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Roberto Calassos Essay ist in drei Kapitel gegliedert. Das dritte, zwei Seiten lang, beschreibt einen Traum Baudelaires als Präfiguration der zusammenstürzenden Zwillingstürme (9/11). Das zweite, »Die Wiener Gasgesellschaft«, durchläuft die Jahre 1933 bis 1945. Es präsentiert Zitate deutscher und ausländischer Autoren, die damals ihre Eindrücke von Nazi-Deutschland festgehalten haben (Louis-Ferdinand Céline, André Gide, Simone Weil, Klaus Mann, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Arthur Koestler, Curzio Malaparte, Virginia Woolf, Samuel Beckett u. a.). Erläuternd führt der Autor durch…mehr

Produktbeschreibung
Roberto Calassos Essay ist in drei Kapitel gegliedert. Das dritte, zwei Seiten lang, beschreibt einen Traum Baudelaires als Präfiguration der zusammenstürzenden Zwillingstürme (9/11). Das zweite, »Die Wiener Gasgesellschaft«, durchläuft die Jahre 1933 bis 1945. Es präsentiert Zitate deutscher und ausländischer Autoren, die damals ihre Eindrücke von Nazi-Deutschland festgehalten haben (Louis-Ferdinand Céline, André Gide, Simone Weil, Klaus Mann, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Arthur Koestler, Curzio Malaparte, Virginia Woolf, Samuel Beckett u. a.). Erläuternd führt der Autor durch ein Panoptikum, in dem Naivität immer mehr dem Entsetzen weicht. Es sind Blicke auf Deutschland außerhalb der Leitlinien deutscher Erinnerungskultur, Blicke der unmittelbaren Erfahrung.

»Touristen und Terroristen«, das theoretisch grundlegende erste Kapitel, nimmt gesellschaftskritische Motive aus Calassos letztem Buch Die Glut auf und spitzt sie zu. Gesellschaft überhaupt ist ein Gegner von metaphysischem Rang, nur metaphysische Waffen sind gegen ihn tauglich. Deren Arsenale jedoch hat die säkularisierte Gesellschaft geplündert. Sorge, in der Immanenz zu ersticken, prägt Das unnennbare Heute. Alles, was über die Gesellschaft hinaus auf ein Anderes, Jenseitiges wies, hat sie sich in pervertierter Form dienstbar gemacht: Ritus, Theologie, Metaphysik, selbst das Denken und die Sprache. Als ein Symptom dieser Situation, des »unnennbaren Heute« also, interpretiert Calasso den Terrorismus - den heutigen, insbesondere islamistischen, und den von früher. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.«
Autorenporträt
Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, war Essayist, Kulturphilosoph und Verleger des Mailänder Verlages Adelphi Edizioni. Zuletzt erschien von ihm Der Himmlische Jäger – als neunter Teil eines »work in progress«, das 1983 mit dem Untergang von Kasch begann. Es folgten Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka, K., Das Rosa Tiepolos, Der Traum Baudelaires, Die Glut und Das unnennbare Heute. Calasso starb im Juli 2021 in Mailand.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2019

Was vom
Glauben bleibt
Roberto Calasso sehnt sich nach
metaphysischer Strenge
Ein Denker ist der italienische Schriftsteller und Verleger Roberto Calasso. Akademisch ist er nicht. Er verfasst seine Werke in Form von Skizzen, bei denen man nicht immer weiß, wie er von der einen Idee zur anderen kommt, in denen aber immer wieder ein prägnantes Bild einer geistigen Situation entsteht. Einer ganzen Reihe von Gegenständen hat er sich schon auf diese Weise zugewandt, etwa den griechischen Mythen (1988) oder Tiepolos Barock (2006). Sein jüngstes Werk „Das unnennbare Heute“ ist das ehrgeizigste dieser Vorhaben, seinem eher schmalen Umfang zum Trotz. Denn gemeint mit diesem „Heute“ ist nicht weniger als die Gesamtheit der Verhältnisse, in denen Menschen sich selber erfahren, als Einzelne und als Kollektiv. Und wenn diese Gegenwart „unnennbar“ sein soll, dann bedeutet das, dass Menschen (viele? alle?) ihr geistiges Dasein unter Bedingungen führen, die ihnen nicht als solche erscheinen oder von denen sie falsche Vorstellungen haben.
Eine solche Vorstellung ist die „Gesellschaft“ im soziologischen Sinn. Man stellt als etwas vor, das einen Rahmen und einen Inhalt besitzt, ein Gebilde, das sich auf irgendeine nachvollziehbare Weise zu Volk und Staat, zu Gemeinschaft verhält. Roberto Calasso ist nicht der erste Theoretiker, der bemerkt, dass jeder Versuch zu klären, was eine Gesellschaft ist, sich im Ungefähren verliert: Die „Gesellschaft“ ist die größte Einheit, gegen die sich alle anderen sozialen Einheiten definieren, die aber offenbar selbst nicht definiert werden kann. Dennoch führt sie ein praktisches Dasein, insofern zum Beispiel, als sie die Menschen auf gewisse, vermeintlich durchschaubare Funktion in der Gesellschaft festlegt, und die Menschen diese Zuweisung hinnehmen. „Säkularisierung“ heißt dieser Prozess, von dem Roberto Calasso meint, er liege einen jeden Menschen auf etwas Positives fest, auf „Prosperität“ oder „wohlwollende Gefühle“, auf Toleranz und Altruismus, worauf dann die „Säkularisten mit der Zerknirschung von Geistlichen reden und die Geistlichen gern als Professoren der Soziologie durchgehen würden“.
Von der „Gesellschaft“, an die alle glauben, bewegt sich Calasso vorwärts und vor allem rückwärts durch die Geschichte. Wenn Religionen und Weltanschauungen in der Mehrzahl auftreten, haben alle, so der Denker, ihren festen Halt im Dasein verloren. Je schärfer man dann den Grund des Glaubens zu fassen meint, desto schlechter ist er zu ergreifen, und wenn man seiner endlich habhaft geworden zu sein glaubt, ist er leer. Calasso wird offenbar von einer Sehnsucht nach einer metaphysischen Strenge getrieben, wie es sie vielleicht im christlichen Mittelalter gegeben haben muss – aber war nicht schon dieses, mit seinen Gottesbeweisen, eine Zeit der Zweifler gewesen? Calasso ist indessen nicht so radikal wie Nietzsche. Vor dem blanken Nichts scheut er zurück, er verharrt im Sehnen, vor allem aber in einer Missbilligung, die irritiert die Gegenwart durchforscht, um Indizien dafür zu finden, dass die Gesellschaft und ihre Insassen längst in einer Art Religion des Haltlosen leben, die alles sein darf, nur keine Religion.
Das Buch besteht aus zwei Teilen, wobei der zweite eine Art Durchführung des ersten Teils darstellt und vom eher Theoretischen in die Anschauung und das Historische gewechselt wird. Die Skizzen des zweiten Teils gelten Ereignissen, die dem Zweiten Weltkrieg zugehören: Curzio Malaparte wird Zeuge des Massenmords an Juden in der moldawischen Stadt Iași, eine Prinzessin der Hohenzollern feiert Hochzeit, im Wald von Katyn lässt Stalin Tausende von polnischen Offizieren erschießen. Ein jedes dieses Ereignisse bestätigt – oder schafft – die Illusion einer „inneren Einheit“, während dahinter das schwarze Universum der Haltlosigkeit aufgespannt wird. Calasso betreibt ein schweifendes, mäandrierendes, verschwörerisches Denken, das gern mit Analogien arbeitet. Manchmal tut sich darin dem Leser ein plötzlicher Sinn auf, etwa wenn Calasso dem Terroristen, einer Figur, die sich vermeintlich durch eine radikale Glaubensgewissheit auszeichnet, den Touristen gegenüberstellt, der überall Festigkeit sucht, diese aber nie findet. Manchmal allerdings sind die Verbindungen so weit, die Referenzen so umfassend, dass es scheint, als wolle der Autor diesen Sinn gern für sich behalten.
THOMAS STEINFELD
Roberto Calasso: Das unnennbare Heute. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 222 Seiten, 25 Euro.
Calasso betreibt ein
schweifendes, mäandrierendes,
verschwörerisches Denken
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»Mit Das unnennbare Heute scheint der Philosoph Roberto Calasso das richtige Buch zur rechten Zeit geschrieben zu haben. Dabei geht das Werk weiter über Umbrüche der Gegenwart hinaus und lotet tiefer. Stilistisch hat das etwas von der Eleganz eines Schreittanzes.« Redaktionsnetzwerk Deutschland 20190802