mann, der unbequeme Wahrheiten ausspricht; für die anderen, zu denen zahlreiche seiner grünen Parteifreunde gehören, ein rhetorischer Zündler. Zum zweiten Mal gießt Palmer seine Thesen nun in die Form eines Buches, was den eminenten Vorteil bietet, dass das Gegenlesen durch einen Lektor einen festen Platz im Prozess hat. „Erst die Fakten, dann die Moral“ heißt das Werk, und im Kern ist es die Klage Palmers darüber, dass die Wirklichkeit, die er in seinen Facebook-Beiträgen zu beschreiben glaubt, von seinen Kritikern geleugnet – und er für die bloße Beschreibung als „Rassist“ oder „Hetzer“ diskreditiert wird.
Im Gegensatz zu „Wir können nicht allen helfen“, seinem 2017 erschienenen Buch über die Flüchtlingsdebatte, weitet Palmer diesmal den Blick auf neun sehr unterschiedliche Themen, bei denen er jedoch das gleiche Phänomen am Wirken sieht: Faktenbasierte Entscheidungen würden durch moralisierende Bewertungen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Windräder, Tierversuche, Fahrverbote: Überall sieht Palmer die Republik in einer „Tatsachenkrise“. Beispiel Dieselmotor, der nun mit großer Empörungsgeste verdammt werde, obwohl etwa am Neckartor, Stuttgarts schmutzigster Kreuzung, laut Messungen nur sechs Prozent des Feinstaubs aus Dieselabgasen stamme. „Ein vielfach größeres Problem ist Reifen- und Bremsabrieb“, schreibt Palmer, und das betreffe alle Fahrzeuge. „Wie will man dem Fahrer eines Dieselautos also erklären, dass sein Fahrzeug wegen erhöhter Feinstaubemissionen ausgesperrt wird, während alle anderen weiterfahren dürfen?“
Politik beginne mit dem Betrachten von Wirklichkeit, zitiert Palmer Kurt Schumacher, den ersten Vorsitzenden der Nachkriegs-SPD. Man könnte das für eine Binse halten, aber Palmer bemängelt, dass heute viele Politiker – auch und gerade seiner Partei – den Eindruck machten, als gelte das für sie nicht. Lieber würden sie sich mit pseudo-moralischen Argumenten über den Debattengegner erheben. Palmer schildert, wie in Tübingen Tierschützer mit drastischen Aktionen die medizinische Forschung an Affen stoppten. Dabei lege die Vernunft nahe, so Palmer, dass streng begrenzte und kontrollierte Tierversuche notwendig seien, um etwa Demenzerkrankungen zu bekämpfen.
Es tut dem Buch gut, dass Palmer es mit der bodennahen Autorität des erfolgreichen Kommunalpolitikers verfasst hat, der – wie er ein wenig romantisierend feststellt – es sich schlichtweg nicht leisten kann, die Wirklichkeit außer acht zu lassen. Er führt nicht auf jeder der 240 Seiten die Intoleranz der angeblich Toleranten vor, sondern zeigt in einer Variation seiner Grundthese auch überzeugend, wie oft irrationale Ängste in irrationalen Regeln münden. Im Hof des Tübinger Schlosses, rechnet der studierte Mathematiker Palmer vor, dürften wegen eines acht Zentimeter zu schmalen Fluchtweges keine Theateraufführungen mehr stattfinden – obwohl der einzig denkbare Fluchtgrund ein „Kometeneinschlag“ sei.
Facebook-Fans von Boris Palmer werden manchen Gedanken schon dort gelesen haben, allerdings weder so ausführlich noch so präzise. Im Internet hat Palmer durch Verkürzung und Zuspitzung auch immer wieder mal selbst Stimmungen bedient, die Wirklichkeit überlagern. In seinem Buch liefert er einen ebenso konstruktiven wie kurzweiligen Debattenbeitrag. Auch wenn ganz nebenbei deutlich wird, dass sich bei der Betrachtung von Fakten schon immer die Frage stellt: Wessen Fakten eigentlich?
ROMAN DEININGER
Anders als oft auf Facebook liefert
das Buch einen kurzweiligen und
konstruktiven Debattenbeitrag
Boris Palmer:
Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss. Siedler-Verlag, München 2019.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2020

Die zwei Gesichter des Boris P.
Der Tübinger Oberbürgermeister - ein Politiker, der sich das Provozieren nicht verkneifen kann

Boris Palmer ist, etwas böswillig gesagt, ein Politiker mit zwei Gesichtern: Es gibt den Facebook-Palmer, der in den sozialen Medien gern Debatten entfacht und auch schon mal Bilder von randalierenden Flüchtlingen am Bahnhof verbreitet. Und es gibt den Autor Palmer, der politische Bücher schreibt, die sich wohltuend von dem unterscheiden, was Politiker sonst so zwischen zwei Buchdeckel pressen oder auch schreiben lassen. Vor zwei Jahren schrieb Palmer ein Buch über die Flüchtlingskrise mit einer gründlichen Analyse dazu, warum die Art und Weise, mit der Deutschland und vor allem Angela Merkel die Flüchtlingskrise managten, den Rechtspopulismus nur stärken konnte. Wären Palmers Einwürfe von den Grünen sowie SPD und CDU rechtzeitig beherzigt worden, wäre dem Land das Erstarken der AfD vielleicht erspart geblieben.

Die moralische Aufladung der Flüchtlingskrise sowie der mangelnde Realismus mancher Politiker erwiesen sich rückblickend als schädlich. Insofern ist es konsequent, dass Palmer mit seinem neuen Buch "Erst die Fakten, dann die Moral" noch einmal grundlegend zu erklären versucht, warum es - gerade in Zeiten, in denen die Demokratie vielfach bedroht wird - geboten ist, vor einer moralischen Bewertung die Fakten anzuschauen und mit ihnen zu argumentieren. Palmer greift sich Themen heraus, die in der öffentlichen Diskussion, vor allem in den sozialen Medien, so emotional diskutiert worden sind, dass am Ende nur irritierte Bürger zurückbleiben konnten: Wohnungsmangel, Ausländerkriminalität, Brandschutz, Stuttgart 21. Besonders treffend arbeitet er die Widersprüche der Luftreinhaltungspolitik heraus: "Die Verführung, Fahrverbote gegen Dieselfahrzeuge zur Luftreinhaltung wegen des damit verbundenen Kollateralnutzens zu befürworten, ist für viele Ökologen offenbar recht groß. Mit dem Vehikel der Luftreinhaltepläne sind tatsächlich aus dieser Perspektive drastische Maßnahmen gelungen, die im automobilen Deutschland bis vor kurzem undenkbar waren. Ich glaube aber, dass man langfristig den Anliegen der Stadtökologie und der Verkehrswende einen Bärendienst erweist, wenn man sie auf nicht haltbare Argumente stützt und dann mit brachialer Gewalt des Rechts durchsetzt", schreibt Palmer und meint damit die Verdammung hochmoderner Dieselmotoren, die aufgrund geringer CO2-Emissionen klimafreundlicher sind als manches Batterie-Auto.

Palmers zentrales Kapitel ist das vorletzte. Es heißt: "Empört euch! Aber werdet nicht intolerant." Dieses Kapitel zur Identitätspolitik beschreibt ein politisches Deutungsmuster, das für das grüne Selbstverständnis heute von großer Bedeutung ist, von den Grünen selbst aber nur selten hinreichend reflektiert wird: "Die Fortschritte im Kampf gegen Diskriminierungen nach Identität sind so groß, dass die Benachteiligungen nach Bildung und sozialem Status wieder das Hauptaugenmerk verdienen sollten", schreibt Palmer. "Eigentlich sollten wir uns also wieder dem Klassenkonflikt zuwenden, denn der Kampf um eine gerechte Verteilung von Geld und Macht hat keine vergleichbaren Fortschritte erbracht." Dazu ließe sich anmerken, dass die auf das Format einer Kleinpartei geschrumpfte deutsche Sozialdemokratie ebenso wie die Demokraten in Amerika Anhänger verloren haben, weil sie soziale Fragen aus den Augen verloren und sich zumindest im Habitus zu Parteien einer aufstiegsorientierten akademischen Oberschicht entwickelt haben.

Die hypertrophe Identitätspolitik, die den Schutz von Minderheiten wichtiger nimmt als materielle Fragen, bringt mehrere Probleme mit sich: In Einwanderungsgesellschaften, in denen sich soziale Konflikte zwischen einer armen Schicht von Einwanderern und einer begüterten Schicht von Eingesessenen abzeichnen, die künftig noch härter werden dürften, werden hierdurch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit an den Rand gedrängt. In innerparteilichen Diskursen werden Minderheitenschutz und der ostentative Anti-Rassismus häufig auch zur Denunziation von Gegnern benutzt. Und das Beharren auf der richtigen Moral, die instrumentelle Kultivierung einer gewissen politischen Überheblichkeit, erleichtert es Rechtspopulisten, sich als die eigentlichen Vertreter des wahren Volkes zu inszenieren.

Wenn die Grünen dauerhaft einen Platz in der Mitte des politischen Spektrums einnehmen wollen, dann sollten sie Palmers Anregungen nicht als die Spinnereien eines Oberbürgermeisters abtun.

Mehr als irritierend ist aber, dass Palmer sowohl im Buch als auch auf Facebook der Bahn vorwirft, sie wolle mit ihren Werbeanzeigen eine "moralische Dividende für inszenierte Migrationsfreundlichkeit" einstreichen. Auf den Anzeigen waren Passagiere aus Migrantenfamilien abgebildet. Werbung kommt ohne Klischees nicht aus, die deutsche Gesellschaft und auch die der Bahnfahrer ist von Einwanderung geprägt. Wer sich darüber echauffiert, schaut einfach nicht realistisch auf die sich stark wandelnde deutsche Gesellschaft. Grundlage einer gelingenden Integrationspolitik ist auch, den Bürgern deutlich zu machen, dass die Gesellschaft nicht mehr so homogen sein kann wie vor zwanzig Jahren. Gegen Palmers Zuspitzungen lässt sich auch mit den Erkenntnissen des amerikanischen Philosophen Kwame Appiah argumentieren, der in seinem jüngsten Buch gezeigt hat, wie fluide kulturelle Praktiken sind. Viele Einwanderer haben deutsche Lebensweisheiten heute stärker verinnerlicht als so mancher "Biodeutsche". Man sieht ihnen das aber nicht an, wenn sie im ICE sitzen.

Palmers Buch liefert für die Diskussion über die Weiterentwicklung der grünen Partei wichtige Impulse, man kann nur hoffen, dass ihm ein paar grüne Realos in Berlin trotz seiner Provokationslust zuhören. Der Tübinger Oberbürgermeister hat gerade in seiner Partei viel an Einfluss und Glaubwürdigkeit verloren. Das liegt auch an den Widersprüchen, die er selbst provoziert hat: "Fake News und entfesselte Pseudo-Skandale, hysterische Scheindebatten und quasireligiöse Gedankengebäude haben die sozialen Medien begünstigt oder entfesselt", schreibt Boris Palmer am Endes seines Buches. Man könnte auch fragen, warum der Autor wie kein anderer Kommunalpolitiker in Deutschland sich mit den "sozialen Medien" einen eigenen Resonanzraum und eine neue politische Anhängerschaft geschaffen hat. Zu oft leider mit provozierenden Thesen und Postings, von denen er manche korrigieren musste.

RÜDIGER SOLDT

Boris Palmer: Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss.

Siedler Verlag, München 2019. 240 S., 20,- [Euro].

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»Keiner nimmt es mit so viel Lust mit dem grünen Zeitgeist auf wie dieser Grüne.« Der Spiegel