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Wien 1938: Der Arzt Hans Asperger beschreibt Symptome bei Kindern, die er unter die Diagnose »autistische Psychopathie« fasst. Er hatte bei Patienten Schwächen im sozialen Verhalten beobachtet. Im selben Jahr ziehen die Nationalsozialisten in Wien ein. Asperger sollte bald verantworten, dass Kinder, die er für »nicht sozial integrierbar« hielt, in der Anstalt Am Spiegelgrund zu »Euthanasie«-Opfern wurden. Edith Sheffer, Mutter eines von Autismus betroffenen Kindes, hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Diagnose begeben. Sie zeigt, welche Wertvorstellungen Asperger geprägt haben und…mehr

Produktbeschreibung
Wien 1938: Der Arzt Hans Asperger beschreibt Symptome bei Kindern, die er unter die Diagnose »autistische Psychopathie« fasst. Er hatte bei Patienten Schwächen im sozialen Verhalten beobachtet. Im selben Jahr ziehen die Nationalsozialisten in Wien ein. Asperger sollte bald verantworten, dass Kinder, die er für »nicht sozial integrierbar« hielt, in der Anstalt Am Spiegelgrund zu »Euthanasie«-Opfern wurden. Edith Sheffer, Mutter eines von Autismus betroffenen Kindes, hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Diagnose begeben. Sie zeigt, welche Wertvorstellungen Asperger geprägt haben und welche Entwicklung die Diagnose genommen hat. Ihr berührendes und eindrucksvolles Buch wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus und auf das Asperger-Syndrom.
Autorenporträt
Edith Sheffer ist Historikerin und Senior Fellow am Institute of European Studies an der University of California, Berkeley.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018

Die Diagnose als Übertritt in die Zone der Lebensgefahr

Revidierte Erinnerung: Edith Sheffer rollt den Fall des Psychiaters Hans Asperger auf, dessen Name für eine Variante des Autismus steht.

Von Thomas Weber

Vor einigen Jahren wurde das Konzept der Neurodiversität entwickelt. Seine Proponenten lehnen jegliche Pathologisierung neuronaler Unterschiede zwischen Menschen ab. Diese Betrachtungsweise hat sich vor allem in der Beurteilung des Autismus - heute als Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet, welche das Asperger-Syndrom als Variante umfasst - Gehör und Einfluss verschafft. Als historisches Aushängeschild für die gesellschaftliche Achtung von Autisten wurde oft der österreichische Psychiater Hans Asperger (1906 - 1980) herausgestellt, der sich im Dritten Reich für betroffene Kinder eingesetzt und zahlreiche von ihnen gerettet habe. Dieses Urteil beruhte vor allem auf Passagen in Aspergers Habilitationsschrift von 1944 über "autistische Psychopathen im Kindesalter", in der er die Inselbegabungen mancher dieser Kinder in Mathematik oder Musik betonte und ihre Integrationsfähigkeit in die Gesellschaft bejahte.

Hans Aspergers Ruf wird seit einigen Jahren allerdings grundlegend in Frage gestellt. Schon 2005 dokumentierte der Historiker Michael Hubenstorf die engen Verbindungen von Aspergers Klinik mit der Anstalt am Spiegelgrund, der Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt, in der mindestens 789 behinderte oder verhaltensauffällige Kinder durch die Verabreichung von Schlafmitteln, Mangelernährung oder Unterkühlung umgebracht wurden. Asperger pflegte auch enge Verbindungen zu Erwin Jekelius, dem Direktor der Anstalt und Koordinator der Aktion T4 in Wien, bei der Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen systematisch ermordet wurden. Im April 2018 zeigte der österreichische Historiker Herwig Czech, der zum ersten Mal Aspergers klinische Gutachten aus der NS-Zeit im Detail analysierte, wie beflissen dieser rassenhygienischen und eugenischen Vorstellungen folgte.

Nun legt die in Berkeley forschende Historikern Edith Sheffer - die auf Czechs Funde zurückgreifen konnte - ein Buch vor, das eine einschneidende Neubewertung von Aspergers Wirken und einen veränderten Blick auf den Autismus als Phänomen verspricht. Er gelingt Sheffer insbesondere dort, wo es um Aspergers Handeln, weniger dann, wenn es um die heutige Debatte um Autismus geht. Sheffer untersucht die Rolle von Ärzten wie Asperger im NS-Regime unter dem Gesichtspunkt des "Diagnoseregimes". Der NS-Staat war besessen von der Kategorisierung von Menschen und sortierte sie nach Rasse, politischen Ansichten, Sexualität, Erbanlagen und biologischen Mängeln. Diese Kategorisierungen dienten als Rechtfertigung für Verfolgung und Vernichtung. Sheffer betont, dass am Anfang der Ursachenkette der Akt der Diagnose steht. Asperger folgte ohne Zweifel diesem Regime der Kategorisierungen. Seine Diagnosen beruhten auf der Dichotomie von wertem und unwertem Leben. Asperger mag Kinder, die er als intelligent einstufte, vor einer Überweisung geschützt haben, obwohl es dafür keine konkreten Beweise gibt. Doch er hatte nachweislich wenig Skrupel, Kinder, die er als Bürde für die Gesellschaft ansah, in die Anstalt am Spiegelgrund einzuweisen; und es war für ihn kein Geheimnis, was dort geschah.

Sheffer weist nach, dass Asperger neun Kinder aus seiner Abteilung in die Anstalt am Spiegelgrund überwies, von denen zwei starben. Darüber hinaus war er 1942 "heilpädogogischer Berater" in einer siebenköpfigen Kommission, welche die "Bildungsfähigkeit" von Kindern in der Pflegeanstalt Gugging beurteilte. Diese Kommission stufte 35 von 210 Kindern als "bildungs- und entwicklungsunfähig" ein und überwies sie der Anstalt am Spiegelgrund, wo alle umgebracht wurden.

Asperger war auch als medizinischer Berater für die NS-Verwaltung tätig und erstellte Gutachten für Schulen, Jugendgerichte, die Hitlerjugend und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Seine Empfehlungen dürften in vielen Fällen zu Überstellungen in die Anstalt am Spiegelgrund geführt haben. Im Lichte dieser Funde von Czech und Sheffer fällt es schwer, Asperger als Aushängeschild für einen vorbildlichen Umgang mit Autisten zu betrachten. Es bleiben allerdings Zweifel an Sheffers Versuch, eine Kontinuität zwischen Aspergers klinischen Beschreibungen von 1944 und dem heutigen Verständnis von Autismus-Spektrum-Störungen zu etablieren.

Das moderne Verständnis des Asperger-Syndroms beruht auf der Arbeit von Lorna Wing aus dem Jahr 1981. Aspergers diagnostische Kriterien unterscheiden sich allerdings deutlich von jenen, die Wing einführte. Warum die 2014 verstorbene Wing Asperger als Eponym für dieses Syndrom wählte, muss wohl ungeklärt bleiben. Der bedeutende amerikanische Autismusforscher Leo Kanner hatte 1943 die Ursache für die Störung bei sogenannten Kühlschrankmüttern vermutet; diese Erklärung war in den achtziger Jahren aber so unpopulär geworden, dass Kanner vermutlich als Namensgeber nicht zu gebrauchen war. Aber aus der Wahl von Asperger eine substantielle Kontinuität zu konstruieren, ist etwas zu weit hergeholt.

Sheffer, Mutter eines austistischen Sohns, hat dieses Buch auch verfasst, um die etablierte Vorstellung von Autismus zu untergraben. Der Akt der medizinischen Klassifikation konnte im NS-Regime ein Todesurteil sein, und auch heute sehen manche Ärzte, Philosophen und Aktivisten eine solche Zuschreibung als negativ an, da sie Ähnlichkeit betone, wo beträchtliche Unterschiede in Ursachen und Symptomen vorliegen. Klassifikation kann einerseits Unterstützung mobilisieren - etwa für angemessene Pflege und angepasste Lehrmethoden in Schulen - oder als Käfig wirken, wenn verschiedene Symptome und Verhaltensweisen zusammengeworfen werden. Das ist eine wichtige, noch lange nicht abgeschlossene Debatte, deren Bedeutung weit über den Autismus hinausreicht. Sheffers Buch gibt ihr eine neue historische Tiefe.

Edith Sheffer: "Aspergers Kinder". Die Geburt des Autismus im ,Dritten Reich'.

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. 340 S., geb., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2018

Das Kindertotenhaus
Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger galt Jahrzehnte lang als Fürsprecher der Schwachen, doch neue Forschungen zeichnen ein neues,
ein erschreckendes Bild. Edith Sheffers gut belegte These: Der Österreicher schickte während der NS-Zeit junge Patienten wissentlich in eine Euthanasie-Anstalt
VON ASTRID VICIANO
Was für eine Enttäuschung. Als ob ein alter Freund uns verraten hätte, wir ihm die Maske vom Gesicht gezerrt und darunter eine Fratze entdeckt hätten. Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger galt Jahrzehnte lang als Fürsprecher der Schwachen, manche sahen in ihm einen Oskar Schindler der Psychiatrie, einen Retter in der NS-Zeit. Im Jahr 1981, kurz nach seinem Tod, wurde sogar das Asperger-Syndrom nach ihm benannt, eine Form von Autismus.
Im April 2018 fiel die schöne Maske des Kinderarztes, und damit steht auch seine Diagnose in neuem Licht. Ein Grund dafür ist Edith Sheffers Buch „Aspergers Kinder – Die Geburt des Autismus im Dritten Reich“, das nun auf Deutsch erschienen ist. Auf mehr als 300 Seiten fließen fachliche Expertise und persönliche Erfahrungen der Historikerin von der Stanford Universität zusammen, Sheffer kennt sich mit deutscher Geschichte aus und ist Mutter eines Sohnes mit Autismus. Daher zeichnet sie nicht etwa eine grobe Skizze vom Leben des Arztes; sie malt ein detailreiches Bild davon, wie Mediziner wie Asperger dem Nazi-Regime halfen, das Menschsein neu zu definieren und zu sortieren. Wer für die Gesellschaft taugte oder nicht, musste entschieden werden, erklärt Sheffer. Besonders der Psyche widmeten die Nationalsozialisten große Aufmerksamkeit, die Diagnosen von Ärzten wie Asperger entschieden daher oft über Leben und Tod.
Ein ungeheuerliches, mutiges, fantastisches Buch hat Sheffer geschrieben. Denn sie erklärt, wie das Menschenbild der Nazi-Zeit medizinische Diagnosen bis heute prägt. „Jeder Student der Medizin und der Psychologie sollte dieses Buch lesen“, empfiehlt der bekannte klinische Psychologe Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge.
Zunächst aber nimmt Sheffer dem Wiener Doktor seine Strahlkraft, Seite für Seite, als würde sie ein Licht dimmen, und hebt stattdessen die braunen Flecken in seiner Biografie hervor. Asperger selbst hatte stets berichtet, dass er während der NS-Zeit unberührt vom politischen Geschehen seiner Forschung nachgegangen war und die Diktatur abgelehnt hatte.
Edith Sheffer dagegen beschreibt, wie Hans Asperger sich schon in den 1930er Jahren unter einem Chefarzt mit nationalsozialistischer Gesinnung profilierte. Viele Mitarbeiter der Kinderklinik, vor allem jüdische Ärzte, wurden entlassen. Einige von ihnen wanderten in die USA aus, eine Kollegin brachte sich um. Asperger dagegen übernahm die Leitung der heilpädagogischen Abteilung, im Alter von nur 28 Jahren. Während in den Straßen Wiens bald jüdische Geschäfte brannten – dort waren die Pogrome besonders schlimm – machte der junge Pädiater an der Universitätsklinik Karriere.
Das Ziel der Heilpädagogik in Wien war, sämtliche Aspekte der Gesundheit und der Psyche eines Kindes zu betrachten, ebenso wie die familiären Hintergründe anzusehen. Ziel war es, die Gemeinschaftsfähigkeit der Kinder zu fördern. Doch die Grenzen zwischen sozialen und medizinischen Diagnosen waren schon vor Aspergers Antritt stark verwischt. Wenn ein Kind zum Beispiel als verwahrlost bezeichnet wurde, dann vernachlässigten es seine Eltern vielleicht, genauso gut konnte die Diagnose aber bedeuten, dass es krank war oder in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt. Förderten die Ärzte ihre kleinen Patienten vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten eher mit Nachsicht und Mitgefühl, sortierten sie später unerbittlich jene Kinder aus, die für die „Volksgemeinschaft“ keinen Nutzen versprachen. Wie die Nazi-Ideologie die Medizin veränderte, beschreibt Sheffer hier sehr eindrücklich.
Der Autismus selbst war als eigenständige Diagnose damals noch unbekannt. Der Begriff wurde im Jahr 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt, aber für Patienten mit Schizophrenie verwendet, die keine Beziehung zu ihrer Außenwelt herstellen konnten. Hans Asperger aber, ebenso wie übrigens der in Österreich-Ungarn geborene Arzt Leo Kanner, verwendeten Autismus zum ersten Mal zur Beschreibung einer eigenständigen Diagnose. Im Jahr 1944 veröffentlichte Asperger seine Doktorarbeit, darin bezeichnete er die Betroffenen als „autistische Psychopathen“.
Manche von ihnen hielt er wegen ihrer hohen Intelligenz für Genies und hob ihren Nutzen für die Gemeinschaft hervor, sie würden später Berufe wie Techniker, Chemiker oder Mathematiker ergreifen können. Anderen, minderbegabten Kinder mit Autismus sprach er dagegen die Menschlichkeit ab, sprach von „automatenhaft Schwachsinnigen“. Was die Sichtweise der Nationalsozialisten auf den Menschen widerspiegelte, erklärt Sheffer. Seine Differenzierung zwischen Kindern mit verschiedenen Formen von Autismus hatte also nicht, wie lange vermutet, mit Empathie und Menschenfreundlichkeit zu tun. Was für ein absurdes Missverständnis. Intoleranz statt Toleranz. Ausgrenzung statt Inklusion.
Nach Überzeugung der Nationalsozialisten mussten sich Individuen als Bestandteil der Gemeinschaft fühlen, damit das deutsche Volk langfristig überleben konnte. Der soziale Zusammenhalt war eines der faschistischen Ideale. Mentale und emotionale Normen wurden entwickelt. Schon geringfügige Verhaltensabweichungen einzelner Menschen öffneten das Tor zu neuen Diagnosen.
Damit zeichnet Sheffer ein genaues wie ungeheuerliches Bild davon, wie sehr gerade Mediziner unter den Nationalsozialisten dazu beitrugen, Menschen auszusortieren und zu töten. Asperger ist für sie ein prominentes Beispiel für jene Ärzte, die sich mit dem Regime arrangierten und versuchten, sich nicht die Hände schmutzig zu machen, aber auch nicht dagegen rebellierten. Asperger war weder ein überzeugter Gegner noch ein fanatischer Anhänger der Nazis. Er war gläubiger Katholik und trat der NSDAP nie bei. Sein Verhalten aber sei exemplarisch für das Abdriften etlicher Menschen in die Mittäterschaft.
Welche Auswirkungen das für manche seiner Patienten hatte, erklärt sie in ihrem Buch, immer und immer wieder. Als würde sie auf immer unterschiedlichen Pfaden stets auf das gleiche Ziel zusteuern, münden ihre Erläuterungen immer aufs Neue in eine Aussage: Hans Asperger habe Kinder wissentlich in den Tod geschickt. Er sei in die Überweisung von mindestens 44 jungen Menschen in die Anstalt „Am Spiegelgrund“ verwickelt gewesen, schreibt sie. In den Jugendstilpavillons der Nervenheilanstalt am Rande Wiens wurden von Juli 1940 an Kinder aufgenommen, die aus Sicht der Nationalsozialisten keinen Nutzen für die Gesellschaft hatten.
Und Asperger arbeitete mit den führenden Köpfen des Kindereuthanasieprogramms zusammen. Am 15. August wurden die ersten umgebracht, im Pavillon Nummer 15 der Anstalt. Dort rührte ihnen das Pflegepersonal hochdosierte Barbiturate, Schlafmittel, ins Essen oder die Getränke, als Folge der Medikamente erkrankten die geschwächten Kinder an einer Lungenentzündung. Viele von ihnen starben daran, weil die Ärzte und Krankenpfleger die Infektionen nicht behandelten. Andere Patienten verhungerten langsam und qualvoll. Hier beruft sich Sheffer auch auf die Forschungsarbeit des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech, der vor ein paar Monaten dazu einen Fachartikel veröffentlicht hat. „Aspergers Beschreibungen dieser Kinder fielen härter aus als die des Personals der Anstalt“ schreibt er.
Der Kinderarzt selbst aber war an der Universitätsklinik tätig, nicht „Am Spiegelgrund“. Er verabreichte keine todbringenden Medikamente. Vielleicht ahnte Asperger ja nicht, wohin er die Kinder schickte? Das schließt Sheffer aus: Im Oktober 1945 sagte einer der ehemaligen Leiter der Anstalt vor Gericht aus, dass Asperger ebenso wie seine Kollegen an der Wiener Universitätsklinik genau wussten, was die jungen Patienten erwartete.
Sheffer nimmt sich in ihrem Buch die Zeit, im Detail auf zwei Kinder einzugehen, die von Asperger persönlich in die Anstalt überwiesen wurden. Gerade diese Details machen die Stärke ihres Buchs aus, sie zwingen den Leser hinzusehen und mitzufühlen, zum Beispiel mit der fünfjährigen Elisabeth Schreiber. Nach einer Hirnentzündung konnte das Mädchen nicht mehr sprechen, wird jedoch in den Akten als freundliches, anhängliches Wesen beschrieben. Das hielt die Ärzte nicht davon ab, zusätzlich zur Gabe der Schlafmittel auch Rückenmarkspunktionen bei ihr vorzunehmen, vermutlich als medizinische Experimente. Nach ihrem Tod wurde ihr Gehirn zum Teil einer Sammlung von insgesamt 400 Kinderhirnen, im Keller der Anstalt in Gläsern verwahrt.
Hans Asperger stieg nach dem Zweiten Weltkrieg nach ein paar Jahren zum Chefarzt der Universitätskinderklinik in Wien auf, er hatte damit landesweit die wichtigste Position seines Fachbereichs inne. Seine Tätigkeit unter dem Nationalsozialisten hatte keinerlei Folgen für ihn und seine Karriere, über Jahrzehnte lang konnte er Medizinstudenten und junge Ärzte prägen, bis in die 1960er Jahre waren die Hörsäle in Wien gut gefüllt, wenn Asperger Vorlesung hielt.
Und es ist Historikern wie Edith Sheffer und auch Herwig Czech zu verdanken, dass sich der Blick auf Wiener Kinderarztes endlich verändert. In der neuesten Auflage des amerikanischen Diagnosemanuals DSM-5 kommt das Asperger-Syndrom bereits nicht mehr vor, aus wissenschaftlichen Gründen. Auch aus den Lehrbüchern dürfte der Name des Kinderarztes nun bald verschwinden. Sheffer mahnt aber, nicht zu vergessen. Wie gesellschaftliche und politische Kräfte medizinische Diagnosen prägen können. Und wie schwer es fallen kann, diesen Kräften zu widerstehen.
Edith Sheffer: Aspergers Kinder – Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“. Campus, Frankfurt 2018. 356 Seiten, 29,95 Euro. E-Book: 25,99 Euro.
Manche seiner Patienten hielt er
für kleine Genies, andere aber für
„automatenhaft schwachsinnig“
400 Kinderhirne wurden
im Keller der Anstalt
in Gläsern verwahrt
Unnütz für die Volksgemeinschaft: 772 Stelen mit einem Lichtpunkt erinnern an die in der Heilanstalt „Am Spiegelgrund“ ermordeten Kinder.
Foto: imago
Hochangesehen bis zum Schluss: Hans Asperger im Jahr 1971.
Foto: dpa/IMAGNO/Votava
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"Klassifikation kann einerseits Unterstützung mobilisieren - etwa für angemessene Pflege und angepasste Lehrmethoden in Schulen - oder als Käfig wirken, wenn verschiedene Symptome und Verhaltensweisen zusammengeworfen werden. Das ist eine wichtige, noch lange nicht abgeschlossene Debatte, deren Bedeutung weit über den Autismus hinausreicht. Sheffers Buch gibt ihr eine neue historische Tiefe." Thomas Weber (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2018)

"Ein wichtiger und gelungener Beitrag zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der österreichischen Medizingeschichte." David Rennert (Der Standard, 05.11.2018)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Überschwänglich feiert Astrid Viciano diese Arbeit der amerikanischen Historikerin Edith Sheffer über den österreichischen Pädiaters Hans Asperger, nach dem die mildere Form des Autismus, das Asperger-Syndrom, benannt wurde. Die Rezensentin lernt aus dieser Studie nicht nur viel über die historischen und medizinischen Hintergründe der Krankheit, sondern vor allem über die Biografie des Arztes: Asperger war kein freundlicher Kinderarzt, er machte im nationalsozialistischen Wien Karriere, nachdem alle jüdischen Ärzte ihren Posten verloren hatten, er schickte Kinder in den sicheren Tod in die Klinik "Am Spiegelgrund" und seine Unterscheidungen der Autismus-Formen entstammt nicht der ärztlicher Milde, sondern dem Willen, nützliche Intelligenzbestien von Minderbegabten zu unterscheiden, die er als "automatenhaft schwachsinnig" abqualifizierte. Wichtig und richtig findet die Rezensentin, dass Sheffers allen Anhängern Aspergers diese bittere Enttäuschung bereitet.

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»Ein wichtiger und gelungener Beitrag zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der österreichischen Medizingeschichte.« David Rennert, Der Standard, 05.11.2018»Edith Sheffer hat eine verdienstvolle Studie vorgelegt, in der sie anschaulich schildert, welchen furchtbaren Konsequenzen die nationalsozialistische Ideologie für wehrlose Kinder haben konnte. [...] Sheffer kann, und das ist schon bedeutsam genug, für sich in Anspruch nehmen, die dunkle Seite von Aspergers Tätigkeit endlich ans Licht der Öffentlichkeit gebracht zu haben - ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung über die nationalsozialistische Euthanasie.« Ernst Piper, Der Tagesspiegel, 20.12.2018»Edith Sheffer hat in ihrem engagierten, sehr lesbaren und auch für Nichtmediziner verständlichen Werk einen beachtlichen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Medizin in Wien und zur Infragestellung der Person und des Werkes von Hans Asperger geleistet.« Wolfgang Neugebauer, H-Soz-Kult, 30.11.2018»Klassifikation kann einerseits Unterstützung mobilisieren - etwa für angemessene Pflege und angepasste Lehrmethoden in Schulen - oder als Käfig wirken, wenn verschiedene Symptome und Verhaltensweisen zusammengeworfen werden. Das ist eine wichtige, noch lange nicht abgeschlossene Debatte, deren Bedeutung weit über den Autismus hinausreicht. Sheffers Buch gibt ihr eine neue historische Tiefe.« Thomas Weber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2018»Für historisch interessierte Leser [...] eine Findgrube.« Ilona Jerger, Psychologie Heute, 10.12.2018»Ein ungeheuerliches, mutiges, fantastisches Buch.« Astrid Viciano, Süddeutsche Zeitung, 26.11.2018»In ihrer detaillierten Analyse betrachtet Scheffer nicht nur das ambivalente Verhalten Aspergers. Vielmehr beleuchtet die Historikerin die Folgen einer überzeugten oder auch pragmatischen Anpassung an ein verbrecherisches Regime. Das Buch eignet sich für Leser, die sich mit einem dunklen Kapitel der Medizin- und Psychiatriegeschichte sowie mit den Euthanasieverbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzen möchten.« Martin Schneider, Spektrum der Wissenschaft - Gehirn und Geist, 14.01.2019»Sheffers Forschungsarbeit überzeugt durch eine klare Interpretation des Quellenmaterials und der umfangreichen Sekundarliteratur.« Christa Hager, Wiener Zeitung, 01.04.2019»Die Autorin nähert sich der dunklen Seite dieser Geschichte mit großer Sensibilität und eröffnet Einblicke in eine Welt, deren Grausamkeit die menschliche Vorstellungskraft übersteigt.« autismus verstehen, 01.04.2019»Das Buch ist eine materialreiche, moralisch hochdifferenzierte und spannende historische Untersuchung. Sie beschreibt die Verstrickung der Kinderpsychiatrie und der Heilpädagogik, besonders der Person Hans Aspergers, in das Kindereuthanasieprogramm der Nazis und entwickelt das diagnostische Label 'Autismus' aus dem ideologischen Denken des Nationalsozialismus.« Prof. Dr. Carl Heese, Socialnet, 04.06.2019…mehr